FORVM, No. 105
September
1962

Shakespeares Königsdramen (II)

Zur Einstudierung des Zyklus am Burgtheater

Hiemit präsentieren wir den zweiten und letzten Teil des Aufsatzes, in dem der vielleicht bedeutendste Regisseur des gegenwärtigen Theaters deutscher Sprache nicht bloß seine eigenen Inszenierungen erläutert, sondern die Beziehungen zwischen Shakespeare und unserer Mitwelt überhaupt. Daß diese Präsentation mit kräftigen Kürzungen erfolgen mußte, erscheint uns allein darum unbedenklich, weil schon gegen Ende dieses Monats der gesamte Essay in der Reihe „Dokumente zur Literatur und Theatergeschichte“ des Hans Deutsch-Verlages (Wien-Stuttgart-Basel) vorliegen wird.

voriger Teil: Shakespeares Königsdramen

Es gibt in dem Koloß der Königsdramen geheimnisvolle Zusammenhänge, von denen sich nie wird sagen lassen, wie weit sie vom Dichter beabsichtigt sind. In diesem harten Männerstück, in dem sich Königswürde und Ganovenehre, Tod und Verwesung, Korruption, Völlerei, Unzucht, Feigheit und Heldentum, Gerechtigkeit, Gewissensqual und vergebliche Sühne zu einem wilden, unzüchtigen, grandiosen, tragikomischen Mummenschanz vereinigt haben, sollen wir doch von Zeit zu Zeit gemahnt werden, daß auch dies alles nur eine Station auf jenem Weg ins dunkelste Dunkel ist, welcher mit dem Sündenfall des Vaters, mit dem ersten großen Rechtsbruch, der Absetzung Richards II., eingeschlagen worden ist. In Bolingbroke wirkt der Zweite Richard nach; in Falstaff, dieser üppigsten, faulsten und prächtigsten Blüte aus dem Sumpf, der einmal alles in sich schlingen wird, kündigt sich der Dritte Richard an.

Auf dem Höhepunkt der großen Verfluchungsszene in „Richard III.“ wird dieser von Margarethe „Du Lump der Ehre“ genannt — „Thou rag of honour!“ Blitzt da nicht die Erinnerung an Falstaff auf? An dessen großen Ehrenmonolog, den er inmitten der Toten auf dem Schlachtfeld hält? Die Ehrlosigkeit hat zwei Gesichter. Der Januskopf, der auf der einen Seite den Schelm, auf der anderen den Mörder zeigt: das ist das Symbol für den Sittenverfall des Landes. Falstaffs Charme darf nie darüber hinwegtäuschen, welch ein korrupter Lump und Zyniker er ist. Was er über die von ihm angeworbenen Rekruten sagt, dieses „Futter für Pulver, Futter für Pulver! Sie füllen eine Grube so gut wie Bessere!“ muß immer nachklingen. Hier haben wir den anderen „Lumpen der Ehre“.

Prinz Heinz dagegen erhebt sich in einer wunderbaren Metamorphose, die einem großartigen Naturschauspiel gleichkommt, zu einem neuen Gottesgnadentum, dem nichts Usurpiertes, nichts Unrechtmäßiges mehr anhaftet. Er erhebt sich und schreitet über die Leichen seiner alten Freunde. „Glücklich sind die, welche meine Freunde waren“, schreit Falstaff auf dem Wege zur Krönungsfeier, „und wehe dem Herrn Oberrichter!“

Der Herr Oberrichter aber ist inzwischen von dem jungen König, von dem er nur Willkür, Ranküne und Chaos befürchtet hat, zu neuen Ehren erhoben und feierlich in seinem Amt bestätigt worden. Es ist eine der überraschendsten und festlichsten Wendungen des Stückes, wenn Heinrich, kaum zum König eingesetzt, mit seiner ersten Amtshandlung die Sorgen des Oberrichters — des „Lord Justice“, des Herrn der Gerechtigkeit —, mit dem er seine kleine Privatfehde hatte, zerstreut und ihn zum „Vater seiner Jugend“ bestellt. Das erste Opfer des neu eingesetzten Rechts heißt Falstaff.

Über die Hartherzigkeit, mit der der junge König seinen alten Kumpan verstößt, ist viel spekuliert und geschrieben worden. Keine psychologische und keine philologische Überlegung wird uns jemals befriedigen können. John D. Wilson weist in der meisterhaften Darstellung „The Fortunes of Falstaff“ darauf hin, daß Falstaff ja niemand andern vorstellt als „Old Iniquity“, als den alten komischen Teufel, den Verführer in der Moralität, der natürlich am Ende bestraft und verstoßen werden muß, und dem kein Mitleid zukommt. Auch diese Erklärung reicht nicht aus, um unser Mitgefühl für den herrlichen, ehrlosen, dicken Gesellen zum Schweigen zu bringen. Und Shakespeare macht es uns mit der rührenden, tragikomischen Erzählung von dessen traurigem Ende nicht eben leichter, über dieses Gefühl hinwegzukommen.

Heinrichs unvergleichlicher Siegeszug endet mit seinem frühen Tod. Er stirbt an einer Krankheit, jäh, unerwartet und unersetzbar. Mit den schweren Klängen eines Totenmarsches beginnt die Tragödie seines Sohnes. Eine grausame Leere ist entstanden, ein Vakuum, das der unselige Heinrich VI., der als Kind zum König gekrönt wird und ewig ein Kind bleiben wird, nie ausfüllen kann, das ihn und das Land verschlingen muß. Nun schießen die Nutznießer dieser Leere aus dem Boden, zerfetzen einander, zerstücken das Reich, verspielen ihr Erbe — Weiberregiment, Pfaffenregiment, Diadochenkämpfe folgen, Blut, Blut und Mord, Kindermord, Aufstände aus dem gärenden Sauerteig der vernachlässigten Massen, Kampf aller gegen alle unter dem anmutigen Namen zweier zierlicher Symbole: die Rosenkriege.

Große Menschen ragen aus dem Chaos, eine der schönsten Gestalten der Königsdramen ist der alte Humphrey Gloster, den wir als Kind am Sterbebette seines Großvaters Heinrich IV. sitzen sahen. Er ist der letzte, der das Rechtsprinzip aufrechtzuerhalten versucht. Er scheitert kläglich: seine eigene alternde Frau geht in eine plumpe Falle, die ihr die Partei der Königin gelegt hat und reißt ihn mit ins Verderben. Diese Königin Margarethe, die wilde, entschlossene, leidenschaftliche Gemahlin des Kinderkönigs, ist die einzige Frauenfigur von großem, beinahe männlichem Format im ganzen Königsdramenzyklus. Sie begeht scheußliche Taten und büßt grausam dafür. Wie ein Fels ragt sie aus der wirren, führerlosen Zeit in die schrecklichere, die Zeit der neuen Ordnung hinein, die Richard begründen wird.

Shakespeares Technik in „Richard III.“ besteht in einer virtuosen Anwendung von conférence-artig gesprochenen Monologen der Hauptfigur. Während er mit dem Mittel des Monologs in „Heinrich VI.“ sonst sehr sparsam umgeht, bleibt hier Richard immer wieder allein auf der Bühne, um seine raffinierten Pläne preiszugeben. Es ergibt sich dadurch eine ganz eigenartige, im modernen Drama würde man sagen: epische Spannung. Richard bezeichnet jeweils die dramatische Situation, bis zu der das Stück gediehen ist, und gibt in meist kühl-witzigen Formulierungen bekannt, in welche Richtung er nun das Spiel zu lenken gedenkt. Zugleich beschreibt er seine eigene psychologische Situation, die anfangs immer von seinem Mißwuchs, von der absoluten Aussichtslosigkeit, sein Glück bei Frauen zu machen, bestimmt ist. Bis das alles ins Gegenteil umschlägt, bis er seiner Sache, seiner Überlegenheit, der Schwäche seiner Umgebung und seiner unwiderstehlichen Wirkung auf Frauen und Männer gewiß ist. Hier setzt dann die Tragödie der Menschen um Richard ein.

Ist es dem frechen, schmierigen Unhold gelungen, seinen Bruder Eduard zu beschwatzen und, durch anonyme Briefe und Warnungen, gegen den mittleren der drei Brüder, gegen Clarence, aufzuhetzen, bis beide aneinander zugrunde gehen, so macht er sich nun alles rund um sich gefügig. Richard ist nicht nur darum eine der genialsten Schöpfungen Shakespeares, weil er zugleich der grandioseste und humorvollste Schurke ist, der je auf einer Bühne auftrat, sondern weil sich an ihm die Schwäche und Hinfälligkeit einer überrumpelten, ausweglosen Zeitgenossenschaft offenbart. Ist es schon unfaßbar, daß ein solcher Alptraum von einem Menschen alle anderen zu übertölpeln vermochte, so wird es völlig gespenstisch zu erleben, zu welcher freiwilligen Liebedienerei und Verleugnung ihrer selbst er im Handumdrehn — fast möchte man sagen, im Halsumdrehn — seine Umgebung bringen kann. In diesem Bereich ist „Richard III.“ ein politisches Lehrstück ohnegleichen. Noch vor 50 Jahren galt das Stück als ein Schauerdrama, als eine der überhitzten Dichterphantasie entsprungene Utopie des Bösen, doch: „Das war ehedem paradox, doch jetzt bestätigt es die Zeit“, heißt es im „Hamlet“.

Natürlich wäre es billig, Richard III. zu einer Paraphrase auf heutiges oder gestriges politisches Geschehen zurechtzubiegen. Aber der umgekehrte Weg ist nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten. Denn „Richard III.“ braucht nur richtig gespielt zu werden, um den Beweis zu erbringen, daß alle Diktaturen, jede auf ihre Weise, durch diese Schule gegangen sind und daß die Menschen unter ähnlichen Voraussetzungen immer wieder auf ähnliche Art reagiert haben. Seltsamerweise gibt es jedoch Zuschauer und Kritiker, die auf diese erschreckende, in die Augen springende Identität nicht angesprochen werden wollen. Es ist belustigend, zu sehen, wie viele Menschen durch das zufällige und ungeschickte Auftauchen des Wortes „Charme“ im Programmheft des Burgtheaters aufgescheucht wurden und mißgestimmt nach der fehlenden Portion versöhnender Liebenswürdigkeit in der Darstellung des Richard gerufen haben.

Von dem historischen Richard — der ganz gewiß kein so abgefeimter Schurke war, wie Shakespeare ihn konterfeit hat — wissen wir, daß er zwar sehr wahrscheinlich seine beiden Neffen im Tower umbringen ließ, aber sonst ein recht umgänglicher und gesellschaftlich gewandter Mann war. Gewiß wird Richard III. im Drama in seiner ganzen Abscheulichkeit nur von Margarethe voll erfaßt, aber ist es nicht schon zu Beginn des Stückes bekannt, daß er Heinrich VI. im Tower umgebracht hat, daß er an der Tötung des jungen Eduard mitschuldig ist? Lady Anna sagt ihm seine Schandtaten auf den Kopf zu. Leugnet er sie etwa? Wieso erliegt sie ihm? Seinem Charme etwa? Dem Charme des Ebers? Oder erliegt sie der Faszination des Abscheus, den sie vor ihm empfindet? Ist die berühmte Verführungsszene nur ein perverser Vorgang, der perverseste, der sich auf einer Bühne darstellen ließe? Wieso erscheint diese völlig unglaubhafte Szene doch immer wieder möglich?

Zunächst läßt Richard sein Opfer sich totlaufen, sich in seiner namenlosen Empörung über Richards Erscheinen an der Bahre seines Opfers erschöpfen. Rede und Gegenrede folgen einander in rasender Schlagfertigkeit, denn Lady Anna ist alles andere als auf den Mund gefallen. Jeder Satz Richards ruft ein gellendes Echo bei ihr hervor. Jeden Gedanken Richards dreht sie in einen Fluch, eine Beschimpfung, ein Hohnwort um. Die wüsteste Provokation, die Anspielung auf ihr Schlafgemach, beantwortet sie mit einem verächtlichen Wortspiel. Dennoch hetzt er sie schließlich in physische Ohnmacht. Nun aber wird er ernsthaft, höflich, logisch. Nun fragt er nach dem wahren Schuldigen in der doppelten Mordsache. Lady Anna, die nichts zu erwidern weiß, als daß er doch ganz alleine Ursach’ und Wirkung gewesen sei, erfährt zu ihrem namenlosen Entsetzen, daß sie, daß ihre Schönheit der intellektuelle Urheber des Unglücks war. Daß ein Mann, der einer rasenden Liebe zu ihr verfallen war, sich nicht anders zu helfen gewußt hat, als zu töten, was zwischen ihr und ihm stand.

Damit ist sie schon gefangen. Denn Lady Anna ist ein rechtlich denkendes, ein moralisch, christlich empfindendes Geschöpf und Richard ein vollkommener Zyniker, bar jedes Gefühls, jeder Verantwortung, nur seinem eigenen Zweck verpflichtet. Anna ist nun plötzlich mitschuldig an dem Verbrechen. Mitschuldig? Schuldig! Allein schuldig! Ihre Schönheit hat nicht nur den Tod zweier geliebter Menschen verursacht, sie hat einen anderen, einen Unschuldigen, der ihr verfallen war, zum Verbrechen getrieben. Und dieser Mensch kniet nun vor ihr und bittet, ihn zur Sühne zu töten. Gewiß, er hat ihren Gatten getötet und dessen Vater, den König, aber ihre Schönheit trieb ihn dazu an! Anna schreit auf und will ihm sein Schwert ins Herz stoßen, aber jetzt kann sie nicht mehr, was sie vor wenigen Minuten noch getan hätte. Sie läßt das Schwert sinken. „Nimm auf den Degen, oder nimm mich auf!“ Das war die Alternative. Sie läßt das Schwert sinken und erhebt den reuigen Sünder zu sich, an ihr Herz, an ihre zerschundene, geschändete Seele.

Was hat sich da abgespielt? Eine Exhibition perverser Verführung? Nein, offenbar eine höchst moralische Szene, ein Vorgang leidenschaftlicher Reue und christlicher Vergebung. „... und es freut mich sehr zu sehn, daß Ihr so reuig worden“, stammelt sie und nimmt den Ring an. Denn: „Annehmen ist nicht geben.“ Was an Unbewußtem, raffiniert Verführerischem unterschwellig mit zum Schwingen gebracht worden ist, das weiß nur Richard. „In solcher Schnelle ward mein Weiberherz gröblich bestrickt von seinen Honigworten, und unterworfen meinem eignen Fluch“, bekennt sie später.

Erliegt nicht Elisabeth dem gleichen Trick? Zwei Söhne hat er ihr gemordet, und sie gibt ihm, nach verzweifelter Gegenwehr, ihre Tochter zur Frau. Man prüfe die Szene auf ihren Gehalt an Leidenschaft, an Logik, an Überzeugungskraft. Kein Argument ist zynisch genug, als daß Richard es nicht in sein glaubhaftes Gegenteil verdrehen könnte. Zuletzt siegt der Hinweis, daß der totale Untergang Englands und der ganzen Christenheit unvermeidlich sei, wenn Elisabeth bei ihrer Weigerung bleibt. Unglaubhaft? Unwahr? Wie viele Mütter haben ihre Kinder dem Moloch sehenden Auges in den Rachen gestoßen! Und ihre jüngeren Kinder den geopferten nachgeworfen! Nur weil der Friede — sagen wir: Englands — davon abgehangen sei?

Aber bedarf es tatsächlich solcher Anspielungen? Müßte man nicht auf den Programmzettel dieses „Richard III.“ nach bekanntem Muster die ausdrückliche Bemerkung setzen, daß jede Ähnlichkeit der dargestellten Figuren mit lebenden oder kürzlich verstorbenen Personen nicht beabsichtigt, sondern zufällig sei?

Der Münchner Anglist Wolfgang Clemen weist in seinem ausführlichen und überaus fundierten Kommentar zu „Richard III.“ auf ein wichtiges Motiv hin, das die Figur in allen ihren Phasen kennzeichnet und zum erstenmal in der Szene mit Lady Anna zu vollem Einsatz gelangt: „Zum erstenmal“, schreibt Clemen,

zeigt sich hier Richards diabolische Kunst, in entscheidenden Momenten gerade dadurch zu siegen, daß er an die besten Seiten der von ihm umzustimmenden Menschen appelliert.

Es ist ungemein lehrreich, diese einfache und einleuchtende Deutung Clemens auf Richards Weg anzuwenden, denn solcherart erweist sich die Schwäche und Anfälligkeit der Menschen besonders klar und tragisch. Ein Musterbeispiel, das Richard gemeinsam mit seinem brillanten und abgefeimten Verbündeten Buckingham vorexerziert, ist sein Vorgehen nach der Erledigung des braven, instinktlosen Hastings. Der Bürgermeister von London, die Stadtväter und die Vertreter der Bürgerschaft werden in einer grotesken Szene völlig überrumpelt, Richard benützt die Gewaltmaßnahme gegen Hastings zu einem blitzschnellen Staatsstreich. Mit verteilten Rollen wird der Bürgerschaft beigebracht, daß Richard soeben das Land vor dem gefährlichsten Umsturz bewahrt habe, daß er einen Verrat von monströsen Ausmaßen aufgedeckt und niedergeschlagen und England mit einer raschen Tat gerettet habe. Da er nun der Held des Tages ist, wird die Gelegenheit beim Schopf gepackt, und ehe die braven Leute zum Überlegen kommen, haben sie einen neuen König gewählt. Hier ist im übrigen ein instruktives Beispiel für den Rechtsverfall, dem das Reich seit dem Sturz Richards II. unterlegen ist.

Wie langsam, qualvoll und umständlich vollzogen sich damals die Rechtsbrüche, welch kompliziertes Verfahren wurde in Bewegung gesetzt, um zuerst die Unrechtmäßigkeiten Richards, dann die seines siegreichen Gegenspielers Heinrich Hereford, des Bolingbroke, in die Tat umzusetzen. Und wie blitzschnell geht das jetzt alles bei Richard III., nach der Demoralisierung des Landes durch Krieg und Bürgerkrieg.

„Was sollen wir tun, Mylord“, fragt Buckingham, „wenn wir verspüren, daß Hastings unseren Plänen sich nicht fügt?“ — „Den Kopf ihm abhaun, Freund“, antwortet Richard freundlich, „und wenn ich König bin, so fordre du die Grafschaft Hereford und alles fahrende Gut, das sonst der König, unser Bruder, hatte.“ Damit ist das Geschäft erledigt: „Komm, speisen wir zusammen.“ Zu Richards Überredungskunst kommt nun unmißverständlich die versteckte oder offene Drohung mit der nackten Gewalt.

Was Richard von allen Schurken und Übeltätern der Königsdramen unterscheidet, ist sein vollkommener, von allen Emotionen abgesetzter, egomanischer Zweckrationalismus. Seine Absage an die Liebe in jeder Form, die aus seinem Monolog am Ende des dritten Teils von „Heinrich VI.“ hervorgeht, ist von imponierender Konsequenz. Nachdem er Anna überrumpelt hat, sagt er trocken: „Ich will sie haben, doch nicht lang behalten“; nachdem der Sturm gelungen ist, mit dem er die Königin-Witwe überraschte, hat er nichts als Worte des Ekels und der Verachtung für sie.

In seine Nichtachtung des Menschen ist er jedoch selbst mit einbezogen. Zwar beherrscht er bei wachen Sinnen sich und seine Umgebung mit eiserner Disziplin, doch ein Bereich ist seinem unbeugsamen Willen entzogen: der Traum. Im Traum versammelt sich gegen ihn alles, was er an menschlicher Regung ein Leben lang mit seinen konsequenten Willensakten unterdrückt hat. Jedes Verbrechen, das ihm zuerst zu eigenem grenzenlosem und entzücktem Erstaunen, später in voller Übereinstimmung mit seinem Zweckkalkül gelungen ist, zeigt sich im Traum in unverhüllter Scheußlichkeit. Alle geleugneten Beziehungen zwischen den Menschen — die Gefühle zwischen Verwandten, die Liebe zwischen Mann und Frau, das Mitleid mit Kindern, die Treue zum Freund — sprechen zu ihm wie zu einem gewöhnlichen Sterblichen, und jede Sünde, die er wider die Menschen verübt hat, steht einfach und unüberwindbar vor ihm.

Ich wurde gefragt, warum ich in meiner Inszenierung „Richards III.“ darauf verzichtet habe, den schlafenden Richmond auf seinem Lager zu zeigen und die Geister auch zu dem Sichtbaren sprechen zu lassen, wie es das Stück vorsieht. Meine Antwort: Die Geistererscheinungen im elisabethanischen Theater hatten eine bestimmte Gesetzmäßigkeit, die mit dem damals sehr stark im Volk verankerten Glauben an solche Phänomene zusammenhing. Dämonologie war eine Art Wissenschaft, die ernsthaft betrieben und leidenschaftlich diskutiert wurde. So hat Jakob I. Schriften über diese Pseudowissenschaft veröffentlicht. Über die Geistererscheinung im „Hamlet“ wurden ganze Bibliotheken geschrieben. Angesichts der fast nur symbolischen Bedeutung, die dem Richmond im Richard-Drama zukommt, scheint es mir aber ein Schematismus, hier den Vorstellungen der elisabethanischen Zeit wörtlich zu folgen.

Nicht die Tatsache, daß die Geister beiden Fürsten erscheinen, den einen verfluchen, den andern segnen, ist für uns von Bedeutung. Wichtig ist allein, daß Richard von seinem ein Leben lang unterdrückten Gewissen im Schlaf heimgesucht wird, daß Richard träumt, die Geister beteten für den Sieg seines Gegners. Daß Richmond sich von den abgeschiedenen Geistern der Opfer Richards beschützt fühlt, ist gewiß nicht bedeutungslos. Aber Richmond eröffnet diese Überzeugung auch seinen Truppen: „Gebete Heil’ger und gekränkter Seelen, wie hohe Schanzen, stehn vor unserm Antlitz.“ Ein Satz von so großer sprachlicher Schönheit und Kraft kann der realen Illustration wohl entraten.

Richards bedeutendste Szene ist sein Monolog nach dem Traum und das gewaltige letzte Aufraffen seiner Kräfte in der Ansprache an seine Truppen. Hier offenbart sich zum erstenmal in Shakespeares großem Werk die überwältigende Gabe, seine tragischen Helden zum Tode zu bereiten. Nach „Richard III.“ hat Shakespeare kein Drama geschrieben, in dem sich nicht in einem letzten Monolog oder in einer letzten großen Szene die ganze geistige und poetische Kraft des Dichters in der Hauptgestalt wie durch ein Brennglas gesammelt manifestierte.

Hier stellt sich dem zum Falle Reifen noch einmal die Frage nach der Liebe, der er abgeschworen hat in seltsamster, philosophisch höchst faszinierender Gestalt. Angesichts der ungeheuerlichen Schuld, die er auf sich geladen hat, angesichts einer vielleicht doch bevorstehenden Abrechnung, da Meineid, grauser Mord, jedwede Sünd’, in jedem Grad geübt, an die Schranke stürmen und „schuldig!“ rufen — fragt er nach dem Erbarmen anderer, nach der Liebe der anderen und kommt zum Schluß, daß er mit niemandes Erbarmen rechnen kann, weil er keines mit sich selber fühlt. Die krumme Logik, mit der er ein Leben lang die Welt übertölpelt hat, wendet sich am Schlusse gegen ihn selber. Richard nimmt auch das auf sich. „Gewissen ist ein Wort für Feige nur“ und „Uns ist die Wehr Gewissen, Schwert Gesetz! Rückt vor! Dringt ein! Recht in des Wirrwarrs Völle! Wo nicht zum Himmel, Hand in Hand zur Hölle!“ Härter, konsequenter kann man keinen Unhold in den Tod schicken.

Die letzten Opfer können Richard noch entrissen werden. Der junge Stanley, der als Geisel zurückbehalten war, verdankt sein Leben einer raschen, geistesgegenwärtigen Reaktion Northumberlands, und die junge Elisabeth, die Richard auf seinem Weg zur Entscheidungsschlacht der Mutter aus den Armen gerissen hat, wird nun mit Richmond vermählt und Englands erste Tudor-Königin werden.

Bei einer Aufführung des ganzen Zyklus außerhalb Englands ist es gewiß von geringer Bedeutung, historische und genealogische Gesichtspunkte der Dramenreihe zu berücksichtigen. Die historische Treue der Dramen ist in jedem Fall umstritten. Shakespeares Quellen sind durch die Forschung überholt; Shakespeare selbst ist mit ihnen wesentlich nach dramatischen und nicht nach historischen Überlegungen zu Werk gegangen. Was aber für alle Dramen des großen Dichters gilt und zu allen Zeiten gegolten hat, die Verpflichtung nämlich, bei ihrer Aufführung eine lebendige Beziehung zum Erleben der eigenen Zeit, der Zeit des Zuschauers herzustellen, sollte das für einen Zyklus von historisch-politischen Dramen nicht ebensogroße und noch größere Bedeutung haben? Niemand wird die parvenühafte Meinung vertreten wollen, die Masse des dramatisch bewältigten Stoffes habe etwas mit seiner Qualität zu tun.

Unvergängliche Kunst erhält erst durch ihre Befreiung aus den Fesseln des Primitiv-Stofflichen ihren Wert als wunderbare Dokumentation der menschlichen Phantasie und ihre gleichnishafte Leuchtkraft. Diese Erkenntnis muß dort um so stärkere Geltung besitzen, wo nicht nur der einzelne Mensch als dramatisch-magnetischer Mittelpunkt eines einzelnen, in einem einzigen Drama dargestellten Problems oder Ereignisses erfaßt wird, sondern wo er als das Glied einer großen, über Generationen reichenden Kette verstanden und sein Schicksal durch das große Sternbild bestimmt wird, dem er zugeordnet ist.

In einem Zeitalter, dessen wissenschaftliches Bestreben es ist, Zusammenhänge nach immer höher geordneten Systemen zu verstehen und Entsprechungen zu suchen, die diese Systeme miteinander verbinden, um sie dem menschlichen Geiste begreiflicher zu machen, bedarf auch ein solches theatralisches Unternehmen keiner besonderen Rechtfertigung vor der Öffentlichkeit. Vor sich selbst aber kann das Unternehmen sich nur dadurch rechtfertigen, daß es bemüht ist, jene besondere Art von höherer Übereinstimmung zu finden, die aus der überwältigenden Vielfalt eine große und überschaubare Einheit gestaltet.

Die Mittel, die dafür eingesetzt werden müssen, sind nach meiner Überzeugung: Klarheit und Einfachheit im Großen, unendliche Sorgfalt und Genauigkeit im Detail. Nach diesen Prinzipien ist bisher bei der Bearbeitung der einzelnen Dramen, bei der Zusammenfassung von zwei Stücken für einen Abend und bei der bildmäßigen Konzeption der Szene vorgegangen worden. Nach dem gleichen Prinzip wurde bisher die Besetzung der großen und kleinen Rollen festgelegt und der sprachliche Stil entwickelt. Jeden einzelnen der genannten Arbeitsvorgänge zu schildern, würde ebenso viele Referate erfordern. Was mit dem hier Gesagten bezeichnet werden konnte, sind nur die Ausgangspunkte, von denen aus die eigentliche Arbeit begonnen wurde und fortgesetzt wird.

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