FORVM, No. 247/248
Juli
1974

Technokraten opfern Leistung

Voltaire vergleicht in den „Lettres anglaises“ (1733) die friedliche Szene der Londoner Börse mit dem Gezänk der religiösen Fanatiker. Die Glaubensbekenntnisse und Sekten hetzen ihre Anhänger zu blutigen Religionskriegen auf, während an der Börse Mohammedaner, Juden und die untereinander verfeindeten Christen im friedlichen Wettbewerb kooperieren. Voltaire formuliert das Kernstück der bürgerlichen Aufklärung: die freie Marktwirtschaft als Basis von Toleranz und Menschenrechten. Auch heute dominieren innerhalb der akademischen Soziologie und Politikwissenschaft die Versuche, soziale und politische Beziehungen am Vorbild des unblutigen Geld- und Warenverkehrs zu orientieren.

Der Essay Horst Kurnitzkys „Geld aus Opfer“ — er wird in Kurnitzkys Buch „Triebstruktur des Geldes“ bei Wagenbach erscheinen — deckt die religiösen, die kultischen Wurzeln der Geldwirtschaft auf. Marx spricht von den „theologischen Mucken“ der Warenform. Kurnitzky nimmt diese Metapher wörtlich: das Geld ist keinesfalls aus rationalen Erwägungen entstanden, etwa um durch königliche Prägestempel den Feingehalt des Edelmetalls zu gewährleisten. Vielmehr verraten die archaischen Münzformen ihren Ursprung aus blutigen Ritualen und Kulthandlungen. Kurnitzky knüpft dabei an die Thesen ethnologisch interessierter Psychoanalytiker an, die das Geld als ein „ödipales Symbol“ aus dem Inzesttabu und seinen gesellschaftlichen Konsequenzen erklären. Allerdings stellt Kurnitzky nicht klar, wie sich die rivalisierenden Geldtheorien der Psychoanalyse, die „anale“ und die „ödipale“, miteinander vereinbaren lassen.

„Das Verzehren des Opfertieres“, schreibt William H. Desmonde, „war unter anderem auch Ausdruck eines Verlangens, mit der Mutter vereint zu sein, und dieser Wunsch nach ekstatischer Gemeinschaft wurde hinübergetragen in die Motivierungen, denen die ersten Münzformen zugrunde lagen.“ (W. H. Desmonde, „Der Ursprung des Geldes im Tieropfer“, in: Ernest Borneman, „Psychoanalyse des Geldes“, Frankfurt 1973.) Desmonde unterstellt dem Opferritual die Absicht, „das Wohl der Menschen durch die gerechte Verteilung wirtschaftlicher Güter zu fördern“. Gleichheit und Gerechtigkeit sind erst innerhalb der Geldwirtschaft möglich: „Jedes Individuum besitzt die gesellschaftliche Macht unter der Form einer Sache. Raubt der Sache diese gesellschaftliche Macht und ihr müßt sie Personen über die Personen geben.“ (Marx in den „Grundrissen“ über das Geld.)

Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen Sozialismus und Kapitalismus als zwei Seiten derselben Medaille: beide glorifizieren das Opfer der Arbeit, beide möchten die Verteilung des Sozialprodukts nach dem Kriterium der geopferten Arbeit organisieren — „jedem nach seinen Leistungen!“ Die moderne Leistung ist die technokratische Version des prähistorischen Opfers. Zu vergleichbaren Schlüssen wie Desmonde und Kurnitzky kommt auch Lévi-Strauss, nur daß für ihn „Tausch“ und „Opfer“ die unausweichliche Struktur aller denkbaren Gesellschaftsformen sind.

Das primäre Opfer ist die Unterdrückung der Sexualität; mit dem Inzesttabu (und dem darauf beruhenden Patriarchat) fängt die Verleugnung des natürlichen Gebrauchswerts durch die vom Geld beherrschte Gesellschaft an. Kurnitzky nimmt damit eine Korrektur am marxistischen Begriff „Gebrauchswert“ vor, der ihm noch zu naiv utilitaristisch, zu sehr an die Normen der patriarchalischen Gesellschaft fixiert ist. Nützlich ist eben alles, was sich gegen Geld austauschen läßt: der Tauschwert definiert den Gebrauchswert, und deshalb darf man nicht abstrakt den Gebrauchswert gegen den Tauschwert ausspielen.

Kurnitzky illustriert diese Dialektik der Nützlichkeit am Beispiel jener Sachen, die im Laufe der Geschichte Symbole des Tauschwerts gewesen sind. Wenn in primitiven Gesellschaften erwa Rinder als Geld fungieren, dann keinesfalls, weil sie von vornherein nützlich waren, sondern weil sie zuerst als Opfertiere dienten. Die gesamte Bedürfnisstruktur der historischen Menschheit hat sich aus Opfer und Tausch entwickelt. Das wirft auch ein Licht auf die vergeblichen Anstrengungen der modernen Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik, das Geld aus seiner Bindung an die nutzlosen Edelmetalle zu befreien. Die Verquickung der Währungen mit dem Gold ist offenkundig „irrational“, aber diese Irrationalität läßt sich vom Wesen des Warenfetischismus nicht trennen. Hier stößt die ökonomische Rationalität an ihre eigenen Grenzen: der Goldstandard überlebt als ein Stück dunkler Urgeschichte im Herzen des Spätkapitalismus.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)