FORVM, No. 225
November
1972

Terror schadet

Der Kampf in der arabischen Welt im allgemeinen — und in Palästina im besonderen — ist gekennzeichnet durch die Tatsache, daß wir es sowohl mit „klassischen“ imperialistischen Widersprüchen zu tun haben, als auch mit solchen, die sich aus der Konfrontation verschiedener nationaler Bourgeoisien ergeben. Das Auftreten nationaler Konflikte in der kolonialen Welt — als Folge imperialistischer Divide-et-impera-Politik — ist ein bekanntes Phänomen und hat schon wiederholt gute Dienste in der Ablenkung vom anti-imperialistischen Kampf erwiesen (Kurden, Südsudan, Biafra usw.). Im speziellen Fall der zionistischen Kolonisation Palästinas kommt offensichtlich noch der Faktor der Entwicklung der jüdischen Frage hinzu.

Diese Widersprüche verhalten sich dialektisch zueinander, vermengen und überlagern sich. In seiner ganzen Schärfe tritt dieses Problem im Kampf des palästinensischen Widerstands zutage, der keineswegs auf einen „einfachen“ antiimperialistischen Kampf reduziert werden kann.

Der Form nach steht die Mobilisierung der palästinensischen Massen in der Aufstiegsphase beispielhaft da für den anti-imperialistischen Kampf in der arabischen Welt. Dem Selbstverständnis nach stand und steht die Bewegung (notwendig) unter dem Primat des nationalen Kampfes gegen den zionistischen Staat. Dieser Aspekt aber ist es auch vorwiegend, der es den reaktionären und kleinbürgerlich-„progressiven“ Regimes in der arabischen Welt ermöglicht, die Form der Massenmobilisierung mit den Losungen der nationalen Einheit (im Sinne einer Verschleierung der Klassengegensätze) zu verbinden. Damit gelingt ihnen zweierlei:

  1. die Ablenkung von ihrer eigenen Unfähigkeit, sowohl den nationalen Konflikt als auch die anti-imperialistischen Probleme zu lösen;
  2. die Massen politisch zu neutralisieren und an sich zu binden.

Für den palästinensischen Widerstand besteht also nicht nur das Problem der Mobilisierung der Massen der Region zu seiner Unterstützung — was den Sturz der bestehenden Regimes impliziert —, sondern auch die dialektische Verbindung dieser Mobilisierung mit Zielen, welche diesen Sturz durch die revolutionären Massen erst ermöglichen. Denn so wie im palästinensischen Widerstand selbst die palästinensische Mittel- und Kleinbourgeoisie (und selbst reaktionäre Kräfte) die Führung haben, so ähnlich ist es auch beim national verbrämten anti-imperialistischen Kampf in der arabischen Welt.

Hier kommt es darauf an zu zeigen, daß eine Wurzel der Schwäche der arabischen und palästinensischen Linken in der Abwesenheit einer proletarisch-internationalistischen Perspektive bei der Lösung der nationalen Frage liegt. Extrem zeigt sich dieser Mangel in einer Äußerung des Mitglieds des Politischen Büros der FPDLP, Nidal: „Die Befreiung Palästinas und die Zerstörung des Zionismus können nicht durch eine Revolution des israelischen Proletariats erreicht werden. Das Gegenteil (!) ist der Fall. Das Gegenteil ist richtig. Der Sieg des Proletariats in Israel kann nur (!) durch die Befreiung Palästinas erreicht werden, durch den Kampf der Palästinenser und Araber.“

Die sich daraus ergebende Strategie — eben der Kampf der Palästinenser und Araber — ist die Strategie des bürgerlichen Nationalismus und enthält schon den Keim der nächsten Niederlage. Die nur-militärische Strategie gegen Israel kann besonders beim gegenwärtigen Kräfteverhältnis nur Schiffbruch erleiden. Außerdem ist sie völlig außerstande, die Palästinafrage zu lösen.

Freilich ist es richtig, daß eine isolierte revolutionäre Bewegung in Israel allein unmöglich ist und Palästina nicht „befreien“ kann. Aber für einen Marxisten-Leninisten ist es unmöglich, eine Strategie zu verfolgen, die ein Bündnis mit einer solchen Bewegung von vornherein ausschließt (denn dann müßte sie isoliert bleiben). In diesem Bündnis liegt nämlich die wichtigste Garantie für die einzige die proletarisch-internationalistische Lösung des Palästina-Problems, die es ermöglicht den zionistischen Staat von außen und innen anzugreifen und jene Machtverhältnisse herzustellen, die auch der nationalen Unterdrückung der Palästinenser ein Ende bereiten: Selbstbestimmungsrecht, Rückkehr der Flüchtlinge, unabhängige Organisationen der palästinensischen Arbeiter und Bauern usw.

Von gewisser Seite wird eine solche Interpretation der Palästinafrage als „linkssektiererisch“ bezeichnet und betont, daß der palästinensische Widerstand als Ganzes unterstützt werden müsse. Aber durch Aktionen, wie jene auf dem Flughafen Lod, in München usw. wird der Grundcharakter des Konflikts in keiner Weise verändert.

In seinem Wesen ist der palästinensische Widerstand zweifellos anti-imperialistisch und muß unterstützt werden. Aber im aktuellen Stadium der Differenzierung im Widerstand kann eine Unterstützung durch Marxisten nur eine kritische sein. Eine Unterstützung, die diesen Namen verdient, kann nicht eine Linie betreffen, die objektiv in die nationalistische Sackgasse führt, sondern besteht in solidarischer Kritik — andernfalls diente sie tatsächlich nur der Verlangsamung oder gar Verhinderung von Klärungsprozessen im marxistischen Sinn — was natürlich mit Solidarität nichts zu tun hat. Der Vorwurf der „linkssektiererischen“ Interpretation kann daher nur als Versuch gewertet werden, den eigenen national-opportunistischen Standpunkt zu rationalisieren.

Die strategische Hauptaufgabe für die Revolutionäre der Region besteht nach wie vor in der Schaffung einer auf dem Boden des proletarischen Internationalismus stehenden marxistisch-leninistischen Partei, die auf der Grundlage ihres allgemeinen Programms in den besonderen Kämpfen interveniert und in den Massen der Arbeiter und Bauern ihre konkrete anti-imperialistische und sozialistische Perspektive propagiert. Im Nahen Osten heißt das unter anderem: Der Kampf gegen Imperialismus, Zionismus und arabische Reaktion läßt sich nicht mechanisch in einen Hauptwiderspruch (Zionismus/Israel) und einen Nebenwiderspruch (Imperialismus/arabische Reaktion) mit jeweils getrennten Taktiken und Strategien teilen. Ein dialektisches Verständnis und die historische Erfahrung (1921, 1929, 1936, 1947, 1967 ...) dieser Trennung zeigen:

  1. daß sie den reaktionären und „progressiven“ Regimes erlaubt, die Massen durch die Mobilisierung gegen den nationalen Feind an sich zu binden und den anti-imperialistischen und Klassenkampf zu schwächen,
  2. daß sie diesen Kampf — als nationalistischen — in die nur-militärische Sackgasse zwängt und die Perspektive des proletarischen Internationalismus — im Sinne der Mobilisierung der israelischen Arbeiterklasse als Bündnispartner — verunmöglicht. Ihrem Charakter nach richten sich die jüngsten Aktionen offensichtlich gegen Vertreter der israelischen Massen und damit indirekt gegen das palästinensische Volk selbst. Denn so verhindert man eine politische Differenzierung jener Massen (die bisher „nur“ die Form “ großer Streiks und militanter Demonstrationen der „Schwarzen Panther“ annahm). Man verhindert eine Solidarisierung, die zu einer wichtigen Unterstützung des palästinensischen Widerstands und des anti-imperialistischen Kampfes in der Region überhaupt werden kann.

Jene Terrorakte fügen sich bruchlos in eine katastrophale Strategie, die nicht imstande ist, auch nur ein Minimum an revolutionärer Perspektive zu vermitteln. Sie erschwert es im Gegenteil den marxistischen Kräften, in den Massen aufklärend zu wirken: Sie erschwert es, die Massen in Israel vom Mißtrauen gegenüber den palästinensischen Revolutionären zu befreien; die Regierung wird die Vorfälle im Sinne einer nationalen und internationalen Kampagne zugunsten ihrer Annexionspolitik nützen. Diese Strategie erschwert es auch, den Massen in Palästina und der arabischen Welt zu erklären, daß sich ihr Kampf nicht gegen unbeteiligte Individuen, sondern gegen die durch die herrschenden Klassen repräsentierten Verhältnisse zu richten hat.

Deshalb — und nicht im Rahmen der heuchlerischen „Empörung“ von notorischen Pro-Imperialisten, Befürwortern des US-Völkermords in Indochina, usw. — müssen solche Anschläge von Marxisten entschieden verurteilt werden.

Vgl. G. Nenning: The Games Must Go On. Olympischer Terror. NF September/Oktober 1972.

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