FORVM, No. 150-151
Juni
1966

Tod und Leben des Austromarxismus

Zur Bilanz einer politischen Idee

Laut Otto Bauer, dem Führer der österreichischen Sozialdemokratie während der Zwischenkriegszeit, hat der amerikanische sozialistische Publizist Boudin die junge Wiener Marxistenschule, die sich in den Jahren nach der Jahrhundertwende als Arbeitsgemeinschaft herausbildete, zuerst als die „Austromarxisten“ bezeichnet. [1] Der Terminus „Austromarxismus“ wurde in der Ersten Republik Österreich vorwiegend von den Gegnern des Sozialismus gebraucht, um die österreichische Spielart des Sozialismus entweder als revolutionären Bolschewismus oder — von kommunistischer Seite — als reformistische Verfälschung des Marxismus zu kennzeichnen. [2] Der Titel „Austromarxismus“ wurde inmitten des Kreuzfeuers von rechts und links von der Sozialdemokratie hochgehalten und als Ehrentitel rezipiert.

Obwohl der Austromarxismus im Bewußtsein der Nachwelt als republikanisches Phänomen fortlebt, ist es doch notwendig, den Austromarxismus der Ersten Republik auf seine Wurzeln in der österreichisch-ungarischen Monarchie zurückzuverfolgen. Mehr noch: nur während des Bestandes der Monarchie und bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges gab es die Arbeitsgemeinschaft jener hervorragenden Persönlichkeiten, welche die austromarxistische Schule ausmachten, im strengen und eigentlichen Sinne. Nur im Bezugssystem der österreichisch-ungarischen Monarchie waren sich die Mitglieder dieses kleinen, aber erlesenen Kreises in der Beurteilung der wesentlichen politischen Fragen einig, während sie späterhin in vieler Hinsicht eigene Wege gingen.

Zu den Persönlichkeiten, die den Ruf der austromarxistischen Tradition begründeten und durch Jahrzehnte für seine Verbreitung sorgten, gehört vor allem Otto Bauer, der schon 1907 mit seinem Erstlingswerk „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ seine Qualitäten als glänzender wissenschaftlicher Autor und souveräner Kenner der politischen Probleme seines Wirkungsbereiches bewies; ferner der spätere Staatskanzler und zweimalige Baumeister der Republik, Karl Renner, der für Staatslehre, Staatsrecht, Verwaltung, Rechtssoziologie und verwandte Materien zuständig war; sowie der später in der deutschen Partei tätige und in der Weimarer Republik die Funktion eines Reichsfinanzministers bekleidende Rudolf Hilferding, der mit seinem 1910 erschienen Werk „Das Finanzkapital“ die Analyse des Marx’schen „Kapital“ fortgesetzt und auf die modernen anonymen Erscheinungsformen des Kapitals angewendet hat; und endlich Max Adler, der sich zeit seines Lebens mit philosophischen Problemen und der Interpretation der materialistischen Geschichtsauffassung befaßte und in seinem originellen philosophischen System den Materialismus der Marx’schen Geschichtsbetrachtung mit dem Idealismus der Kant’schen Philosophie zu verbinden suchte.

Max Adler ist in die Geschichte der marxistischen Tradition als einer der wenigen wirklich schöpferischen Denker eingegangen, der das Marx’sche System in einer Art Palingenesie neu präsentierte. [3] Leider ist seine Wirkung durch die Vernachlässigung philosophischer Probleme im Rahmen des Marxismus überhaupt und durch die Ungunst der Zeitumstände, in die der Hauptteil seines Lebenswerkes fällt, verschüttet und verzögert worden, so daß sein Name bisher nicht die verdiente internationale Resonanz erhalten hat.

Neben diesen kolossalen Erscheinungen im Rahmen des Austromarxismus ist der einzige überlebende Repräsentant dieser Generation, der spätere Heeresminister und Kommandant der sozialdemokratischen Wehrorganisation des Republikanischen Schutzbundes, Julius Deutsch, bemerkenswert, der die austromarxistische Tradition durch Beiträge historischer Natur, so durch eine „Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung“ (Wien 1908) und durch Monographien sozialpolitischer, späterhin auch militärwissenschaftlicher Art bereicherte.

Die Arbeitsteilung zwischen den Mitgliedern dieses zwanglosen Kreises kongenialer Persönlichkeiten war von den Fähigkeiten und Neigungen jedes einzelnen bestimmt und von der allen gemeinsamen Überzeugung getragen, daß sich die Marx’sche Methode der Analyse und der Erforschung gesellschaftlicher Phänomene für alle Gebiete der geistigen und gesellschaftlichen Orientierung fruchtbar machen lasse.

Geburtsjahr 1903

Lebensäußerungen und Kristallisationspunkte dieses Kreises, zugleich auch zeitliche Fixierung dessen, was als „Austromarxismus“ in Erscheinung trat, waren der 1903 gegründete Verein „Zukunft“, der die erste Wiener Arbeiterschule ins Leben rief und damit die Voraussetzungen für das weitverzweigte sozialdemokratische Bildungswesen schuf, sowie die 1904 erstmals erscheinenden „Marx-Studien“, in deren Rahmen die ersten großen Arbeiten der Austromarxisten, wie Hilferdings „Finanzkapital“, Bauers „Nationalitätenfrage“ und Renners Werk „Die soziale Funktion der Rechtsinstitute, besonders des Eigentums“, veröffentlicht wurden, ferner auch die 1907 gegründete Zeitschrift „Der Kampf“, die fortan bis zur Auflösung der Sozialdemokratie im Jahre 1934 und darüber hinaus in der Illegalität das theoretische Organ der österreichischen Sozialdemokratie blieb, in dem alle Meinungskämpfe ausgetragen wurden und alle Stellungnahmen zu zeitgenössischen Fragen sich niederschlugen.

Die Tätigkeit der austromarxistischen Denker war aufs engste mit der politischen Praxis und dem Alltagskampf der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs verbunden, die seit der historischen Tagung von Hainfeld zur Jahreswende 1888/89 als festgefügte Organisation existierte. Es war der Persönlichkeit eines Mannes, des aus bürgerlichen Kreisen stammenden und aus ärztlicher Philanthropie zum Sozialismus gekommenen Victor Adler, gelungen, die rivalisierenden Gruppen, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren ein geschlossenes Auftreten der Arbeiterbewegung verhindert hatten, an einen Tisch und in eine organische Form zu bringen.

Der Ausdruck dieser für das Wirksamwerden der Arbeiterbewegung in ihrer Bedeutung gar nicht zu überschätzenden Einigung war die von den Delegierten der Hainfelder Tagung beschlossene Prinzipienerklärung, die das erste, im wesentlichen bis zum Jahre 1926 gültige Programm der Partei darstellte. Wesentliche Punkte dieses Programms verraten deutlich den Einfluß des Marxismus und seiner Gedankenwelt. So wird einleitend ausdrücklich festgestellt, daß die Ursache des unwürdigen Zustandes der Gesellschaft „nicht in einzelnen politischen Einrichtungen, sondern in der das Wesen des ganzen Gesellschaftszustandes bedingenden und beherrschenden Tatsache, daß die Arbeitsmittel in den Händen einzelner Besitzender monopolisiert sind“, zu suchen und die Abhilfe dementsprechend im „Übergang der Arbeitsmittel in den gemeinschaftlichen Besitz der Gesamtheit“ [4] zu finden sei. Außerdem wurde festgestellt, daß dieser Übergang nicht bloß die Befreiung der Arbeiterklasse, sondern auch „die Erfüllung einer geschichtlich notwendigen Entwicklung“ bedeute.

Trotz dieser fundamental marxistischen Ausrichtung machten sich angesichts der fortschreitenden gesellschaftlichen Entwicklung, die nicht ganz in den von Marx vorgezeichneten Bahnen verlief, Revisionstendenzen bemerkbar, die aber wenig mit dem in Deutschland mächtigen Revisionismus Eduard Bernsteins zu tun hatten. In der Regel scheute man sich, in der Kritik so weit zu gehen wie Bernstein. Victor Adler, der alles andere als ein dogmatischer Marxist und überhaupt kein systematischer Theoretiker war, hielt die Kritik an marxistischen Grundlehren, die nun einmal das Fundament der Partei bildeten, für praktisch schädlich und der Einheit der Partei, auf die in der Sozialdemokratie immer größter Wert gelegt wurde, abträglich.

Immerhin vertrat auch er am Parteitag 1901 einige Änderungen des Hainfelder Programms, so wurde der Passus, der von „ökonomisch steigender Massenarmut und wachsender Verelendung immer breiterer Volksschichten“ spricht, ebenso fallengelassen wie eine ursprünglich gegenüber den Anarchisten einlenkende Formel, die den Parlamentarismus trotz des Kampfes um das allgemeine gleiche und direkte Wahlrecht als „Form der modernen Klassenherrschaft“ charakterisierte.

Im Rahmen des Austromarxismus herrschte die Neigung vor, selbst die unumgänglich gewordenen Revisionen marxistischer Theorien marxistisch zu begründen oder als indirekte Erfolge des Marxismus darzustellen. So führte Victor Adler auf dem Parteitag 1901 im Zusammenhang mit dem Fallenlassen des Passus über die Verelendung aus, daß der Kapitalismus zwar fraglos die Tendenz habe, die Arbeiter zu verelenden, und daß diese Tendenz auch zum Ausdruck käme, wenn nicht der politische Widerstand des Proletariats gegen die Verelendung da wäre. [5] Die Widerlegung der Marx’schen Prophezeiung in der Realität wurde somit dem politisch wirksam gewordenen Marxismus gutgeschrieben.

Nur der sozialdemokratische Politiker Engelbert Pernerstorfer wagte sich auf diesem Parteitag in seiner Kritik weiter vor und stellte so elementare marxistische Vorstellungen, wie die Idee der historischen Notwendigkeit, in Frage. [6] Solche Vorstöße blieben jedoch Einzelerscheinungen, im allgemeinen zogen es sogar Denker und Praktiker, die — wie Karl Renner — die Grenzpfähle des Marxismus eindeutig hinter sich ließen, vor, ihre Abweichungen als gut marxistische Wege auszugeben.

Der Marxismus als gesellschaftskritische Methode muß sich jeweils den Aufgaben und Fragen zuwenden, die in der konkreten Gesellschaft auf der Tagesordnung stehen und deren Lösung die Voraussetzung für das erfolgreiche eigene Wirken bildet. Im Rahmen des habsburgischen Vielvölkerstaates bedeutete dies die Notwendigkeit, sich mit der den ganzen Organismus des Staates aufwühlenden Nationalitätenfrage zu befassen. Obwohl die Sozialdemokratie ihrem Wesen nach eine soziale Bewegung zur Emanzipation einer Klasse war, konnte sie in ihrem politischen Kampf nicht an der Tatsache vorbeigehen, daß der Konflikt zwischen den Nationalitäten soziale Probleme überlagerte, ja im Bewußtsein vieler Menschen verdeckte. Die Sozialdemokratie war die einzig übernational im gesamten Reich organisierte politische Kraft und auch die einzige, aus deren Reihen ernstzunehmende und konstruktive Vorschläge zur Lösung der Nationalitätenfrage kamen, die wahrscheinlich geeignet gewesen wären, das alte Reich zu erhalten, aber an der mangelnden Bereitschaft der herrschenden Kreise dieses Reiches scheiterten. [7]

Renners juristische Nation

Das Brünner Nationalitätenprogramm 1899 betrachtete das Nationalitätenproblem vorwiegend als Kultur- und Sprachenfrage und sah die Lösung des Problems in der Schaffung abgegrenzter Selbstverwaltungskörper der einzelnen Nationen, die die historischen Kronländer ablösen sollten. Karl Renner ging in seinen unter Pseudonymen veröffentlichten Werken „Staat und Nation“ (1899) und „Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat“ (1902) weiter. Er wollte das Personalitätsprinzip an die Stelle des Territorialprinzips setzen und Österreich in einen demokratischen Nationalitätenbundesstaat umwandeln, in dem jeder einzelne Bürger auf dem Territorium der Monarchie sich zu einer Nation bekennen könne und die Nationen als juristische Personen des öffentlichen Rechts konstituiert wären. Der Gesamtstaat sollte sich auf die Wahrung gemeinsamer Interessen beschränken, im übrigen aber der nationalen Autonomie Raum geben.

Renner, dem die Erhaltung der Monarchie ein Herzensbedürfnis war, weil er in Übereinstimmung mit dem tschechischen Historiker Palacky meinte, daß man Österreich-Ungarn erfinden müsse, wenn es nicht bereits existierte, sah im Nationalismus, der den Bestand der Monarchie bedrohte, nicht einen historischen Fortschritt, sondern den Ausdruck völkerrechtlicher Anarchie. Er wandte sich gegen das Souveränitätsdogma, das mit der Französischen Revolution herrschend geworden sei, und war der Überzeugung, daß nur die Autonomie, ansonst aber die Erhaltung eines supranationalen Rahmens im wohlverstandenen Interesse der Nationen liege.

In einem Aufsatz im „Kampf“ schrieb Renner Jahre vor dem Verfall der Monarchie und Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges Worte, die in prophetischer Weise die Sanktion für die Unterlassung der notwendigen Reformen vorwegnahmen: „Denn was heute die Voraussicht der Herrschenden im Rahmen dieser Staatsgrenzen nicht vollzieht, wird morgen das Schwert vollbringen gegen diesen Staat.“ [8]

Otto Bauer stellte sich in seinem Werk über die Nationalitätenfrage im wesentlichen auf den Boden der Renner’schen Ideen. Zwischen Renner und Bauer bestand jedoch von allem Anfang an ein beträchtlicher Akzentunterschied, der sich bald realpolitisch auswirken sollte. Renner hing mit allen Fasern seines Herzens an dem Rahmen seines politischen Wirkens und wollte den Untergang des alten Österreich bis zum letzten Tag nicht zur Kenntnis nehmen; er veröffentlichte noch 1916 das seine Reformideen zusammenfassende Werk „Österreichs Erneuerung“ und polemisierte noch im Jahre 1918 im „Kampf“ gegen die Vertreter der Linken in der Nationalitätenfrage. Otto Bauer stand hingegen dem habsburgischen Reich kühl und unbeteiligt gegenüber und akzeptierte es lediglich als Ausgangspunkt, keineswegs aber als idealen Endpunkt, den man unter keinen Umständen aus den Augen verlieren dürfe.

Die nach jahrzehntelangen Kämpfen 1907 durchgesetzte Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes schien den Nachweis erbracht zu haben, daß ein demokratischer Fortschritt innerhalb der Monarchie durchaus möglich war. Wahrscheinlich wäre auch ein Ausbau der in der Spätzeit des Reiches begonnenen Sozialpolitik möglich gewesen, ohne den Rahmen der Monarchie zu sprengen. Doch die Geschichte entschied anders: der Erste Weltkrieg setzte den übernationalen Staatsverband einer Belastungsprobe aus, dem dieser nicht mehr gewachsen war.

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges war auch für die österreichische Sozialdemokratie ein Ereignis, das zur politischen Weichenstellung herausforderte und die Traditionen der Partei mit einer völlig neuen historischen Sachlage konfrontierte. Im Gegensstz zu den hochgespannten Erwartungen, die auf den internationalen Sozialisten-Kongressen der Jahre vor dem Weltkrieg zur Schau gestellt worden waren und in der Annahme gipfelten, daß das Proletariat einen Krieg durch sein Abseitsstehen verhindern könne, fand der Kriegsausbruch die Arbeiterschaft und die sozialdemokratischen Parteien an der Seite ihrer nationalen Regierungen. Der Chefredakteur der „Arbeiter-Zeitung“, Friedrich Austerlitz, sprach in einem Leitartikel, in dem er die „Politik des 4. August“ begeistert unterstützte, sogar vom „Tag der deutschen Nation“.

Mit Fortdauer des Krieges sammelten sich in den sozialdemokratischen Parteien jedoch jene Gegenkräfte, die auf eine energische Friedenspolitik hindrängten. Auf den Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal, die im September 1915 bzw. im April/Mai 1916 in der neutralen Schweiz stattfanden, formierte sich die Opposition gegen die Politik der Mehrheitssozialdemokratie; dies führte in Deutschland sogar zur Gründung einer eigenen Partei, der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei.

In Österreich vertrat Friedrich Adler, der Sohn des Parteigründers und -führers, die Sache der Linken. Da das parlamentarische Leben in Österreich lahmgelegt war und keine legale Möglichkeit bestand, den Protest gegen das Kriegssystem und die Kriegspolitik zu deponieren, entschloß sich Friedrich Adler auf eigene Faust zu einer Verzweiflungstat, mit der er die Arbeiter aufrütteln und eine Wende in der Politik der Partei herbeiführen wollte: er ermordete am 21. Oktober 1916 den österreichischen Ministerpräsidenten Stürgkh.

Wenn die Tat Friedrich Adlers der nur von ihm selbst verantwortete Einsatz eines Einzelgängers war, so war sie doch ein Fanal, das eine mobilisierende Macht ausübte. Am Parteitag 1917 trat die Opposition gegen die Politik des Parteivorstandes mit einer „Erklärung der Linken“ hervor, in der, unter Berufung auf die internationale Strömung der Zimmerwalder Konferenz und unter Erinnerung an die von den internationalen sozialistischen Kongressen in Stuttgart und Kopenhagen eingeschärfte Pflicht zur „Aufrüttelung der Volksmassen“ im Falle eines Krieges, energische Aktionen für den Frieden verlangt und die Haltung des Parteivorstandes verurteilt wurden. [9]

Renner als Parteiverräter

Renner wurde ausdrücklich des „Sozialpatriotismus“ angeklagt, seine Stellungnahmen zu den Problemen der Kriegspolitik, die 1917 gesammelt unter dem Titel „Marxismus, Krieg und Internationale“ erschienen waren, wurden als Symptom dieses Verrates sozialistischer Grundsätze angeführt. Das „Nationalitätenprogramm der Linken“, das im April 1918 im „Kampf“ veröffentlicht wurde, kam praktisch einer Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes und des Selbständigkeitswunsches der einzelnen Nationen gleich, wenn die Auflösung der Monarchie auch nicht ausdrücklich ausgesprochen, sondern mit der Forderung nach Einberufung konstituierender Nationalversammlungen umschrieben wurde.

Renner hielt den Prozeß, den die Linke für unausweichlich ansah und der sich bei Kriegsende dann auch tatsächlich abspielte, für einen historischen Rückschritt und versagte ihm bis zuletzt seine Anerkennung, obwohl gerade er dazu ausersehen war, als erster Kanzler des neuen republikanischen Staates, der aus dem Zerfall der Monarchie hervorgehen sollte, zu fungieren. Renner unterstützte in seinen Weltkriegsaufsätzen die Kriegspolitik des Parteivorstandes und wies darauf hin, daß Krieg und Gewalt, wie die Geschichte an den Beispielen des römischen Reiches oder des britischen Commonwealth zeige, ein möglicher Weg zu internationalen Zusammenschlüssen seien und auch der Weltkrieg nicht nur negativ beurteilt werden könne, solange der „Internationale der Tatsachen“, also der tatsächlichen Durchdringung des Lebens der Völker, keine internationale Rechtsordnung entspreche. [10]

Renner ging so weit, für die Dauer des Krieges nicht bloß einen Burgfrieden im Klassenkampf, sondern ein relatives Mitinteresse der Arbeiterklasse am Imperialismus des eigenen Landes und den von ihm erzielten Profiten anzunehmen. Eine internationale Aktion gegen den Krieg, wie sie von der Linken verlangt und der Arbeiterschaft zugemutet würde, setze die internationale Gleichmäßigkeit und Gleichzeitigkeit der Entwicklung voraus, die aber keineswegs gegeben sei. Der gegen die Zimmerwalder erhobene Vorwurf lautete auf Verkennung der Realität. Solange der Krieg dauere, gehe die Pflicht der Selbstbehauptung allen anderen Pflichten voran, die von den Linken verlangte Selbstopferung wäre nicht ein Triumph des Sozialismus, sondern des rivalisierenden Imperialismus, wahrscheinlich des Zarismus.

Renner stand den Vertretern der Linken an internationaler Gesinnung nicht im mindesten nach, ja er setzte sich zeit seines Lebens für die Schaffung von Organisationen und Formen ein, die einer internationalen Rechtsordnung die Wege ebnen, unter deren Herrschaft eine Bekämpfung des Krieges dann erfolgreich sein könne. Er sah in der Haltung der Linken eine welthistorische Wiederholung der Irrtümer des Anarchismus, der an der Aufgabe der Eroberung der Staatsmacht durch explosives Wollen und Handeln vorbeizukommen glaubte.

Es ist sehr die Frage, ob Renner nicht auch als Marxist die besseren Argumente auf seiner Seite hatte und ob die Linken, die aus edler Gesinnung heraus die Realität suspendierten, nicht in Wahrheit die Überspringung von Entwicklungsstufen verlangten, an die man im Fortschritt zu höheren Formen des menschlichen Zusammenlebens auch dann gebunden bleibt, wenn man sich in seinem Denken und Empfinden bereits über sie hinweggesetzt zu haben glaubt.

Innerhalb der Zimmerwalder Internationale bereitete sich bereits jene Spaltung der Arbeiterbewegung vor, die den kommenden Jahrzehnten ihr politisches Gepräge geben sollte. [11] Während sich alle Zimmerwalder in der Bekämpfung des „Sozialpatriotismus“ einig waren und die Kriegspolitik der Parteivorstände leidenschaftlich bekämpften, grenzte sich die „Zimmerwalder Rechte“, zu der auch Friedrich Adler und die anderen linken Austromarxisten gehörten, doch auch deutlich vom Bolschewismus ab, der unter der Führung Lenins die Zimmerwalder Konferenzen als Auftakt einer Kommunistischen Internationale betrachtete und die „Zimmerwalder Rechte“, die in Kienthal dank der geschickten Taktik Lenins bereits in der Minorität war, als „kautskyanisch“ ablehnte.

Aus der Internationalen Sozialistischen Kommission ging denn auch 1919 nach der Oktoberrevolution die 3. Internationale unter Führung Moskaus hervor, während die sozialdemokratischen Parteien 1919 in Bern die 2. Internationale fortsetzten. Die österreichische Partei, in der inzwischen die Linke herrschend geworden war, war weder mit der einen noch mit der anderen Gruppierung einverstanden. Die 3. Internationale kam nicht in Frage, weil sie das Schema der bolschewistischen Revolution auf alle Länder übertragen wollte und unzumutbare Bedingungen stellte, die auf dem 2. Kongreß der 3. Internationale von Sinowjew in 21 Thesen formuliert wurden. Die 2. Internationale wiederum war mit dem Erbe des „Sozialpatriotismus“ belastet.

Friedrich Adler, dessen Wirken sich nach seiner Freilassung aus dem Kerker und Ausrufung der Republik auf die sozialistische Internationale erstreckte, der er mit seiner Tat während des Krieges zur Selbstbesinnung hatte verhelfen wollen, kam zu dem Schluß: „Uns gefallen beide nicht.“ [12] Er betrieb auf einer internationalen sozialistischen Konferenz in Wien 1921 die Gründung der „Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Parteien“, die im folgenden nach den spöttischen Worten Kurt Radeks allgemein die „Internationale zweieinhalb“ genannt wurde. Dieser Internationale, zu der u.a. auch die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands und die Schweizer Sozialdemokratische Partei gehörten, war jedoch keine lange Lebensdauer beschieden. Schon auf dem Hamburger Kongreß 1923 erfolgte die Wiedervereinigung mit der Sozialistischen Arbeiter-Internationale.

Zwischen Reformismus und Bolschewismus

Der Austromarxismus, der nach Worten Otto Bauers „immer mitten zwischen dem Reformismus und dem Bolschewismus“ [13] stand, war mit dem Versuch gescheitert, international prägend zu wirken und eine Organisation aufrechtzuerhalten, die sich gegenüber dem Reformismus und Bolschewismus gleichermaßen distanzieren und behaupten konnte. Das Schicksal dieses internationalen historischen Zwischenspiels mutet rückblickend wie ein Vorspiel zu jenem Scheitern an, das die Möglichkeiten des Austromarxismus, selbst in seinem Ursprungsland einen Mittelweg zwischen Reformismus und Bolschewismus zu weisen, zunichte machte.

Der Gegensatz zwischen reformistischer und orthodox-marxistischer Haltung gegenüber dem Phänomen des Staates, der in der Folge die theoretische Hauptschwierigkeit des Austromarxismus ausmachen und praktisch sein Schicksal besiegeln sollte, kam am Parteitag 1917 im Zusammenhang mit der Erörterung der Kriegsfrage zum Ausbruch. In der „Erklärung der Linken“ hieß es zu diesem Problem unter anderem: „Die Sozialdemokratie kann ihre geschichtliche Aufgabe nur im Klassenkampf erfüllen ... Die Partei darf nicht zu einem Wohltätigkeitsverein werden, dessen ganze Tätigkeit sich darin erschöpft, einzelnen Arbeiterschichten eine kleine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse zuzuwenden.“ [14] Die schärfste Formulierung marxistischer Orthodoxie ist in den gegen Renner gerichteten Worten enthalten: „Der Reformismus führt notwendig zum Ministerialismus ... lehnen jedes dauernde Bündnis mit bürgerlichen Parteien, jede Blockpolitik ... ab. Wir halten fest an dem alten Grundsatz: Dem kapitalistischen Staat keinen Mann und keinen Groschen!“ [15] Renner betonte demgegenüber, daß die Eroberung der Staatsmacht das Hauptziel der politischen Bewegung des Sozialismus sei. Er hatte schon in seinen vor dem Parteitag erschienenen Aufsätzen ausgeführt, daß die Kriegswirtschaft eine Form der Durchstaatlichung des Kapitalismus sei und als Ansatzpunkt für die Arbeiterbewegung benützt werden könne.

nächster Teil: Die Tragödie des Austromarxismus

Obiger Text unseres Mitherausgebers erschien auf englisch im „Journal of Contemporary History“, London.

[1Otto Bauer: Max Adler — Ein Beitrag zur Geschichte des Austromarxismus, in: „Der Kampf“ (Brünn), Jg. IV, August 1937, S. 297.

[2Charles Gulick: Der Austromarxismus, in: „Österreich von Habsburg zu Hitler“, Band V, Wien 1948, S. 13.

[3Vgl. Norbert Leser: Max Adlers geistesgeschichtliche Bedeutung, Nachwort zu Max Adler, „Die solidarische Gesellschaft“ (dritter, nachgelassener Band des „Lehrbuches der materialistischen Geschichtsauffassung“), Wien 1964, S. 163 ff.

[4Die österreichische Sozialdemokratie im Spiegel ihrer Programme, mit einer Einleitung von Ernst Winkler, Wien 1964, S. 28.

[5Protokoll über die Verhandlungen des Gesamtparteitages der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich, Wien 1901, S. 102.

[6A.a.O., S. 117 ff.

[7Vgl. Hans Mommsen: Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat, Band I, Wien 1963.

[8Karl Renner: Das Regime des Leichtsinns, in: „Der Kampf“, Jg. VII, April 1914, S. 293.

[9Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich, Wien 1917, S. 115.

[10Karl Renner: Marxismus, Krieg und Internationale, Stuttgart 1917, S. 167 ff.

[11Vgl. Jules Humbert-Droz: Der Krieg und die Internationale — Die Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal, Wien 1964.

[12Vgl. Friedrich Adlers Brief an Ramsay Macdonald: Was trennt uns von der Zweiten Internationale?, in: „Der Kampf“, Jg. XIV, Februar März 1921, S. 41 ff.

[13Otto Bauer: Nach dem Parteitag, in: „Der Kampf“, Jg. XX, Dezember 1927, S. 549.

[14Protokoll der Verhandlungen des Parteitages 1917, S. 115.

[15A.a.O., S. 116.

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