radiX, Nummer 1
Dezember
1998

„Über sieben Richtlinien zur Gleichberechtigung“

Die Gleichbehandlungsrichtlinien sind neben den (bis dato) vier „Aktionsprogrammen für Chancengleichheit von Frauen und Männern“ die wichtigsten Hebel der Gleichstellungspolitik der Europäischen Union. Bei genauerer Betrachtung wird vor allem eines sichtbar: ihre Unzulänglichkeit.

„Das Buch II“, eine Informationsschrift des Bundeskanzleramtes, informiert auf über 250 Seiten über „Chancen und Risiken“ des neuen, vereinten Europa. Ausführlich werden Organe der Europäischen Union, die vier Freiheiten als Grundsäulen des Binnenmarkts sowie 24 ausgewählte Politikbereiche, wobei der Agrar-, Umwelt- und Sozialpolitik der längste Raum zugestanden wird, behandelt. Im Inhaltsverzeichnis läßt sich kein Hinweis auf die Existenz einer — wie auch immer gearteten — Frauenpolitik finden. Einzig im Stichwortverzeichnis wird frau fündig. Unter dem Stichwort „Frauen“ werden nun vier Verweise auf Seiten genannt, die allesamt im Kapitel „Arbeit und Soziale Sicherheit ohne Wenn und Aber“ zu finden sind. In der Europäischen Union ist Frauenpolitik also identisch mit Sozialpolitik? Dieser Eindruck erfährt beim Lesen der Verweise eine weitere Bestätigung: Thematisch geht es hier um den „gleichberechtigten Zugang zur beruflichen Aus- und Weiterbildung und zum Arbeitsplatz sowie gleiche Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlohnung“. Bei aller Gleichbehandlungspolitik aber nicht zu vergessen: „Familiäre Verpflichtungen und berufliche Bestrebungen sollen dabei in Einklang gebracht werden.“

Ähnliches ist in einer Informationsbroschüre der Bundeswirtschaftskammer zu lesen: In dieser 1993 veröffentlichten Publikation zur „Sozialen Dimension der EG unter Berücksichtigung des EWR“ erfahren wir neben Erläuterungen zum Problem der Sonntagsarbeit, Pensions- und Arbeitslosenversicherung auch Näheres zur Gleichbehandlung. Im Kapitel „Der Anpassungsbedarf der österreichischen Rechtsordnung“ ist daher zu lesen:

Gleichbehandlung bedeutet, daß jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten des EWR in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen verboten ist.

Daß neben der nationalen Zugehörigkeit auch das Geschlecht eine Kategorie der Diskriminierung ist, scheinen die Herren der Bundeswirtschaftskammer nicht zu wissen. Zur „Ehrenrettung“ sei jedoch angefügt, daß auf einer späteren Seite, wo es spezifischer um die Richtlinien geht, unter Gleichbehandlung doch der „Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit“ verstanden wird. Die Frauen Europas haben also noch einmal Glück gehabt!

Enge Definition — beschränkte Wirkung

Dennoch: Frauenpolitik wird hier nicht nur im Namen der Sozialpolitik ausgeführt und ist somit formal nicht existenz, auch inhaltlich erlebt sie eine einseitige Begrenzung auf die Erwerbsarbeit: Nicht nur Fragen vielfältigerer Benachteiligung im Erwerbsleben werden ausgeklammert; strukturelle und personale Gewalt, die in allen Lebensbereichen von Frauen existiert, wird erst gar nicht thematisiert.

Dieser Artikel will den Institutionen und (Gleichbehandlungs-)Politiken der EU nachspüren und ihre konkreten Formen sowie ihre Versäumnissse behandeln. Zu diesem Zwecke wird mit der rechtlichen Grundlage der Gleichstellungspolitik, dem Artikel 119 EGV-Vertrag, begonnen. Die inhaltliche Darstellung beschränkt sich auf die sieben verabschiedeten „Gleichbehandlungsrichtlinien“, die ein wesentlicher Ausdruck der von der EU forcierten Gleichbehandlungspolitik am sozio-ökonomischen Sektor sind.

Weiters möchte ich die Ausschüsse und Gremien vorstellen, die sich formal mit frauenfreundlicher Sozialpolitik befassen. Auf ihre Struktur und den daraus resultierenden (begrenzten) Handlungsmöglichkeiten soll anschließend hingewiesen werden. Schließlich soll exemplarisch auf zwei unterschiedliche Ansatzpunkte von Kritik an der Gleichbehandlungspolitik eingegangen werden: Ich beginne mit der reformistischen und systemimmanenten Kritik der Österreichischen Frauenlobby, einem informellen Netzwerk, das auf europäischer Ebene als Europäische Frauenlobby auftritt, um „Stimmung zu machen für eine bestimmte Angelegenheit, Politiker/innen dahingehend zu beeinflussen, daß sie bestimmte Interessen vertreten“. Diesem interessenspolitischen Ansatz, der sich treffend mit „Frauenpolitik ist vor allem Verteilungspolitik!“ charakterisieren läßt, soll eine umfassende feministische Kritik gegenübergestellt werden.

Der Gleichbehandlungsgrundsatz Artikel 119 EGV-Vertrag

Die Gründungsväter der EWG — eine Gründungsmutter war damals nicht dabei — hatten sich bei ihren Beratungen über eine wirtschaftliche Zusammenarbeit ihrer Staaten nie den Kopf über die aktuelle oder zukünftige Rolle der Frau zerbrochen.

Die Verankerung der Gleichbehandlung wurde (vielmehr) aus wettbewerbspolitischen Gründen forciert und fand 1957 ihren Niederschlag in den Römischen Verträgen. In diesen Wirtschaftsverträgen zur Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes wurde die Lohngleichheit für Männer und Frauen festgeschrieben, vor allem aufgrund des Drucks von französischer Seite, da eine Wettbewerbsverzerrung gefürchtet wurde, die sich zum Nachteil für diejenigen Staaten auswirken würde, die Lohngleichheit zumindest ansatzweise verwirklicht hatten. Konkret bedeutet die Gleichheit des Entgelts für Männer und Frauen, daß einerseits „das Entgeld für die gleiche, nach Akkord bezahlte Arbeit aufgrund der gleichen Maßeinheit festgesetzt wird“, sowie „daß für eine nach Zeit bezahlte Arbeit das Entgelt bei gleichem Arbeitsplatz gleich ist“. In jüngster Vergangenheit ergaben sich durch den Vertrag von Amsterdam (1997) einige Änderungen für den Artikel 119; so ist er nun um den Grundsatz des gleichen Entgelts bei gleicher und gleichwertiger Arbeit sowie um die Möglichkeit der Setzung von positiven Aktionen zugunsten des „unterrepräsentierten Geschlechts“ (das können auch Männer sein!) erweitert worden.

Dieser Gleichlohnartikel führte laut Hortense Hörburger jedoch jahrelang eine Art „Schattendasein“, da die EG-Mitgliedsstaaten dem Auftrag zum Abbau der diskriminierenden Bedingungen von sich aus nicht nachkamen. Erst massive Forderungen und Klagen von feministischen Frauen sowie das „Jahr der Frau“ (1975) konnten den nationalen Gesetzgebungsprozess (aufgrund der fünf Richtlinien) anregen.

Die sieben Richtlinien zur „erfolgreichen Gleichbehandlung“

Die ersten fünf Richtlinien haben also eine lange Geschichte. Ihre Grundlagen wurden 1975, im „Jahr der Frau“, von der EU-Kommission erarbeitet und ab diesem Zeitpunkt vom Rat erlassen. Im Gegensatz zu Verordnungen gelten Richtlinien der EU nicht unmittelbar, sondern bedürfen einer Umwandlung in nationales Recht. Die Wahl der Rechtsmittel ist dem EU-Mitgliedsstaat überlassen, verbindlich sind die Richtlinien hingegen in der Erreichung des vorgegebenen Zieles.

a) Lohngleichheit (1975)

Diese Richtlinie, die die Mitgliedsstaaten aufforderte, innerhalb eines Jahres Gesetze zu erlassen, die Lohngleichheit auch für gleichwertige Arbeit garantieren, hat im Prinzip den selben Wirkungsbereich wie schon der Artikel 119. Für Frauen hat sie jedenfalls weder zu einer faktischen gleich hohen Bezahlung wie die ihrer männlichen Arbeitskollegen geführt, noch konnte durch diesen partikulären Eingriff die sozio-ökonomische Situation von Frauen in anderen Lebensbereichen verändert werden. Auch Feministinnen bemängeln das Nicht-Thematisieren der Privatsphäre, in der Frauen maßgeblich die Reproduktionsarbeit leisten:

In Frage zu stellen ist deshalb, ob die europäische Gleichbehandlungspolitik, die ausdrücklich nur jeweils isolierte Diskriminierungstatbetände im Erwerbsleben zum Thema ihrer Gleichbehandlungspolitik erhoben hat, überhaupt wirkungsvoll greifen kann.

b) Zugang zum Beruf (1976)

Der Zugang zu Beschäftigung, Weiterbildung, beruflichem Aufstieg sowie Arbeitsbedingungen werden in dieser Richtlinie ebenfalls nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung geregelt. Verboten sind demnach unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen aufgrund des Gechlechts einer Person. Lediglich „positive Diskriminierung“, als ein Mittel zur Herstellung von gleichen Ausgangsbedingungen für beide Geschlechter, wird gewährt; hierunter fallen auch Schutzbestimmungen für Frauen bei Schwanger- und Mutterschaft. Innerhalb von 30 Monaten waren die EU-Mitgliedsstaaten dazu aufgefordert, die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Ausführung dieser Richtlinie zu schaffen.

Daß freilich einzig diese Richtlinie kein wirksames Instrument gegen die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung in der westlichen Gesellschaft ist, davon kann ausgegangen werden.

c) Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Bereich der sozialen Sicherheit (1979)

Diese Richtlinie findet Anwendung auf die gesetzlichen Systeme, die Schutz vor Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Invalidität, Arbeitsunfall und Berufskrankheit bieten sollen und wendet sich sowohl gegen unmittelbare wie auch mittelbare Formen der Diskriminierung. Bei näherer Betrachtung ist zu erkennen, daß auch diese Richtlinie auf die männliche Arbeitsbiographie unserer Gesellschaft zugeschnitten ist: Frauen, die sehr viel öfter als Männer teilzeit- oder geringfügig beschäftigt sind, werden hier nicht miteingeschlossen; ebensowenig enthält sie Gleichbehandlungsbestimmungen bei Fragen des Mutterschutzes, des Rentenzugangsalters oder bei Familienleistungen. Dieses Beispiel wirft daher die allgemeine Frage auf, ob das Fundament der EU-Gleichstellungspolitik, eben die Forderung nach Gleichheit, nicht schon problematisch ist: Denn ein Begriff von Gleichheit existiert nicht aus sich heraus, sie kann erst „im Messen mit“ bzw. „im Vergleich zu“ erahnt und gefordert werden. In der Gleichstellungspolitik der EU wird daher an der männlich-patriarchalen Norm gemessen, die keine Infragestellung erfährt.

d) Gleichbehandlung von Frauen und Männern in betrieblichen Systemen sozialer Sicherheit (1986)

Die Gleichbehandlung von Frauen und Männern wird mit dieser Richtlinie auch auf betriebliche soziale Leistungen ausgeweitet. Wie schon bei der dritten Richtlinie, können beispielsweise Teilzeitarbeitnehmerinnen aus diesem Programm herausfallen.

e) Gleichbehandlung von Frauen und Männern bei selbständiger Erwerbsarbeit (1986)

Selbständig erwerbstätige Frauen sollen mit Hilfe dieser Richtlinie unselbständig Erwerbstätigen im Sozialbereich gleichgestellt werden; dies gilt auch für Frauen, die im Landwirtschaftssektor arbeiten. Weiters enthält dieses Schriftstück Regelungen zum Mutterschutz. Susanne Schunter-Kleemann bezeichnet die Bestimmungen der 5. Richtlinie als „sehr schwach; sie lassen sich als eine Form von ´soft law´ an der Grenze zwischen Richtlinie und Empfehlung bewerten.“

f) Mutterschutz (1992)

Ein Mindestmaß von bezahltem Mutterschaftsurlaub von vierzehn Wochen sowie Verbesserungen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen sollen mit dieser Richtlinie erreicht werden.

g) Elternurlaub (1996)

Da vornehmlich Frauen mit Aufgaben von Kindererziehung und Haushaltsführung belastet sind, ist diese Richtlinie ein Versuch, die Entlastung von Frauen zu beschleunigen. Detaillierte Angaben über das Set der Maßnahmen, die dazu führen sollen, konnten nicht in Erfahrung gebracht werden; Helene Herda vertritt die Ansicht, daß dieser „Rahmenvereinbarung über Elternurlaub [...] eine wichtige Signalwirkung [zukommt]“. Zu hoffen bleibt, daß dem „Signal“ auch Taten folgen.

Zurück in die Aktenschränke!

Vorschläge zur Beschlußfassung von Richtlinien, die zum Thema Teilzeitarbeit, Umkehr der Beweislast und atypischen Beschäftigungsverhältnissen vorbereitet waren, scheiterten auf der Ebene des Ministerrats. In „Empfehlungen“ und „Mitteilungen“ wurden auf der Ebene der Vorberatung zwischen Kommission und Mitgliedsstaaten folgende Entwürfe abgeschwächt: Frauenarbeitslosigkeit, Gleichbehandlung in der Einkommensbesteuerung, Familienpolitik, Kinderbetreuung, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Auffällig freilich ist, daß diese genannten Verhinderungen bzw. Abschwächungen allesamt in den 80ern und 90ern von statten gingen. Auch Hörburger bestätigt die These vom „Backlash“:

In den 80ern ist die europäische Sozial- und Gleichstellungspolitik praktisch zum Stillstand gekommen. Die Gleichbehandlungsrichtlinien, die der Ministerrat in diesem Jahrzehnt noch verabschiedet hat, sind [...] im Grunde nur Ergänzungsrichtlinien zur Gleichbehandlung in den Systemen sozialer Sicherheit.

Die institutionelle Verankerung der Gleichstellungspolitik

Die EU-Gleichstellungspolitik erfährt auf mehreren institutionellen Ebenen eine Verankerung. In diesem Zusammenhang ist vor allem das Europäische Parlament zu nennen, mit dem ihm angeschlossenen Ständigen Ausschuß für die Rechte der Frau. Vor allem in den 80ern wurden von dieser Stelle aus wichtige Untersuchungen forciert, wie zum Beispiel zu den Themen Prostitution, Kinderbetreuung, Sextourismus, Abtreibungsproblematik, usw. In den meisten Fällen wurden vom Europäischen Parlament Entschließungen dazu verabschiedet, die sich jedoch als unzulängliches realpolitisches Instrument erweisen und bestenfalls als „symbolische Politik“ verstanden werden können, da ihnen die Rechtsverbindlichkeit fehlt.

Des weiteren ist im EU-Kommissariat für Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Ausbildung ein Referat für Chancengleichheit angesiedelt. Hierzu sei angemerkt, daß gerade auf Kommissionsebene die europäische Politik entwickelt und zukünftige politische Weichenstellungen entworfen werden. Daher vermissen Feministinnen gerade hier eine wirkungsvolle Institution, die etwa einem Frauenministerium entspricht. Auch die andere, bzw. ergänzende Möglichkeit der Einrichtung von Frauenangelegenheiten als „Querschnittsmaterie“ ist nicht realisiert: hierfür müßten alle Kommissariate mit Referaten für Chancengleichheit ausgestattet werden. Dies ist, wie vorhin angeführt, allerdings nur im Kommissariat für Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Ausbildung der Fall.

Neben diesen Einrichtungen befassen sich auch der Wirtschafts- und Sozialausschuß, der EU-Ministerrat, der Europäische Gerichtshof und der Europäische Sozialfonds fallweise mit Fragen der Gleichbehandlung. Weiters existieren informelle Gremien, die aber lediglich eine Beratungsfunktion auf Kommissionsebene einnehmen: Dazu gehören beispielsweise der Beratende Ausschuß für Frauenfragen, Expertenkreise für Chancengleichheit und Beobachtung der nationalen Familienpolitiken und die Europäische Frauenlobby.

Es ist also ersichtlich, daß die institutionelle Verankerung des Arbeitsfeldes „Diskriminierung von Frauen“ sehr eng — und keinesfalls die unterschiedlichen Lebensrealitäten von Frauen begreifend — gefaßt wurde; daher folgt notgedrungen ein eingeschränkter Diskriminierungsbegriff und eine beschränkte Wirksamkeit einer Politik, die Frauen lediglich als (Problem-)Gruppe am Arbeitsmarkt sieht und die Augen vor den Zusammenhängen von „Öffentlich und Privat“ verschließt.

Die Österreichische Frauenlobby: „Frau sein ist mehr“ — Aber was genau?

Die österreichische Sektion der Europäischen Frauenlobby, die Frauenorganisationen aus allen 15 Mitgliedsstaaten umfaßt, wurde 1995 von mehreren engagierten Frauen, ebenfalls als autonomer, überparteilicher und überkonfessioneller Zusammenschluß von österreichischen Initiativen gegründet. Als Frauenlobby wird versucht, als Interessensgruppe für EU-Frauen auf politische Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindungsprozesse einzuwirken und sie frauenfreundlich zu gestalten. Die Lobby fungiert hier als Bindeglied zwischen Frauenanliegen der Basis und den EU-Institutionen. Erklärte Ziele der Österreichischen Frauenlobby sind unter anderem die „Einbeziehung von Frauenförderung und Chancengleichheit als integrierenden Bestandteil aller Aktivitäten und Politiken der Europäischen Gemeinschaft“, Feminisierung der Sprache und die Gleichstellung von Männern und Frauen in allen Lebensbereichen. Da sie sich als „Vertreterin der EU-Bürgerinnen“ sieht, wünscht sich die Frauenlobby eine gesetzliche Verankerung des Anhörungsrechtes. Man sieht, wie dominierend die Forderung nach Gleichstellung auf allen gesellschaftlichen Ebenen ist. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Politik der EU wird hingegen kaum gesucht: Hierarchien und Ein- bzw. Ausschließungsmechanismen in Politik und Institutionen der EU werden nicht in Frage gestellt; die Frauen wünschen sich lediglich ein stärkeres Agieren von Frauen innerhalb der bestehenden Organisation. Die Frauenpolitik, die kaum feministische Inhalte hat, ist eine reformistische.

Wiederholt wird in den Publikationen von „den EU-Frauen“ gesprochen: Wer also sind diese? In der Masse der „EU-Frauen“ sind nämlich nicht alle „EU-Bürgerinnen“: Flüchtlingsfrauen, „illegalen“ Frauen, Asylbeantragenden und Fremdarbeiterinnen fehlt die Staatsbürgerinnenschaft einer EU-Nation und somit sind sie von vielerlei Freiheiten ausgeschlossen. Der „Newsletter“ der Österreichischen Frauenlobby läßt eine Kritik der restriktiven Festung Europa und der Vereinheitlichung der Fremden- und Asylgesetze, der Österreich mit der Unterzeichnung des Schengener Vertragswerkes zugestimmt hat, vermissen.

Feministische Kritik

Mit dem Aufbau des neuen Europa wird von vorneherein ein Widerspruch konstruiert, der sich auch für Europa selbst nachhaltig auswirken wird. Vor diesem Hintergrund ist die Demokratie, die von dem Prinzip der Gleichheit aller Menschen (Frauen und Männer) ausgeht, hier in Frage zu stellen. Denn diese Demokratie bezieht sich nur auf einen Teil der Bevölkerung, die als ´Bürger´ definiert werden, die anderen, die ´Fremden´ bleiben außen vor. Hier wird deutlich, daß die Demokratie in Europa nur eine geteilte Demokratie ist: Sie geht von Gleichheit nur eines Teils der Bevölkerung aus.

Vor diesem Hintergrund muß die Forderung der Österreichischen Frauenlobby nach mehr Partizipation der Bürgerinnen im gegebenen System problematisiert werden. Eine feministische Kritik darf sich nicht darin erschöpfen, lediglich Verbesserungen für privilegierte Frauen anzustreben, sondern muß vielmehr aktiv zur Kritik an den europäischen Ein- und Ausschließungsmechanismen jeglicher Art beitragen.

Seit dem Inkrafttreten des Europäischen Binnenmarktes 1993 und der Unterzeichnung des Schengener Abkommens von immer mehr europäischen Nationen ist es offensichtlich, mit welcher Vehemenz an der Konstruktion einer einheitlichen europäischen Identität gearbeitet wird, die sich zum westlichen Kulturkreis zugehörig fühlt, und deren Grenzen nicht nur geographisch, sondern vor allem entlang von Nation, „Rasse“ und Religion verlaufen. Nicht grundlos ist in Medien und Politik andauernd von „unüberbrückbaren kulturellen Differenzen“ und von den leidigen „religiösen FundamentalistInnen“ die Rede. Im Gegensatz dazu scheint die „westeuropäische Identität“ quasi neutral, ein weißes Blatt, zu sein, Träger der „kulturellen Differenz“ sind immer „die Anderen“. Im Klima der offensichtlichen Nutzung rassistischer und nationalistischer Diskurse durch die staatliche Politik sowie der selbstverständlichen Demontage feministischer Errungenschaften ist eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit und feministische Kritik am „Europäischen Konsens“ vonnöten. Die Forderung nach gleicher Bezahlung, gleichem Zugang zu Ressourcen und ähnlichem ist eine Sache. Doch einzig Stimmen zur realpolitischen Verbesserung der Lebenssituation von EU-Bürgerinnen zu finden, ist keinesfalls als ausreichend zu bewerten, thematisieren sie doch lediglich die Standpunkte von Frauen, die sich als rechtmäßigen Teil dieser „Gemeinschaft“ begreifen können, und lassen somit andere Erfahrungen und Unterdrückungsmomente unberücksichtigt. Soll die Kritik eine feministische sein, muß sie das Ansinnen nach Partizipation selbst problematisieren. Ein gleichzeitiger Blick über den Tellerrand Europas sowie langfristigere und grundlegendere Perspektiven sind unbedingt erforderlich.

Verwendete Literatur/ Zum Weiterlesen:

  • Biester, Elke u.a. (Hg.): Das unsichtbare Geschlecht der Europa: Der europäische Einigungsprozess aus feministischer Sicht, Frankfurt/ Main - New York 1994.
  • Brah, Avtar: Die Neugestaltung Europas. Geschlechtsspezifisch konstruierte Rassismen, Ethnizitäten und Nationalismen in Westeuropa heute, in: Fuchs, Brigitte u. Gabriele Habinger (Hg.): Rassismen & Feminismen: Differenzen, Machtverhältnisse und Solidarität zwischen Frauen, Wien 1996, S. 24-50.
  • Bundeskanzleramt, Staatssekretariat für Integration und Entwicklungszusammenarbeit (Hg.): Das Buch II, Wien 1993.
  • Bundesministerin für Frauenangelegenheiten und Verbraucherschutz (Hg.): Frauenratgeberin, 5. aktualisierte und überarbeitete Auflage, Wien 1997.
  • Bundeswirtschaftskammer: Soziale Dimension der EG unter Berücksichtigung des EWR, 3. Auflage, Wien 1993.
  • Bundeswirtschaftskammer: Institutionen. Europäische Gemeinschaft (EG), Europäische Freihandelszone (EFTA), Europäischer Wirtschaftsraum (EWR), 4. Auflage, Wien 1993.
  • Herda, Helene: Gleichberechtigung und Chancengleichheit in der EU, in: Floßmann, Ursula (Hg.): Recht, Geschlecht und Gerechtigkeit. Frauenforschung in der Rechtswissenschaft, Linz 1997, S. 63-93.
  • Hervé, Florence (Hg.): Frauenzimmer im Haus Europa, Köln 1991.
  • Hörburger, Hortense: Europas Frauen fordern mehr: Die soziale Dimension des EG-Binnenmarktes am Beispiel der spezifischen Auswirkungen für Frauen, 2. verbesserte und aktualisierte Auflage, Marburg 1991.
  • Kirschbaum, Rita-Maria: Frauen und EG-Recht, in: Aichhorn, Ulrike (Hg.): Frauen & Recht, Wien - New York 1997, S. 253-291.
  • Leupold-Löwenthal, Arlette: Frauenpolitik und Lobbyismus, in: Österreichische Frauenlobby (Hg.): Newsletter, Nr. 1, 1996, S. 13-15.
  • Österreichische Frauenlobby (Hg.): Newsletter, Nr. 1, 1996.
  • Österreichischer Frauenring (Hg.): Frauenförderung in der EU und in Österreich. Arbeitsmarkt und Qualifikation, Wien 1996.
  • Schunter-Kleemann, Susanne: Das Demokratiedefizit der Europäischen Union und die Frauenpolitik, in: Biester, Elke u.a. (Hg.): Das unsichtbare Geschlecht der Europa: Der europäische Einigungsprozess aus feministischer Sicht, Frankfurt/ Main - New York 1994, S. 20-38.
  • Uremovic, Olga: Über die Vision der Freiheit in Europa. Migration und Frauen-Bewegungen, in: Uremovic, Olga u. Gundula Oerter (Hg.): Frauen zwischen Grenzen: Rassismus und Nationalismus in der feministischen Diskussion, Frankfurt/ Main - New York 1994, S. 65-73.
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