FORVM, No. 205/206
Januar
1971

Uni schon kaputt?

Gespräch
In Ihrer Studie „Macht und Gewalt“ gehen Sie an mehreren Stellen auf die revolutionäre Studentenbewegung in den westlichen Ländern ein. Eines bieibt dabei unklar: Sehen Sie in der studentischen Protestbewegung überhaupt einen historisch positiven Vorgang?

Ich weiß nicht, was Sie mit „positiv“ meinen. Ich nehmen an, Sie meinen: bin ich dafür oder bin ich dagegen ... Gewisse Ziele der Bewegung, vor allem in Amerika, wo ich sie besser kenne als anderswo, habe ich begrüßt, anderen stehe ich neutral gegenüber, und gewisse halte ich für gefährlichen Unsinn — wie etwa die Politisierung und Umfunktionierung der Universitäten und ähnliche Dirge. Nicht aber das Mitbestimmungsrecht, das ich durchaus in gewissen Grenzen bejahe. Aber lassen wir das einmal im Moment beiseite.

Wenn man von allen national bedingten Unterschieden, die natürlich sehr groß sind, absieht, daß es sich hier um eine internationale Bewegung handelt — etwas, das es in dieser Form nie zuvor gegeben hat —, und wenn ich mir dann überlege, was eigentlich diese Generation in allen Ländern (abgesehen von Zielen, Meinungen, Doktrinen) von früheren Generationen unterscheidet, dann fällt mir als erstes die Entschlossenheit zum Handeln oder die Lust am Handeln auf, nämlich die Zuversicht, die Dinge aus eigener Kraft ändern zu können. Das äußert sich natürlich in den verschiedenen Ländern ganz verschieden, gemäß den jeweils verschiedenen politischen Verhältnissen und geschichtlichen Traditionen, was auch bedeutet: gemäß den national sehr unterschiedlichen Begabungen für Politik. Doch davon möchte ich erst einmal absehen.

Lassen Sie uns kurz den Anfängen dieser Bewegung nachgehen: Sie entstand in Amerika recht unerwartet in den fünfziger Jahren, also noch zur Zeit der sogenannten „silent gereration“, der apathischen, schweigenden Generation. Der unmittelbare Anlaß war die Bürgerrechtsbewegung im Süden des Landes, und die ersten, die sich ihr anschlossen, waren Studenten von Harvard, die dann Studenten der berühmten Universitäten des Ostens nachzogen. Sie sind nach dem Süden gegangen, haben sich glänzend organisiert und hatten eine Zeitlang ganz ungewöhnliche Erfolge, so lange nämlich, als es sich nur darum handelte, das Meinungsklima im Lande zu ändern — was ihnen entscheidend in sehr kurzer Zeit gelang — und bestimmte Gesetze und Verordnungen der Südstaaten abzuschaffen, mit einem Wort: solange es um rein legale politische Dinge ging. Dann sind sie auf die ungeheuren sozialen Nöte der Ghetti in den Städten im Norden gestoßen — und da sind sie gescheitert, da konnten sie nichts machen.

Erst später, nachdem sie das, was man durch rein politisches Handeln erreichen konnte, tatsächlich erreicht hatten, begann die Sache mit den Universitäten. Es fing in Berkeley an mit dem Free Speech Movement, und wieder waren die Erfolge ganz ungemein. Von diesen Anfängen und vor allem von diesen Erfolgen datiert alles, was bis heute um die Welt gelaufen ist.

In Amerika macht sich diese neue Zuversicht, daß man Dinge, die einem nicht gefallen, ändern kann, gerade in Kleinigkeiten bemerkbar. Typisch war z.B. eine vergleichsweise harmlose Konfrontation vor einigen Jahren: da streikten Studenten, als sie erfuhren, daß die unteren Angestellten der Universität nicht tarifmäßig bezahlt wurden — mit Erfolg. Es war im Grunde ein Akt der Solidarität mit „ihrer“ Universität gegen die gerade amtierende Administration. Oder: Sie wissen vielleicht, daß in Amerika kürzlich die Studenten von den Universitäten Urlaub verlangt haben, um an der Wahlkampagne teilnehmen zu können und daß eine ganze Reihe der größeren Universitäten ihnen diesen Urlaub zugebilligt hat. Das ist eine politische Tätigkeit außerhalb der Universität, die aber von der Universität ermöglicht wird, weil die Studenten auch Bürger sind. Dies halte ich für sehr positiv. Nun gibt es jedoch andere Dinge, die ich für viel weniger positiv halte, worauf wir noch zu sprechen kommen werden.

Grundsätzlich steht die Frage: Was ist eigentlich passiert? Wie ich es sehe, ist seit sehr langer Zeit zum ersten Mal eine spontane politische Bewegung entstanden, die nicht nur Propaganda treibt, sondern handelt, und zwar nahezu ausschließlich aus moralischen Motiven. Dadurch ist eine für unsere Zeit neue Erfahrung ins Spiel der Politik gekommen. Es stellte sich nämlich heraus, daß das Handeln Spaß macht: Diese Generation hat erfahren, was das 18. Jahrhundert „public happiness“, das Glück des Öffentlichen, genannt hat. Das heißt: daß sich dem Menschen, wenn er öffentlich handelt, eine bestimmte Dimension menschlicher Existenz erschließt, die ihm sonst verschlossen bleibt und die irgendwie zum vollgültigen „Glück“ gehört.

In allen diesen Dingen würde ich die Studentenbewegung außerordentlich positiv bewerten. Eine andere Frage ist ihre weitere Entwicklung, wie lange die sogenannten „positiven“ Faktoren vorhalten werden, ob sie nicht bereits im Begriff sind, sich aufzulösen, überspült zu werden von Fanatismus, Ideologien und oft ans Kriminelle grenzender Zerstörungswut — das weiß kein Mensch. Die guten Sachen in der Geschichte sind gewöhnlich von sehr kurzer Dauer, haben aber dann einen entscheidenden Einfluß auf das, was sehr viel später in langen Zeiten, die gar nicht sehr schön sind, geschieht. Denken Sie daran, wie kurz das wirklich klassische Zeitalter in Griechenland war und daß wir sozusagen noch heute davon zehren.

Ernst Bloch hat kürzlich im NEUEN FORVM (Okt./Nov. 1970) darauf hingewiesen, daß sich die studentische Protestbewegung ja nicht mit den bekannten Angriffszielen erschöpft, sondern daß in ihr Elemente des alten Naturrechts zu finden sind: „Männer, die sich nicht ducken, die nicht den Launen der Herren hofieren.“ Bloch meint nun, daß die Studenten „dieses andere subversive Element der Revolution“, das sich von bloßer schlechter ökonomischer Lage unterscheidet, wieder zum Bewußtsein gebracht und insofern einen wichtigen Beitrag „in der Geschichte der Revolutionen und wahrscheinlich zu der Struktur der kommenden Revolutionen“ geliefert haben. Was ist Ihre Ansicht?

Was Ernst Bloch Naturrecht nennt, meinte ich vorhin mit dem ausgesprochen moralischen Kolorit der Bewegung. Ich würde aber doch meinen — und in diesem Sinne nicht mit Bloch übereinstimmen —, daß etwas Ähnliches bei allen Revolutionären der Fall war. Wenn man sich die Geschichte der Revolutionen ansieht: es waren nie die Erniedrigten und Beleidigten selber, sondern diejenigen, die nicht erniedrigt und nicht beleidigt waren, es aber nicht ertragen konnten, daß andere es waren, die die Revolutionen geführt haben. Nur haben sie sich geniert, ihre moralischen Motive zuzugestehen — und diese Scham ist sehr alt. Ich möchte hier nicht historisch darauf eingehen, obwohl das ein sehr interessanter Aspekt ist. Aber vorhanden gewesen ist dieses Element immer, wenn es auch heute klarer zum Ausdruck kommt.

Was nun die Geschichte mit dem „Sichnichtducken“ betrifft, so spielt sie natürlich in Ländern wie Japan oder Deutschland, in denen das „Sichducken“ so furchtbare Ausmaße angenommen hatte, eine besonders graße Rolle, während sie in Amerika, wo ich mich nicht darauf besinne, daß ein Student sich je geduckt hätte, eigentlich ziemlich bedeutungslos ist. Ich erwähnte bereits, daß diese internationale Bewegung natürlich jeweils ein anderes nationales Kolorit zeigt, und daß dieses Kolorit, eben weil es eine Färbung ist, im einzelnen Fall das Auffallendste ist, so daß man schließlich leicht für entscheidend hält, was vor allem dem Außenstehenden unmittelbar in die Augen fällt und was eventuell gar nicht so entscheidend ist.

Zur Frage der „kommenden Revolution“, an die Ernst Bloch glaubt und von der ich nicht weiß, ob sie überhaupt kommen und schon gar nicht, welche Struktur sie haben wird, möchte ich bemerken: Es gibt natürlich eine ganze Reihe von Erscheinungen, von denen man ohne weiteres sagen kann, daß sie nach unseren Erfahrungen mit Revolutionen, die ja nicht sehr alt sind, sondern erst seit der französischen und amerikanischen Revolution datieren — vorher hat es keine Revolution gegeben —, zu den Vorbedingungen der Revolution gehören. Also: der drohende Zusammenbruch des Staatsapparates, seine Unterhöhlung, der Verlust des Vertrauens in die Regierung seitens des Volkes, das Versagen der öffentlichen Dienste und anderes mehr. Der Macht- und Autoritätsverlust in allen Großmächten ist augenscheinlich, trotz ungeheurer Akkumulation der Gewaltmittel in der öffentlichen Hand, von der er heute begleitet ist, und dieser Zuwachs an Gewaltmitteln kann den Machtverlust nicht kompensieren. Dennoch braucht diese Situation nicht zur Revolution zu führen. Sie kann erstens mit Konterrevolution, der Errichtung von Diktaturen enden, und sie kann zweitens ausgehen wie das Horneberger Schießen: es braucht zu überhaupt nichts zu führen. Kein Mensch weiß heute etwas von einer kommenden Revolution; das „Prinzip der Hoffnung“ gibt sicher keinerlei Garantie.

Für eine kommende Revolution fehlt vorläufig vor allem eine Grundvoraussetzung, die entscheidend ist: nämlich eine Gruppe wirklicher Revolutionäre. Gerade das, was die linken Studenten am liebsten sein wollen: Revolutionäre — gerade das sind sie nicht. Sie sind auch nicht revolutionär organisiert; sie haben keine Ahnung, was Macht bedeutet; und sie sind sicherlich die letzten, die, wenn die Macht auf der Straße liegt und sie wissen würden, daß sie dort liegt, auch bereit wären, sich zu bücken und sie aufzuheben. Genau das machen die Revolutionäre! Die Revolutionäre machen nicht die Revolution! Die Revolutionäre sind diejenigen, die wissen, wann die Macht auf der Straße liegt und wann sie sie aufheben können! Der bewaffnete Aufstand hat als solcher noch nie zu einer Revolution geführt.

Was eine Revolution immerhin noch vorbereiten kann, ist eine echte Analyse der jeweiligen Lage, wie sie früher üblich war. Zwar sind auch damals solche Analysen zumeist sehr unzulänglich gewesen, aber sie sind doch immerhin gemacht worden. In dieser Hinsicht sehe ich absolut niemanden weit und breit, der dazu imstande wäre. Die theoretische Sterilität dieser Bewegung ist ebenso auffallend und deprimierend, wie ihre Lust am Handeln zu begrüßen ist. In Deutschland ist die Bewegung auch in praktischen Dingen ziemlich hilflos — sie kann Radau machen, aber außer Sprechchören nichts organisieren; in Amerika, wo sie unter Umständen Hunderttausende auf die Beine bringt, um in Washington zu demonstrieren, ist sie in dieser Hinsicht, in der Begabung zum Handeln, großartig! Aber die theoretische Sterilität ist in beiden Lagern die gleiche — nur daß man in Deutschland, wo man so gerne theoretisch daherredet, mit veralteten, durchwegs aus dem 19. Jahrhundert stammenden Begriffen und Kategorien hausieren geht bzw. sie sich an den Kopf wirft, von denen keine modernen Verhältnissen entspricht. Das hat mit Nachdenken nichts zu tun.

Nun liegen die Dinge freilich anders in Südamerika und in Osteuropa, vor allem deshalb, weil dort sehr viel konkretere, praktische Erfahrungen vorhanden sind. Doch darauf hier einzugehen würde uns zu weit führen.

Ich möchte aber noch auf einen Punkt zu sprechen kommen, der mir bei Ernst Bloch und dem „Prinzip der Hoffnung“ eingefallen ist. Das Allerbedenklichste an den Bewegungen in Westeuropa und Amerika ist eine eigentümliche Verzweiflung, die in ihnen steckt, als ob sie schon wüßten, daß sie zusammengeschlagen werden. Und als ob sie sich sagten: Wir woilen es wenigstens provoziert haben, zusammengeschlagen zu werden! Wir wollen nicht auch noch unschuldig sein wie die Lämmer. Es ist etwas von Amoklaufen in diesen bombenwerfenden Kindern. Ich habe gelesen, daß die französischen Studenten in Nanterre bei den letzten Unruhen — nicht bei denen im Jahre 68, sondern jetzt — an die Wände geschrieben haben: „Ne gâchez pas votre pourriture“ (Verderbt euch nicht eure Verfaulung) ... Treibt es weiter, treibt es weiter. Das heißt, diese Vorstellung: es ist alles wert, daß es zugrunde geht — die ist da. Dieses Element der Verzweiflung ist überall da, weniger stark immerhin in Amerika, wo man vorläufig das Prinzip der Hoffnung nicht kennt — vielleicht weil man meint, es noch nicht so nötig zu haben.

Sehen Sie die studentische Protestbewegung in den Vereinigten Staaten als im Grunde gescheitert an?

Keineswegs. Dazu sind ihre bisherigen Erfolge zu groß. Ich erwähnte schon den Erfolg in der Negerfrage; der Erfolg in der Kriegsfrage ist noch größer. Es ist dieser Studentenbewegung wirklich geglückt, das Land zu spalten, mit einer Majorität oder jedenfalls mit einer sehr starken, sehr qualifizierten Minderheit gegen den Krieg. Sie könnte aber sehr schnell scheitern, wenn es ihr tatsächlich gelingen sollte, die Universitäten zu zerstören — und das halte ich für möglich. In Amerika besteht diese Gefahr vielleicht weniger als anderswo, weil sich die Studenten hier immer noch mehr an politischen und weniger an universitätsinternen Fragen orientieren, was zur Folge hat, daß ein Teil der Bevölkerung mit ihnen in wesentlichen Dingen solidarisch ist. Aber auch in Amerika ist es immerhin denkbar, daß die Universitäten zugrunde gehen, denn die ganze Sache fällt ja zusammen mit einer Krise in den Wissenschaften, im Wissenschaftsglauben und im Fortschrittsglauben, also mit einer internen, nicht nur politischen Krise der Universitäten.

Wenn es den Studenten gelingen sollte, die Universitäten zu zerstören, dann haben sie sich selbst ihre Operationsbasis zerstört — und zwar in allen betroffenen Ländern, in Amerika wie in Europa. Und eine andere Basis werden sie nicht finden, schon weil sie nirgendwoanders zusammenkommen können. Also: die Zerstörung der Universitäten, das wäre das Ende der gesamten Bewegung.

Aber weder das Ende des Erziehungssystems noch der Forschung. Beide können sich völlig anders organisieren, andere Formen und Institutionen für Berufsausbildung und Forschung sind durchaus denkbar. Aber Studenten wird es dann nicht mehr geben. Fragen wir doch einmal: Was ist das eigentlich, die studentische Freiheit? Die Universitäten ermöglichen es jungen Menschen, eine Reihe von Jahren außerhalb aller gesellschaftlichen Gruppen und Verpflichtungen zu stehen, wirklich frei zu sein. Wenn sie die Universitäten zerstören, dann wird es das nicht mehr geben, infolgedessen auch keine Rebellion gegen die Gesellschaft. Sie sind bestens dabei, sich den Ast abzusägen, auf dem sie sitzen. Das hängt wieder zusammen mit dem Amoklauf. Daran könnte die studentische Protestbewegung in der Tat nicht nur scheitern, was ihre Forderungen angeht, sondern zugrunde gehen.

Würde das auch auf die studentische Protestbewegung in Europa zutreffen?

Ja, das würde auf alle Bewegungen zutreffen. Wieder nicht so sehr auf die in den südamerikanischen und in den osteuropäischen Ländern, wo die Protestbewegung nicht unmittelbar auf die Universitäten angewiesen ist und wo sie große Teile der Bevölkerung hinter sich hat.

Das Gespräch wird fortgesetzt
(Copyright by Hannah Arendt, New York)

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