FORVM, No. 134
Februar
1965

Verschollene Faschingsnotizen von Karl Kraus

Mitgeteilt

Dem Wiener Buchhändler und Antiquar Dr. Hans Eberhard Goldschmidt verdanken wir die nachstehenden Kuriosa, für die wir uns keinen passenderen Erscheinungstermin wüßten als den jetzigen: der Fasching, in dem sie entstanden, liegt jetzt genau 70 Jahre zurück. Wir wollen den literarhistorischen Wert dieser kleinen Scherze — von denen einige im vollen Wortlaut (und selbstverständlich in der originalen Rechtschreibung) wiedergegeben sind — gewiß nicht überschätzen. Aber sie enthalten immerhin Symptomatisches: sowohl für die damalige Zeit als auch für die Art, wie der spätere Zeitkritiker in seinen Anfängen an sie heranging.

Unter alten Zeitungen, die mein im 91. Lebensjahr ver storbener Vater seit seiner Jugend sorgfältig aufbewahrt hatte, fand ich eine Publikation, für die das oft mißbrauchte Modewort „einmalig“ in jeder Hinsicht am Platz ist: „FIN DE SIÈCLE, INTERNATIONALES OFICIELL UNPARTEIISCHES FRACTIONS-ORGAN“, Verlag der Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens, datiert 4. März 1895. In dieser Faschingszeitung entdeckte ich nicht weniger als fünf Beiträge des damals zwanzigjährigen Karl Kraus. Die Überschriften: „Hermann Bahr“, „Kunstnachrichten“, „Kritik“, „Räthsel“ und „Allgemeiner Frage- und Beschwerdekasten“. Der erste Beitrag ist mit „K. Kraus“ gezeichnet, die übrigen bloß mit „K.“ — die Autorschaft ist jedenfalls unverkennbar.

Soviel ich weiß, findet sich dieses zwölfseitige „Fractions-Organ“ weder im Kraus-Archiv der Stadtbibliothek, noch wird es in einer der Kraus-Bibliographien angeführt. Es dürfte sich hier um die ersten satirischen Veröffentlichungen von Karl Kraus handeln, für die eine Faschingszeitung ja den geeigneten Rahmen bot — zum Unterschied von anderen Blättern, in denen er bereits Theater- und Literaturrezensionen veröffentlicht hatte.

Der erste Beitrag ist nicht etwa, wie die Überschrift vermuten ließe, ein Aufsatz über Hermann Bahr, sondern eine Parodie auf dessen Theaterkritiken. Anderthalb Jahre später hat Kraus diese Parodie unter Weglassung einiger Sätze in seine „Demolirte Litteratur“ aufgenommen, die 1896 in Fortsetzungen in der „Wiener Rundschau“ zu erscheinen begann und erst 1897 als eigene Broschüre herauskam.

In den „Kunstnachrichten“ heißt es unter anderm:

Vom „Club der Jungen“ hat sich eine Secession abgelöst, die unter dem Namen „Die Neugeborenen“ eine Separatausstellung veranstalten will; doch soll aus dieser Secession ein Mitglied schon wieder ausgesprungen sein, um sich als „Club der Ungeborenen“ zu constituieren.

Ferner wird eine „Studienreise“ vermeldet:

Unter der Führung des bekannten Schwarzkünstlers Ramaduri hat sich heute eine Expedition von Wiener Künstlern in den neu erbauten Sammelcanal begeben, um die dort liegenden Schätze von neuen Motiven zu heben und zu malen.

Die Rubrik „Kritik“ kündigt an:

Künftig soll jeder Schauspieler und jede Schauspielerin, jeder Sänger und jede Sängerin seinen oder ihren eigenen Kritiker haben. Und zwar immer einen, der mit der betreffenden Person verwandt ist. Wer könnte besser die Intentionen würdigen als ein Gatte, Vater, Bruder, Sohn oder Enkel?

Und sogleich folgt eine Musterrezension, in der Lilly Kiesewetter als Darstellerin der Gurli (in Kotzebues „Die Indianer in England“) von ihrem Enkel gewürdigt wird:

Man weiß, wie meine Großmutter derartige naive Mädchen zu spielen pflegt. Sie war auch gestern wieder reizend, einzig, unwiderstehlich, von hinreißender Jugendlichkeit und bezaubernder Frische. Und da gibt es Leute, welche verlangen, daß meine Großmutter ernste, gesetztere Liebhaberinnen spielen soll. Aber das Talent meiner Großmutter liegt auf der Sonnenseite des Lebens: ihrer unvergleichlichen Begabung gelingen am besten die übermüthigen Backfische und die verschüchterten Täubchen, die sich im tragischen Gewitter ängstlich ducken.
Das muß ich am besten wissen ...

Der „Allgemeine Frage- und Beschwerdekasten“ läßt manchmal schon die Diktion des künftigen „Fackel“-Herausgebers ahnen und steckt voll aktueller Anspielungen, die heute nicht ohne weiteres verständlich sind. Zwei Beispiele:

Major i.P. Wir haben uns thatsächlich geirrt. Das Ballet heißt nicht „Nur dumm Wien“, sondern „Rund um Wien“.

Museumsschülerin. Wir können Ihnen in dieser Beziehung das Buch „Moderne Kunst“ von Ranzerich Emroni (Emmerich Ranzoni, Kunstkritiker der Neuen Freien Presse) empfehlen. Es ist ein epochemachendes Werk, er hat es selbst gesagt.

In der „Fackel“ Nr. 838-844 hieß es dann 35 Jahre später (mit Berufung auf Offenbach) über Otto Bauer: „Der erste Taktiker seines Jahrhunderts! Er hat es mir selbst gesagt!“

Und da im FORVM schon einige Rätsel von Karl Kraus erschienen sind, mag hier zum Abschluß sein wahrscheinlich allererstes folgen, wie er es 1895 den Lesern des „Fin de Siècle“ aufgab:

Das Erste muß der Wiener sag’n,
Hat er vor was Respect;
Das Zweite ist ein kleines Ding,
Das man im Strumpf versteckt;
Als Drittes kommt ein Pärchen, das
Dem Haß sich stets gesellt;
Das Letzte war ein General,
Der nie den Feind verfehlt!
Das Ganze kam vom Isarstrand
Als höchste Neuigkeit,
Bewundert viel, belacht noch mehr,
Erregt’ es manchen Streit.
K.

Den General kennt man heute, wenn überhaupt, nur noch durch einen Wiener Straßennamen. Dafür hat das Pärchen, das sich dem Haß gesellt, erst Jahrzehnte später eine im Jahre 1895 ungeahnte und unvorstellbare Bedeutung erlangt. Und das Ganze ist noch keineswegs veraltet. Die Lösung lautet: Se — Zeh — SS — John = SECESSION.

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