FORVM, No. 226/227
Dezember
1972

Verzweifelte Schularchitekten

Da muß etwas geschehen: Die Schulreform läuft und der Schulbau hinkt nach. Zumindest auf diese Feststellung einigten sich Architekten, Pädagogen und Beamte der zuständigen Ministerien (für Bauten und Unterricht) auf Schulbauseminaren vergangener Jahre, zuletzt im April dieses Jahres im Österreichischen Bauzentrum. Es fehlt ein pädagogisch-didaktisches Konzept, das als Grundlage dienen könnte.

Unsicherheit nach allen Richtungen. „Wir bauen Schulen mit schlechtem Gewissen“ (Architekt Helmut Eisenmenger). Interdisziplinäre Teamarbeit existiert nur als Wunschvorstellung. Ein Weinheimer Modell (Modell einer Gesamtschule in Baden-Württemberg) ist in Österreich undenkbar. Abhängig von herrschenden Wettbewerbsregeln, zornig über die Borniertheit der Auftraggeber, haben die wenigen engagierten Schulplaner nur geringe Aussicht. Die Ergebnisse: ihrer Arbeit bleiben rein formal fortschrittlich, ästhetisch, systembeschönigend.

Der Schulraumnot hat das Unterrichtsministerium mit dem zehnjährigen Schulentwicklungsprogramm (1971-1980) den Kampf angesagt: 12,15 Milliarden Schilling für die dringlichsten Neu- und Ergänzungsbauten. Das Programm fördert insbesondere berufsbildende und ländliche Bildungseinrichtungen — ein Zuckerl für die Landbevölkerung zum Thema Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land. Außerdem will man eine allgemeine Erhöhung der Schülerzahlen an weiterführenden Schulen wegen des ständig steigenden Bedarfs der Wirtschaft an qualifizierten Arbeitskräften. Bis 1980 soll ein Drittel der Vierzehnjährigen weiterführende Schulen besuchen (1970: 17 Prozent).

Ergebnisse der bisher in traditionellen Altbauten ablaufenden Schulversuche sind erst in Jahren zu erwarten. Aber Neubauten müssen Tendenzen der Schulreform jetzt schon berücksichtigen, sonst werden künftige Entwicklungen von vornherein verbaut. Dennoch werden Schulen nach altem Schema in Auftrag gegeben (Wiener Gemeindeschulen der letzten Jahre): Gänge, Einheitsklassen, 15 bis 20 Bankpaare, davor Katheder und Tafel. Die Unterschiede zur Jahrhundertwende sind minimal und vor allem der Hygiene zuzuschreiben.

Nach der Schulreform wird die Einheitsklasse, außer in Grundschulen, eine untergeordnete Rolle spielen. Unterricht in Leistungsgruppen, Einzelarbeit, Vorlesungen für mehrere Klassen, audiovisuelle Lehrveranstaltungen — das erfordert bis zu 20 Prozent mehr und verschieden große Räume. In Oberstufen sollen durch das Departmentsystem Räume, Unterrichtsfächer und Lehrmittel besser koordiniert werden. Die Schüler wandern von einer Abteilung in die andere, Stammklassen existieren nicht mehr.

Altbauten müssen aber weiter benützt werden.

Information und Anregung holten sich Österreichs Progreßarchitekten in England und Schweden. Dort gibt es über Schul- und Schulbaureform jahrelange Erfahrungen. Allerdings gibt es dort auch ganz andere, freiere Unterrichtsformen.

Für österreichische Verhältnisse utopisch sind schwedische Großraumschulen. Klassenunterricht ist abgeschafft. In einer geräumigen Halle, durch halbhohe Garderobe- und Bücherkästen unterteilt, arbeiten die Schüler in kleinen Gruppen oder einzeln, altersmäßig gemischt, von mehreren Lehrern und Hilfskräften gemeinsam betreut. Die Kinder reden, gehen herum, wechseln je nach Interesse die Gruppen. Wird der Sessel zu unbequem, sitzen sie auf dem Boden. Sonderschüler sind einbezogen. Eltern können jederzeit am Schulbetrieb teilnehmen.

Der konstante Geräusch- und Bewegungspegel stört den Unterricht nicht, allerdings sind Teppichböden und andere schalldämpfende Materialien selbstverständlich.

Ist die Schule zugleich Wohnraum, verliert sie den Zwangscharakter einer Anstalt, die der Schüler nach abgessenen Pflichtstunden so rasch wie möglich verläßt.

Derartig „modernistische Verstiegenheiten“ — so Professor Rudolf Gönner, Vorstand des Pädagogischen Universitätsinstitutes Salzburg und Mitglied der Schulreformkommission — wagen Architekten hierzulande gar nicht anzubieten. Auch gemäßigte Vorschläge klingen den Schulträgern (Bund, Länder, Gemeinden) vielfach noch zu radikal. So fordern z.B. die Architekten größtmögliche Flexibilität von Bauteilen, gerade wegen der noch nicht abgeschlossenen Schulreform. Einzeine Bauteile sollen veränderbar, abtragbar, wieder aufbaufähig sein. Überdies wird die Rentabilität eines Baues erhöht, wenn Räume und Bauteile mehrfach und für verschiedene Zwecke genutzt werden.

Die Zurückhaltung begründet Bautenministerialrat Reysach: Flexibilität verursacht Mehrkosten. Die Architekten sind gegen das Kostenlimit: Soll sich im Schulbau die Wohnbaumisere der Nachkriegszeit wiederholen? Nicht irgendwelche, sondern gute Schulen müssen gebaut werden.

Unglaubhaft wird das Kostenkriterium durch die Erfahrung von Architekt Eisenmenger bei der Planung des Schulzentrums Traun. Von drei Varianten wird nun die am wenigsten vielfach nutzbare und zugleich teuerste gebaut. Aus den Entwürfen des Grazer Team A für ein neues Mädchengymnasium in Graz (das mit Einführung der Koedukation durch die nächste Novelle zum Schulorganisationsgesetz bereits veraltet sein wird) mußten fast alle variablen Alternativen gestrichen werden.

Der Bau dreier Modellschulen (Bundesschulen) in Völkermarkt, Imst und Wörgl ist Ergebnis eines Forschungsauftrages des Bautenministeriums. Die Rentabilität von Fertigbauteilen soll hier erprobt werden. Größtmögliche Flexibilität und Mehrfachnutzung sind dabei Grundgedanken. Was bei anderen Projekten das Etikett „Mehrkosten“ erhielt, soll nun optimale Wirtschaftlichkeit beweisen.

Müssen gute Schulen teuer sein (Traun: 55 Millionen Schilling)? Architekt Eisenmenger: „Nein. Aber traditionelle Vorstellungen über Material, Perfektionierung, Repräsentation sind noch nicht überwunden.“ Billigere Innenausstattung würde Kindern mehr Spaß machen, wenn sie Gegenstände tatsächlich gebrauchen und verbrauchen könnten. „Keimfrei und zweckmäßig, besonders für die Reinmachefrauen“, so sieht Architekt Wilhelm Reichel die derzeitige Materialwahl.

Architektur kann neue Unterrichtsformen anregen oder sogar erzwingen. Architekt Hufnagl: „Schulbau soll pädagogische Architektur sein.“ Er ist überzeugt, daß ihm die in der Hauptschule Weiz (Steiermark) gelungen ist. Transparente Wände sorgen für Offenheit und Intensivierung von Kontakten. Was im Lehrerzimmer getrieben wird, ist für Schüler kein Geheimnis mehr. Durch fahrbare Tafeln ist Frontalunterricht nicht mehr unbedingt notwendig. Konsequenz unter den Lehrern: einige beantragen Versetzung.

Die Schule soll auch Zentrum öffentlichen Lebens sein, nicht nur der isolierten Erziehungsfunktion dienen. Bibliothek und Sportanlagen müßten allgemein zugänglich sein. Abendkurse, Erwachsenenbildung, kulturelle Veranstaltungen und Feste sind einzubeziehen. Dazu braucht jede Schule ihre zentrale Pausen- und Mehrzweckhalle (in Weiz verwirklicht).

Jedoch bleibt die Frage nach der Funktion des neuen Schulbaues, angesichts der Widersprüche innerhalb der Schulreform. Im SPÖ-Konzept wird freizügig die Diskrepanz eingestanden zwischen den beiden Zielen der Schulreform: Demokratisierung und optimale Leistungsförderung, orientiert am Bedarf der Wirtschaft. Gleiche Bildungschancen werden durch Leistungsgruppen beeinträchtigt. In den besseren Leistungsgruppen werden „begabte“ Mittelschichtenkinder sitzen, mit besseren Lernvoraussetzungen von zu Hause her. Scheindemokratie um zu kaschieren, daß die Wirtschaft auch weiterhin Massen nichtqualifizierter Hilfsarbeiter benötigt, die nicht nur aus Gastarbeiterheeren rekrutiert werden können.

Lehrer Helmut Wallmann, Mitglied des Zentralvereins sozialistischerLehrer, über den Gesamtschulversuch in der Pastorstraße (Wien-Großfeldsiedlung): „Die leistungsbedingte Einordnung der Schüler in zwei Basisgruppen bringt eigentlich keinen Unterschied zu den herkömmlichen zwei Klassenzügen der Hauptschule. Denn ein Überwechseln findet faktisch kaum statt, es ist außerdem auch in der Hauptschule möglich. Nach dem ersten Versuchsjahr konnten nur zwei Schüler aus der zweiten in die erste Gruppe aufsteigen. Die Lehrer der Leistungsgruppen sind durch Organisation und Koordinierung des Lehrstoffs erheblich belastet. Unter diesem Zeitdruck fällt gerade die vielzitierte Individualisierung des Unterrichts wieder unter den Tisch. Persönliche Gespräche oder Diskussionen stören nur den geplanten Ablauf. Disziplinären Schwierigkeiten wird daher nach wie vor nur mit Druck begegnet. So führen z.B. Erwägungen einzelner Lehrer, Strafversetzungen in niedere Leistungsgruppen vorzunehmen, den Schulversuch ad absurdum.“

So wird Schulreform nur über neue Organisation des Schulwesens betrieben (Schulorganisationsgesetz). Auch ein seit Jahren vorbereitetes Schulunterrichtsgesetz zur „inneren Schulreform“ wird letztlich nur organisatorische Neuerungen regeln: Zeugniswesen, Dauer des Schulbesuchs, Verwendung bestimmter Schulbücher. Schüler werden mitbestimmen können, ob sie den Schulhof benützen dürfen oder nicht. Bildungsziele und -inhalte ändern sich nicht.

Solange sich hier nichts ändert, wird auch „pädagogische Architektur“ nur verzweifelter Versuch sein.

Somit ist den neuen Schulpalästen nur eine Funktion gewiß. Sie haben letztlich, wenn einmal in genügender Anzahl vorhanden, die Widersprüche der Schulreform zu glätten, indem sie durch technische Perfektionierung reibungslose Organisation gewährleisten.

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