FORVM, No. 89
Mai
1961

Vom Ungenügen des Dichters

Anmerkungen zur Todeserkenntnis im Werk Hermann Brochs

An der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts formulierte Arno Holz:

Man revolutioniert eine Kunst nur, indem man ihre Mittel revolutioniert, oder vielmehr, da ja auch die Mittel stets die gleichen bleiben, indem man ganz bescheiden ihre Handhabung revolutioniert.

Im großen Zusammenhang der damit umschriebenen Entwicklung steht auch das literarische Werk Hermann Brochs. Auch er ist mit dem Problem einer verbrauchten, unverbindlich gewordenen Sprache konfrontiert. Auch sein Werk stellt einen Versuch dar, in einer vom Zerfall der Werte bedrohten Zeit jene Krise der Kunst zu bewältigen, die den Verlust der überkommenen sprachlichen Mittel und der sozialen Position des Schriftstellers im Gefolge hatte. Diesem Prozeß, der — über Kant, Schopenhauer, Nietzsche — im Nominalismus des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts gipfelt, ist im sozialen Bereich eine Zersplitterung des gesellschaftlichen religiösen Gefüges zugeordnet, die seit der Zerstörung des mittelalterlichen Weltbildes nach und nach zum Subjektivismus der Moderne geführt hat.

Wie ein fernes Echo auf die Worte von Arno Holz mutet Brochs Überlegung an:

Die traditionelle Sprache wird ... zur neuen Sprache, wenn das Neue in die Spannung zwischen den Worten, in das Unausgesprochene und Unaussprechbare, in das Architektonische verlegt wird.

Ziel ist zunächst, die moderne, vieldimensional gewordene Wirklichkeit auf dem Weg eines bewußten Funktionalismus der Sprache differenziert und exakt wiederzugeben. Mit diesen allgemeinen Voraussetzungen beschäftigen sich bereits die frühen theoretischen Äußerungen Brochs, seine Aufsätze über Kant, den Naturalismus Zolas und das „L’art pour l’art“-Problem. Das erste künstlerische Dokument dieser Auseinandersetzung sind die „Schlafwandler“, die sogleich einen endgültigen formalen Abschluß der ersten Phase darstellen. Wie auf einer algebraischen Formel basieren sie auf der Erkenntnis, daß die Relativierung der Bezüge — eine Konsequenz des Wertzerfalls — künstlerisch nur bewältigt werden kann, wenn das Darstellungsmittel in das Darstellungsobjekt hineinverlegt wird. Das heißt: die „Schlafwandler“-Trilogie ist so konzipiert, daß die Epoche sich in ihrer eigenen Sprache, in ihrem eigenen Stil sozusagen selbst darstellt. Schon die „verhältnismäßig harmlose Erzählweise“ des ersten Bandes strebt auf jenen perspektivischen Fluchtpunkt zu, den die wachsende Kontrastierung von traumhaften und rationalen Elementen im zweiten Band noch deutlicher ahnen läßt, bis er schließlich in den essayistischen Exkursen des dritten Bandes klar hervortritt und die Konzeption des Gesamtwerkes bewußt bloßlegt:

Wenn es Stil gibt, dann sind alle Lebensäußerungen von ihm durchdrungen, dann ist der Stil einer Periode ebensowohl in ihrem Denken vorhanden, als in jeder Handlung, die von den Menschen dieser Periode gesetzt wird.

Künstlerische Gegenmaßnahme zu der unser Jahrhundert bestimmenden Sprachrelativierung ist also die Zuordnung von Sprache und Sprachgegenstand. Nicht von ungefähr hatte sich bereits in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts als besondere Spielart der Kopplung von Sprache und Sprachgegenstand die Form des sogenannten Monolog-Romans entwickelt, auf die Broch in seiner zweiten Schaffensperiode, der des „Vergil“, noch nachhaltiger zurückgreift als in den „Schlafwandlern“, deren dritter Band sich aus einem Mosaik verschiedener personell bezogener Sprachinseln zusammenfügt, aus Selbstaussagen von Figuren, die von den lyrischen Strophen des Heilsarmeemädchens bis zu erkenntnistheoretischen Untersuchungen reichen und die alle zusammen den Stil der Epoche repräsentieren.

Die den „Schlafwandlern“ unmittelbar folgenden literarischen Versuche Brochs, besonders das Drama „Entsühnung“ und der Roman „Die unbekannte Größe“ (1933), bekunden zunächst eine gewisse artistische Stagnation. Allerdings wird, von ihnen aus betrachtet, im Gebäude der „Schlafwandler“ ein existentieller Kern sichtbar, so daß sie zumindest als gedankliche Investition ihre Berechtigung haben; sie sind Ausschachtungsarbeiten für den „Tod des Vergil“.

Schon in der Urfassung dieses Romans — einer Radiokurzgeschichte „Die Heimkehr des Vergil“ (1935) — geht es um das Todesproblem, angesichts dessen das Sprechen zum Monolog wird: „Vergil aber“ — so heißt es dort — „geschlossenen Auges sprach weiter (auf dem Sterbebett), und er sprach nicht mehr für den Mäcenas, er sprach für sich.“ An die Stelle der sprachlichen Selbstaussage der Epoche tritt die monologische Selbstaussage der Hauptfigur, und diese Figur wird ihrerseits zum Schnittpunkt einer ganzen Epoche. Um sie, und vorwiegend in ihr, begibt sich die Problematik der Zeit (keineswegs primär des augustäischen Zeitalters, sondern zunächst und vor allem der Gegenwart, zugespitzt auf die Frage nach der „Literatur am Ende einer Kultur“, wie die der Urfassung vorausgehende theoretische Erwägung Brochs lautete). Das Problem des Todes — ich spreche im folgenden bereits von der symphonischen Ausformung des „Vergil“-Romans —- erscheint in mehreren, sich immer wieder gegenseitig reflektierenden Spiegelflächen gebrochen. Um nur die hervorstechendsten Projektionen zu nennen: dem physischen Tod ist der intellektuelle, künstlerische und ethische Tod Vergils zugeordnet, der Verlust jeder Ewigkeit; zum persönlichen Sterben gehört das Sterben einer Epoche; zur Bedrohung des Menschen durch den irdischen Tod gehört die Bedrohung des Werks durch den geistigen, geschichtlichen Tod, die Gefahr seines Verstummens, seines Erlöschens im Monolog.

Mit dieser auf verschiedenen Ebenen durchgeführten Todesthematik, deren Mitte aber immer die „Imagination des eigenen Sterbens“ bleibt, stößt Broch mit absoluter Sicherheit aus den zeitlichen Gegebenheiten — dem Verschleiß der Sprache im zwanzigsten Jahrhundert, dem Verlust der sozialen Position des Dichters — in das Zentrum des Unaussprechbaren. Das Unaussprechbare wird zum Thema seiner Dichtung: eine Aporie, an der er Zeit seines Lebens gelitten hat, der er seine Werke abrang, die ihn zur Absage an seinen Dichterberuf führte und die ihn mit der ganzen Skepsis seiner späten Jahre an der Legitimität der Kunst in unserer Zeit zweifeln ließ — da das Schöne (wie es im Hofmannsthal-Essay heißt) „nie und nimmer zu einem Absolutum erhebbar ist und daher erkenntnisstumm bleiben muß“. Ansätze zu dieser weitreichenden, tatsächlich dem gesamten Werk Hermann Brochs innewohnenden Idee zeigen schon die Selbstgespräche Eschs in den „Schlafwandlern“, die Reflexionen Wilhelms in der „Unbekannten Größe“ und die Todesmonologe in der „Entsühnung“. Mit frappierender Eindeutigkeit umlagern sie immer den gleichen existentiellen und thematischen Kern: den Tod, den Broch später als den „Schrittmacher jeder metaphysischen Erkenntnis“ bezeichnet und von dem an anderer Stelle gesagt wird: „Alle wahrhafte Dichtung bemüht sich um den Tod.“

Der Tod markiert eine Grenzposition der menschlichen Existenz, aus der sich für Broch alle philosophischen, erkenntnistheoretischen, ethischen und politischen Bezüge ergeben. Der Tod als der Unwert an sich wird zum wertsetzenden Moment. Als Schlüsselposition jeder menschlichen Erfahrung ergibt sich aus der Bewältigung des Todes auf paradox-antithetische Art letztlich die Bewältigung des Lebens. Die dem Tod inhärente Antithetik soll hier nur an einigen Schnittpunkten deutlich gemacht werden: Tod und Todesangst stürzen den Menschen in die äußerste Isolation des Ich. Todesüberwindung aber ist Ich-Entäußerung und Vereinigung mit dem All, ist Aufhebung der Person und der Zeit. Der Tod bedeutet zwar absolute Vergänglichkeit und Chaos — dennoch manifestiert sich von ihm aus jede Ordnung, jede Erkenntnis; Erkenntnis aber ist Todesüberwindung. Der Tod setzt nicht zuletzt ethische Werte und enthüllt so die Unzulänglichkeit des rein Ästhetischen, die „Hölle des l’art pour l’art“ und deren Vergänglichkeit. Er führt zu der im Ur-Vergil ausgesprochenen Erkenntnis, daß in jeder Dichtung „etwas Verborgenes wohne, was mit eigentlicher Schönheit wenig zu tun“ habe, nämlich das Ethische, die „Reinheit des Herzens“.

„Der Tod des Vergil““ ist als monologische Selbstaussage des Protagonisten geschrieben, in einer Sprache, die sowohl ihm (dem Dichter Vergil) gemäß ist, als auch seinem Zustand (dem Ende seines Lebens), als auch dem Zustand seiner Epoche (die Brochs eigener parallel gesetzt wird). Der Roman beginnt in einem Augenblick, da Vergil den Tod nahen fühlt und die Geräusche des Lebens, der Menschen aus großer Ferne zu ihm dringen. Er selbst ist allein; jede Hoffnung, jede Erwartung erstirbt. Die Todesangst wirft — wie die sinkende Nacht über der Bucht — ihre Schatten voraus. Unendliche Verlorenheit ergreift Besitz von ihm. Wie ein leichtes Schaukeln der Wellen, ein sachtes Hin- und Zurückfluten klingen die ersten Zeilen des Romans: „Stahlblau und leicht, getrieben von einem leisen, kaum merklichen Gegenwind, waren die Wellen des adriatischen Meeres dem kaiserlichen Geschwader entgegengeströmt ...“ — eine Grundbewegung, die das Schaukeln des Todesnachens symbolisiert und sowohl in die Zitate aus Äneis und Bucolica wie in den Daktylenrhythmus der Elegien hinüberreicht, in die lyrischen Höhepunkte des Todesmonologs. Die von Broch gewählte Monologform ist bezeichnenderweise eine der dritten Person. Sie birgt, wie Erich Kahler gezeigt hat, die Möglichkeit zur Auflösung der Persönlichkeitskonturen, zum Übergang vom „er“ zum „es“. Nur an einer einzigen Stelle im zweiten Teil des Romans, dem „Abstieg“ Vergils, dem Augenblick seiner extremsten Isolation, schlägt der Monolog in die erste Person um. So wird die Überwindung des Ich und seiner Zeitlichkeit, seine Vereinigung mit dem All vorbereitet. Als reines Geschehen spielt sich diese Entzeitlichung dergestalt ab, daß Vergil am Ende des Romans in eine Sternenexistenz hinübergleitet und auf dem Weg zu ihr, im Laufe fortschreitender Entpersönlichung, alle Phasen der Schöpfung in umgekehrter Folge noch einmal durchlebt. Musikalisch gesehen ist das ein exakt kodaförmiger Schluß: der Landung Vergils im Hafen Brundisium entspricht in vollkommener Symmetrie Vergils Ausfahrt auf dem Todesnachen. Und als musikalisch im engeren Sinne erweist sich die ganze Architektonik des Romans: mit Hilfe der vielfältig gehandhabten Leitmotivtechnik wird innerhalb jedes Satzes, jedes Abschnittes und jedes Kapitels eine kreisförmige Grundfigur beschrieben, variiert, neu angedeutet und wiederholt. Der dadurch erzielte Zusammenklang verwandelt das Nacheinander der Sprache in ein Nebeneinander; die zeitliche Folge wird umgeformt in eine Kategorie des Raumes und wird Simultaneität. In ihr glaubte Broch formal die Zeitlosigkeit ausgedrückt zu haben, zu der Vergil schließlich gelangt.

Von welcher Darstellungsschicht man auch ausgeht, von welcher Stelle man in das komplizierte Gewebe der Romanstruktur eindringt — jede Verzweigung, jede der vielen Verklammerungen mündet in den Grundplan des Romans und seine fundamentale Aussage von Todeserkenntnis und Todesüberwindung.

Aus der Todeserkenntnis ergibt sich für Broch ein Ordnungsprinzip, das jeder Einzelerkenntnis ihren Stellenwert innerhalb des Ganzen zuweist — sowohl in der Gestaltung des Romans wie in der Wertetheorie überhaupt. Von einer solchen Orientierung, die im „Vergil“ besonders klar ersichtlich wird, erhofft sich Broch die Neuordnung der Welt. Er beschränkt sich nicht darauf, ein Kunstwerk zu schaffen, das ästhetischen Gesichtspunkten genügt, etwa einer in sich schlüssigen Form. Er beschränkt sich auch nicht — wie dies gelegentlich verstanden wird — auf eine Absage an die Dichtung. Vielmehr stellt er die Dichtung in Frage, indem er sie auf ihren Wert und Sinn angesichts des Todes prüft. Wenn der „Vergil“ eine Dichtung gegen die Dichtung wäre, dann hätte sie mit der Verbrennung der Äneis ihr Bewenden. So aber wird, aus dem allgemeinen Werte-Chaos heraus, eine Neufundierung der Werte angedeutet und die Utopie einer Ordnung erstellt, die in der künstlerischen Gestalt der „Vergil“-Dichtung bereits Wirklichkeit geworden ist. Damit findet eine Ansiedelung der Dichtung in der Realität statt, in der das Schöne zwar als Luxus, vielleicht auch als „Erlösung“ angesehen werden kann, in der jedoch Erkenntnis — und vermutlich auch dichterische Erkenntnis — das bleibt, wovon wir die Rettung der Welt erhoffen.

Hier liegt Brochs Antwort auf die Sprach- und Dichtungskrise unserer Zeit. Dichtung ist für ihn ebensowenig wie für Joyce oder Benn, die großen Exponenten der monologischen Tendenz in der modernen Literatur, kommunikativ. Sie greift über das Ästhetische hinaus, da ihr die Aufgabe zugewiesen wird, Erkenntnissuche zu sein, wie Wissenschaft und Religion in ihren Bereichen. Sie rückt in einen ethischen Zusammenhang, dem Hermann Broch seine Sonderstellung in der Dichtungstheorie unserer Zeit verdankt. Zwar hat er lebenslänglich am Primat des Erkennens und Handelns festgehalten, doch will uns scheinen, als habe sich auch sein Dichten — ihm selbst kaum bewußt — in ethisches Tun verwandelt. Auch „der Akt des Wortes“, begründet Yves Bonnefoy einmal, „wird in derselben Dauer stattgefunden haben wie unsere anderen Handlungen“.

Das Werk Hermann Brochs — mag es von der Vereinsamung des Dichters in unserer Zeit noch so sehr bedroht sein, mag es das Monologische nur überwunden haben, um sich der Gefahr eines esoterischen Altersstils auszusetzen — gleicht in seinem Erkenntnisstreben einem Streifen Landes, der dem Meer abgetrotzt wurde und dessen Wertbestand keine Flut mehr gefährden kann.

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