FORVM, No. 121
Januar
1964

Von der k. u. k. Sozialdemokratie

Der junge Historiker Dr. Hans Mommsen, welcher im FORVM bereits mit einem Essay über Victor Adler zu Wort gekommen ist („Die Wandlung Victor Adlers“, Heft VII/78 und 79-80), wäre nach amerikanischem Brauch mit der Ziffer III zu kennzeichnen. Sein Vater, der Historiker Wilhelm Mommsen (II), lehrte an der Universität Marburg, sein Urgroßvater, der Historiker Theodor Mommsen (I), bedarf keiner sonstigen Kennzeichnung. Der nachstehende Text ist, mit freundlicher Genehmigung des Europa Verlages (Wien), ein Vorabdruck aus dem dort demnächst erscheinenden Werk Hans Mommsens „Die soziale Demokratie und die Nationalitätenfrage im Habsburgischen Vielvölkerstaat“, ein fast 500 Seiten starker erster Band, der die Zeit von 1867 bis 1907 umfaßt; ein zweiter, abschließender Band soll die Jahre bis 1918 behandeln.

Die Sozialdemokratie entschied sich mit dem Brünner Programm, eine Lösung der sozialen Frage im Rahmen des österreichischen Staates zu suchen. Das lag gewiß im Interesse des Deutschtums, das schon aus außenpolitischen Gründen den Versuch machen mußte, seinen politischen Einfluß im Donauraum aufrechtzuerhalten. Aber das entsprach auch den Interessen der nichtdeutschen Arbeiterschaft, insbesondere der tschechischen, die in hohem Maße an dem wirtschaftlichen Aufstieg, den die Gesamtmonarchie in diesen Jahren nahm, profitierte. Die österreichische Sozialdemokratie lehnte es mit guten Gründen ab, das Selbstbestimmungsrecht bis zur Lostrennung auf ihre Fahnen zu schreiben; dies hätte nicht nur die Dynamik der nationalen Kämpfe ungeheuer verschärft und den Zusammenbruch der sozialistischen Internationale nach sich gezogen, sondern auch — ganz abgesehen davon, daß die Partei die Verwirklichung der Selbstbestimmung selbst bei veränderten Machtverhältnissen für ausgeschlossen hielt — der sozialdemokratischen Gesamtpartei den politischen Einfluß im Staate genommen, den sie gerade durch ihre internationale Politik trotz ihrer geringen zahlenmäßigen Stärke hatte erwerben können.

Das Brünner Nationalitätenprogramm, das ausdrücklich die arbeitenden Klassen als „die den Staat und die Gesellschaft erhaltenden Elemente“ bezeichnete, stellte die positive Seite zur bisher bloß defensiven „staatserhaltenden“ Politik dar. Es brachte die endgültige Hinwendung der Sozialdemokratie zum modernen parlamentarischen Staatsgedanken; es gab nicht nur den Zusammenhang zwischen nationaler und sozialer Revolution vollständig preis, sondern vertagte auch den sozialistischen „Umsturz“ bis zur Entstehung eines modernen kapitalistischen Staatswesens in Österreich. Es war ein revisionistisches Reformprogramm, das die Lösung der sozialen Fragen wesentlich von demokratischen Reformen und vom parlamentarischen, nicht vom revolutionären Sieg des Sozialismus abhängig machte. Die darin ausgedrückte „staatserhaltende“ Politik war sicher an Bedingungen geknüpft, und wenn sie nie auf die Probe gestellt wurde, so ist dafür ein gut Teil Schuld bei den österreichischen Regierungen zu suchen, deren Furcht vor der „Umsturzpartei“ den Entschluß zu rechtzeitiger demokratischer Reform verhinderte.

Inhaltlich spiegelt es den Prozeß wider, der die Sozialdemokratie auf die Seite der staatserhaltenden Kräfte rückte, als der integrale Nationalismus die Klassengegensätze zu überlagern begann. Mit dem Brünner Programm entstand jener immer wieder erschütterte und doch immer wieder überlebende Glaube an ein sozialistisches, national befriedetes Österreich, den Victor Adler 1908 in seiner Rede „Für die Nationen! Wider die nationalistischen Hetzer!“ in die Worte kleidete: „Wir aber, meine Herren, wir Sozialdemokraten, umfehdet von Ihnen allen, denen in allen Sprachen der Monarchie geflucht wird, wir Sozialdemokraten, die Landes- und Volksverräter geheißen werden in allen Sprachen der Monarchie, wir Sozialdemokraten, wir sagen Ihnen: Wir stehen geschlossen trotz alledem und wir wissen: Österreich lebt in uns allein, wenn es leben kann! In unserem Lager allein ist heute Österreich, wenn es leben kann!“

Mit dem Brünner Nationalitätenprogramm hatte die Sozialdemokratie ihre Bereitschaft kundgetan, an einer national-föderativen Umgestaltung Österreichs unter Bewahrung der konstitutionellen Formen loyal mitzuarbeiten. Gewiß steckte die Brünner Resolution nur den äußeren Rahmen für eine künftige nationale Reformpolitik ab, und auch für die Mehrheit der sozialdemokratischen Delegierten erschien in Brünn ihre Durchführung innerhalb absehbarer Zeit als unwahrscheinlich. Aber die Partei war mit Recht davon überzeugt, daß die Entwicklung zur nationalen Autonomie nicht aufzuhalten sei und daß der Weg dazu entweder über eine grundlegende Reform des habsburgischen Staates oder aber über seine Trümmer hinweg führen werde: „Österreich wird sein ein Bund freier Völker, oder es wird nicht sein!“

„Zerfressender Pessimismus“

Es bestanden jedoch nur geringe Aussichten, daß sich ein österreichischer Staatsmann dazu entschließen würde, die politische Kraft der Sozialdemokratie für eine mutige nationale Reformpolitik zu benützen. Ebenso wie die österreichische Öffentlichkeit beachteten die Regierung und die Verwaltung die Brünner Debatten kaum und schenkten dem sozialdemokratischen Nationalitätenprogramm nur untergeordnetes Interesse. Sieghart hat das Desinteressement der österreichischen Öffentlichkeit an den nationalitätenpolitischen Vorschlägen der Sozialdemokratie auf den „alles zerfressenden Pessimismus, der an Österreich-Ungarns Bestandsfähigkeit nagte“, zurückgeführt.

Der innere Niedergang des zisleithanischen Staates mußte auf die Dauer auch die internationale Zusammenarbeit des Proletariats beeinträchtigen. Die sozialdemokratische Gesamtpartei hatte in dem Jahrzehnt vom Hainfelder Parteitag bis zu den Brünner Debatten einen erstaunlichen Aufstieg genommen. Ihr Organisationsnetz erfaßte nun alle zisleithanischen Nationalitäten; die Parteipresse hatte ihre Auflagen gewaltig erhöht; das Zentralorgan, die „Arbeiter-Zeitung“, besaß einen nicht geringen Einfluß auf den Gang der österreichischen Politik und fand auch in bürgerlichen Kreisen Beachtung. Das Ansehen der Partei, die nach außen hin die nationalen Reibungen überwunden zu haben schien, war größer, als es ihrer realen Stärke entsprach.

Dieses äußerlich günstige Bild wurde jedoch durch die fortdauernde Staatskrise und die Unmöglichkeit politisch konstruktiver Arbeit getrübt. Im Zusammenhang mit dem allgemeinen politischen Degenerationsprozeß, der trotz dem wirtschaftlichen Aufschwung in der Ära Körber rasch fortschritt, trat die sozialdemokratische Partei in eine Phase organisatorischer und politischer Stagnation. Die politisch unfruchtbaren Verhältnisse in Österreich verschärften die innere Krise, die auf das starke Wachstum im vergangenen Jahrzehnt naturgemäß folgte. „Wir haben ein schweres Los, daß wir hier proletarische Politik machen müssen“, erklärte Victor Adler in seiner Rede zur Marx-Gedächtnisfeier von 1903. „Wir haben das traurige Schicksal, daß die Arbeiterschaft dieses Staates weiter entwickelt ist als die politischen Verhältnisse dieses Staates, ja, daß sogar die wirtschaftlichen Verhältnisse weiter Strecken dieses Staates zurückgeblieben sind hinter der Entwicklung der Arbeiterklasse in den vorgeschritteneren Teilen des Reiches.“

Die wiederholten Äußerungen Adlers, man kämpfe erst um den Boden, von dem aus man eine entschiedene Klassenpolitik des Proletariats treiben könne, weisen auf das ursprüngliche Dilemma der sozialdemokratischen Politik im österreichischen Vielvölkerstaat: sie mußte mit ihren Forderungen vielfach in einen „luftleeren Raum“ vorstoßen, weil die Entwicklung zum modernen Verwaltungsstaat auf halbem Wege steckengeblieben war.

Der Regierungsantritt Körbers, der zu den fähigsten Staatsmännern gehört, die das alte Österreich hervorgebracht hat, erfüllte die Sozialdemokratie mit optimistischen Erwartungen. Daher konnte der neue Ministerpräsident bei dem Versuch, zu verfassungsmäßigen Zuständen zurückzukehren und die Arbeitsfähigkeit des Abgeordnetenhauses wiederherzustellen, der Sympathie der Arbeiterschaft gewiß sein, zumal er ihr auf sozialpolitischem Gebiet, vor allem in der Frage der Arbeitszeit im Bergbau, und durch eine lockere Handhabung der Vereins- und Pressegesetze sowie der Einstellung der politischen Verfolgungen entgegenkam. Die sozialdemokratische Parteiführung wußte, daß Körber mit dem Gedanken einer umfassenden Wahlrechtserweiterung spielte und eine grundlegende Verwaltungsreform anstrebte, die wichtige Voraussetzungen für die Durchführung der nationalen Autonomie geschaffen hätte.

Auch die Absicht Körbers, die wirtschaftlichen Fragen gegenüber den nationalen Problemen in den Vordergrund zu rücken, lag auf der Linie der sozialdemokratischen Politik. Weiter sah es zunächst danach aus, als würde sich Körber in den böhmischen Ausgleichsverhandlungen durchsetzen und wenigstens eine partielle Beilegung der nationalen Konflikte auf dem Gebiet der Amtssprachenfrage erreichen. Die sozialdemokratische Partei war daher anfänglich bereit, Körber maßvoll zu unterstützen, obwohl das ihre internationale Stellung bei der allgemeinen Opposition gegen das deutsche Kabinett erschweren mußte. Ihre Fraktion nahm den Vorwurf auf sich, eine „revolutionäre Schutztruppe des Herrn von Körber“ zu sein.

Die Hoffnungen, die die Partei auf das Beamtenkabinett Körber gesetzt hatte, wurden jedoch rasch enttäuscht. Die Bemühungen des Ministerpräsidenten, das Parlament zu positiver Arbeit zu veranlassen, scheiterten an der Obstruktion der tschechischen Parteien, die Rache für die Aufhebung der Badenischen Sprachenverordnungen zu nehmen sich anschickten. Körbers Politik in der böhmischen Frage, an die Stelle der bisherigen wechselseitigen nationalen Konzessionen auf dem Verordnungswege Vereinbarungen über eine gesetzliche Regelung der Sprachenfragen zwischen den streitenden Parteien zu setzen, war im Ansatz richtig. Sie mußte gleichwohl von vornherein ergebnislos bleiben, weil Körber nur zu halben Maßnahmen bereit war.

Vormarsch des Chauvinismus

Die Neuwahlen nach der Auflösung des Reichsrates im September 1900 brachten den chauvinistischen Gruppen beträchtliche Erfolge, während die Sozialdemokratie aus ihnen mit einer empfindlichen Niederlage hervorging. Sie hatte den Wahlkampf sorgfältig vorbereitet und führte ihn mit der Forderung des „Neubaues Österreichs von Grund auf“ und des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes. Sie verlor sechs von ihren sieben böhmischen Mandaten und war nur in Reichenberg erfolgreich; sie beklagte weiter den Verlust des Lemberger, des Olmützer, des Grazer und des ruthenischen Mandats. Dagegen behauptete sie sich zum erstenmal erfolgreich gegen die Christlichsozialen und gewann zwei Wiener und zwei weitere niederösterreichische Mandate, ferner ein schlesisches. Der sozialdemokratische Abgeordnetenverband zählte jetzt nur noch zehn Mitglieder. Über diese Niederlage konnte auch die Tatsache nicht hinwegtrösten, daß man der Zahl der abgegebenen Stimmen nach die stärkste Partei in Österreich war. Hugo Heller sprach gegenüber Kautsky von einer „Katastrophe des Wahlausganges“.

Trotz den deprimierenden Ergebnissen der Reichsratswahlen strebte die Parteiführung eine praktische Reformpolitik an, zumal es Körber zu gelingen schien, die Arbeitsfähigkeit des Reichsrats wiederherzustellen und die Partei an den sozialpolitischen Vorlagen der Regierung lebhaft interessiert war. Die Rückkehr des Parlaments zu geordneten Verhandlungen veranlaßte Adler, auf die bisherigen außerparlamentarischen Aktionen zu verzichten. „Es ist selbstverständlich“, hieß es im Bericht der Gesamtparteivertretung an den Wiener Gesamtparteitag von 1901, „daß, seit wir Abgeordnete haben, die parlamentarische Arbeit stark in den Vordergrund tritt und der Fraktion die Aufgabe vornehmlich zugefallen ist, der bis dahin mit außerparlamentarischen Kundgebungen genügt worden ist.“

Die Hinwendung der Partei zur parlamentarischen Konzeption wurde dadurch gefördert, daß sie nun einen wachsenden Einfluß auf die Gemeindevertretungen, vor allem in Böhmen, nehmen konnte. 1901 gelang es weiter, Victor Adler als ersten sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten überhaupt in den niederösterreichischen Landtag zu bringen.

Die reformistische Praxis der Sozialdemokratie erhielt eine gewisse theoretische Bestätigung mit der Revision des Hainfelder Programms auf dem Gesamtparteitag von 1901. Es war zwar in Brünn nicht an eine grundsätzliche Revision gedacht worden, jedoch ergriff Adler die Gelegenheit, eine redaktionelle Neufassung des Programms mit grundsätzlichen Änderungen zu verbinden, um eventuellen Konflikten zwischen revisionistischen und orthodox-marxistischen Gruppen zuvorzukommen und damit die Partei vor den gleichzeitig in Deutschland vor sich gehenden innerparteilichen Auseinandersetzungen zu bewahren. Adler wies zwar die Unterstellung Bebels, die Bernstein-Debatte habe die Programmrevision unvermeidlich gemacht, entschieden zurück, betonte jedoch gleichzeitig, daß gewisse mitgeschleppte Schlagworte aus dem Programm heraus müßten, weil ein Programm, das nur den Anschauungen einer Mehrheit entspreche, ein falsches Programm sei.

Das neue Parteiprogramm, das von Adler entworfen war und mit geringfügigen Abänderungen trotz der ursprünglichen Opposition Karl Kautskys angenommen wurde, bedeutete einen Fortschritt der parlamentarischen und reformistischen Politik, obwohl eine ganze Reihe marxistischer Forderungen darin blieben. Die absolute Verelendungstheorie war aufgegeben und nur in einer verklausulierten, relativen Form erhalten; dagegen war die starre Form der Konzentrationstheorie belassen worden. Die im Hainfelder Programm gemachten Vorbehalte gegen die parlamentarische Arbeit entfielen, Begriffe wie die „Eroberung der politischen Macht“ und „Diktatur des Proletariats“ waren vermieden worden.

Die Wiener Polizeidirektion konstatierte, das neue Programm bezeichne die weitgehende Preisgabe der revolutionären Zielsetzungen.

(Bericht der k.k. Polizeidirektion Wien vom 10. 12. 1901 an das Innenministerium, Präs. Reg. 8402/22gen/1908): Die Parteitagsdebatten hätten die von ihr in den letzten Jahresberichten vertretene Anschauung bestätigt,

daß die socialdemokratische Partei auch in Österreich ihren revolutionären Charakter nach und nach ganz abgestreift hat und insbesondere, seitdem ihr Gelegenheit zu einer praktischen Betätigung im parlamentarischen Leben gegeben wurde, sich zu einer politischen Parteigruppe herausgebildet habe, die in ihrem Bestreben nach Einführung socialpolitischer Reformen, abgesehen von einzelnen utopistischen Zielen, nur durch die hiebei angewandte radikale Taktik von den übrigen Socialreformern abweicht.

Es ist bemerkenswert, daß die österreichischen Regierungen trotz dieser in vielen Punkten zutreffenden Information durch die Polizeibehörden das Mißtrauen gegen die „marxistische“ Sozialdemokratie nicht überwinden konnten.

Die österreichische Sozialdemokratie hatte sich auf die parlamentarische Arbeit geworfen, weil sie hier am ehesten an politische Erfolge glaubte. Das erwies sich aber bald als verfehlt. Die Arbeitsfähigkeit des Parlaments blieb auch in seinen besten Zeiten beschränkt; trotz dem Waffenstillstand mit den tschechischen Parteien kam die parlamentarische Tätigkeit im Sommer 1901 nur schleppend in Gang. Dabei hatte das Haus eine Fülle von aufgelaufenen Gesetzgebungsmaterien zu erledigen. Körber hatte zwar die nationalen Parteien zur konstruktiven Mitarbeit an den umfangreichen wirtschaftlichen Vorlagen, die erhebliche Wasserstraßen- und Eisenbahnbauvorhaben betrafen, bewegen können, aber schon im Juni war es offenkundig, daß das Wirtschaftsprogramm der Regierung die nationalen Kämpfe nur vorübergehend in den Hintergrund drängen würde; das Damoklesschwert der jeden Augenblick möglichen neuen Obstruktion erschwerte die Verhandlungen. Die Regierung hatte schon mit den Budgetvorlagen die größte Mühe; es galt als gewaltiger Erfolg Körbers, als er am 22. Mai 1902 das Budget für das laufende Jahr durchbrachte — das erste verfassungsmäßig zustande gekommene Budget seit Badeni, und das letzte der Regierung Körber.

Schon im Oktober 1902 wurden diese Erfolge zunichte; das Parlament schleppte sich unter stiller Obstruktion bis zum Ende des Jahres hin. Der Ministerpräsident erreichte es nach unendlich langwierigen Verhandlungen noch einmal, daß die Obstruktion ihre Dringlichkeitsanträge zurückstellte und die Rekrutenvorlage annahm; im letzten Augenblick, in der Silvesternacht 1902, konnte schließlich noch der Ausgleich mit Ungarn verabschiedet werden, der die österreichische Politik jener Jahre aufs schwerste belastete.

Bankrott des Parlaments

Dann aber fiel das Parlament wieder dem alten Zersetzungsprozeß anheim, die Verhandlungen kamen völlig zum Erliegen, seit Ostern 1903 herrschte die Obstruktion ohne Unterbrechung und verhinderte sogar die Annahme des Budgetprovisoriums. Die verzweifelten, auch von der Sozialdemokratie unterstützten Versuche, die Obstruktion durch Dauer- und Nachtsitzungen niederzuringen, blieben ohne Resultat. Die Totrededebatten von Ende 1904 brachten den völligen Bankrott des Abgeordnetenhauses, das bis zu seiner Auflösung am 10. Dezember 1904 nur noch zu kurzen und stets wegen der Obstruktion verhandlungsunfähigen Sitzungen zusammentrat. Die um sich greifende parlamentarische Verwilderung war grenzenlos, das Privilegienparlament war eine tote politische Institution. Die Demission Körbers am 31. Dezember 1904 besiegelte seine vollständige politische Niederlage. Von seinen Reformplänen war fast nichts verwirklicht. Die seit den Tagen Badenis anhaltende Staatskrise war nicht nur nicht überwunden, sondern ungeheuerlich verschärft. Österreich befand sich in einem verfassungslosen Zustand, zumal mehrere Landtage, vor allem der böhmische, wegen der nationalen Wirren nicht arbeitsfähig waren.

Da Körber zu grundlegenden Verfassungsreformen nicht rechtzeitig bereit war, endete er zwangsläufig auf der breiten österreichischen Straße des „Fortwurstelns“. Er selbst war zu sehr Verwaltungsbeamter, und es fehlte ihm die Fähigkeit zum raschen und beibehaltenen politischen Entschluß, um ernsthafte Konflikte, auch gegen die Krone, wirklich durchzufechten. Auch dieser reformfreudigste Minister des alten Österreich war vom Gefühl der Zweck- und Erfolglosigkeit seines Tuns, von der allgemeinen politischen „Dekadenz“ jener Jahre schon so stark erfaßt, daß er zu eingreifendem Handeln und großen Entscheidungen nicht mehr fähig war.

Die allenthalben, am meisten aber in den deutschen Organisationen verbreitete niedergedrückte Stimmung spiegelte die organisatorische Stagnation der Partei. Adlers gewollte Euphemismen — er sprach von einer „Zeit der Ernte“ und wies auf die Notwendigkeit der verstärkten Organisationsarbeit hin— und die verfälschend optimistische Berichterstattung der „Arbeiter-Zeitung“ vermochten die innere Krise der Partei nicht wirklich zu verdecken, sie wurde durch die parlamentarischen Vorgänge von 1903 und 1904 noch vertieft. Denn es war nicht nur die parlamentarische Tätigkeit wegen der anhaltenden Obstruktion sinnlos geworden, auch an außerparlamentarische Demonstrationen und an Massenversammlungen in der herkömmlichen Form war angesichts der politischen Apathie in weiten Kreisen der Arbeiterschaft nicht zu denken. Auf dem deutschen Parteitag in Salzburg 1904, der den Höhepunkt der sozialdemokratischen Verzweiflung über die politischen Zustände Österreichs brachte, warnte Seliger ausdrücklich vor Aktionen großen Stils, da sich der Arbeiterschaft „eine Hoffnungslosigkeit bemächtigt habe, die alle ihre Tatkraft lähmt“. Zur gleichen Zeit aber zehrte der Nationalismus am Körper der internationalen Partei.

Die „staatserhaltende“ Taktik der Gesamtpartei war fragwürdig geworden, die Arbeiterschaft fühlte sich dem österreichischen Staate aufs tiefste entfremdet. Schon im Bericht der Gesamtparteivertretung von 1903 war vom „Abfaulen des staatlichen Gefüges“ die Rede: Österreich sei noch unerträglicher als je, die Empfindung, daß man diesen Staat nicht mehr aushalten könne, noch allgemeiner und brennender geworden. „Wenn Österreich stürbe, würden die Völker, die dieses Land bewohnen, von einer Kette befreit, die ihre Entwicklung hemmt; wenn Österreich sich zum Leben aufrafft, werden seine Völker auch das ertragen können — was sie aber korrumpiert, entnervt und ruiniert, ist dieser furchtbare Zustand zwischen Leben und Sterben.“ Österreich sei ein Staat, erklärte Adler 1903, „der längst ausgelebt hat, dessen Formen längst erstarrt sind und der der Gegenwart nichts mehr zu sagen hat“; die Sozialdemokratie werde ihn „in seinem Laufe zum Untergang nicht aufhalten“.

In seinem Referat über die Frage der Verfassungsrevision auf dem Salzburger Parteitag malte Adler ein düsteres Bild der Aussichten, die die Sozialdemokratie in diesem Staate erwarteten. Das Versagen des Kurienparlaments war ein Indiz dafür, daß jetzt sich ereignet hatte, was Adler seit Jahren befürchtete: aus einem vorübergehenden Krisenzustand war ein chronischer und unaufhaltsamer Verfallsprozeß geworden. „Wir leben in Österreich“, führte Adler aus, „nun seit Jahren nicht etwa in einer Krise der Verfassung wie andere Länder, die ein Durchgangspunkt wäre oder zu Reformen führt, sondern wir haben es hier mit dem völligen Zusammenbruch der Verfassung, mit dem Zusammenbruch des Staates selbst zu tun.“ Das alte Österreich sei fertig, es sei überflüssig, die „Krankheitssymptome oder vielmehr die Leichenflecke des Kadavers“ aufzuzeigen. Es sei, man müsse sich das rückhaltlos eingestehen, eine Selbsttäuschung, aus der alten Verfassung Österreichs „auch nur augenblicklich etwas für die Völker Vorteilhaftes herausreißen“ zu können.

Adler wies darauf hin, daß die gegenwärtige Situation Österreichs auch durch eine noch so energische Aktion des Parlaments nicht geändert werden könne. Die Sozialdemokratie aber sei außerstande, die Geschicke Österreichs zu lenken und es „vernünftig“ zu machen. Er warnte vor „sanguinischen Hoffnungen“, das Proletariat sei dazu fähig, „die notwendige Umgestaltung Österreichs durchzuführen“. Diese Umwälzung sei derart tiefgreifend, daß das Proletariat, „wenn es sich noch so sehr Mühe gibt, vielleicht nur eine Reform, eine Einzelheit in einem Moment durchsetzen kann, aber daß es auf Jahre hinaus auf einen Höhepunkt der Erregung und Machtentfaltung gebracht werden könne, um im Staate diese grundlegende Reform durchzusetzen, ist jedenfalls heute ausgeschlossen“. Er sehe keinen anderen Weg, als daß die Sozialdemokratie auf einige Zeit „diesen Zustand der permanenten chronischen Krise mit allen Fäulniserscheinungen“ über sich ergehen lassen müsse: „Wir müssen es uns versagen, die einzige und wichtigste Aufgabe der Sozialdemokratie darin zu sehen, uns mit diesem Staate abzugeben“; statt mit der Arbeiterschaft selbst — diese Schlußfolgerung war eine klare Absage an die bisherige staatserhaltende Politik der sozialdemokratischen Gesamtpartei.

„Misthaufen Europas“

Adler sagte sich mit größter Entschiedenheit von jeder Art eines schwarz-gelben Patriotismus los. Die Bewahrung eines österreichischen Staatspatriotismus sei in der gegebenen Situation ein Verrat am Vaterlande eines jeden einzelnen Volkes: „Darum erklären wir die österreichischen Patrioten für die eigentlichen Verräter an den Völkern Österreichs. Wir haben den österreichischen Völkern ein Vaterland zu erkämpfen, und dieses Vaterland liegt noch voran, ist und kann nur sein das Ergebnis eines gründlichen Umbaues, in dem neues Leben möglich ist.“ Von der bisherigen Verfassung war nichts zu erwarten; das nationale Problem, die „Schicksalsfrage des Proletariats aller Völker in Österreich“, schrieb Adler 1907, könne nur gelöst, den Völkern „nur ungehemmte nationale und damit kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung werden durch die Sprengung des historischen Gefüges des Staates und die Beseitigung des bürokratischen Gerüstes, das nicht mehr stützt und trägt, sondern einengt und würgt“.

Adler war um so skeptischer, als er keinen Anlaß hatte, bei den regierenden Kreisen einen ernsthaften Reformwillen anzunehmen. Die Sozialdemokratie hatte nach Ansicht Adlers genug zu tun, sich von dem im Gang befindlichen Zerfallsprozeß Österreichs frei zu halten. Jeder Gedanke an Österreich als der großen Lehranstalt praktischer internationaler Solidarität des Proletariats und jede Hoffnung, es in einen freien Völkerstaat zu verwandeln, schwand angesichts der hochgradigen inneren Zersetzung des Staates. Es ging jetzt nur darum, das Proletariat über den politischen Degenerationsprozeß hinüberzuretten, dessen Ende nicht abzusehen war. „Wir brauchen einen Staat, wir brauchen diesen Rahmen der Entwicklung“, erklärte Adler in Salzburg mit jener stockenden, stoßenden Form der Rede, die ihm auch im Obstruktionsparlament immer Gehör verschafft hat, „aber wenn wirklich die, die den österreichischen Staat lenken und regieren und die ihn zuschanden gelenkt und beherrscht haben, in ihrer Verblendung verharren, wenn dieses Österreich wirklich als Misthaufen Europa behelligen will, bis sich jemand findet, der ihn wegschafft: auch dann werden wir unsere Pflicht tun und mit aller Hingebung das schwierige Werk leisten, unter den traurigsten, bittersten, entsetzlichsten Verhältnissen, die je einem Proletariat auferlegt waren, das Proletariat lebendig zu erhalten, solange, bis die Zeit kommt, daß es seine wirklichen Lebensbedingungen findet“.

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