FORVM, No. 146
Februar
1966

Warum ich schweigen muß

Dr. Mihajlo Mihajlov, Dozent der Universität Zadar, wurde wegen einer Artikelfolge, worin er die Sowjetunion kritisierte, verhaftet und verurteilt. Er berief, und der Oberste Gerichtshof Kroatiens hob das Urteil auf. Sodann wurde er von seiner Hochschule eliminiert. Er berief, und der Oberste Gerichtshof Kroatiens hob die Entscheidung auf. Eine Klage Mihajlovs gegen die Universitätsbehörden ist noch nicht entschieden. — Möglichkeit und Erfolg einer solchen Existenz als Kohlhaas im Kommunismus werfen günstiges Licht auf unser Nachbarland. Noch günstigeres zieht Dr. Mihajlov mit dem nachfolgenden Beitrag auf sich.

Warum schweigen die meisten Intellektuellen in der sozialistischen Welt über deren wirkliche Lebensbedingungen und wie kommt es, daß ihre Kritik, wenn sie solche dennoch einmal öffentlich üben, nur nebensächliche Aspekte betrifft, nicht aber das Wesentliche, nämlich das System, unter dem sie leben? Diese Frage wird man sich, glaube ich, im Westen oft stellen. Ich nehme an, daß sich der durchschnittliche Leser dieses Schweigen auf dreierlei Weise erklärt: er nimmt entweder an, daß die Bevölkerung in den sozialistischen Ländern mit ihrer Lage zufrieden ist, oder daß Furcht sie vor jeglicher Äußerung abhält, oder aber daß es nicht möglich ist, solche Äußerungen zu drucken. Keine dieser Erklärungen trifft zu.

Es gibt bisher noch keine Gesellschaft, die alle ihre Mitglieder zufriedenstellt. In den sozialistischen Ländern findet man, wie auch anderswo, eine Menge Leute, die allen Grund haben, über das herrschende System unglücklich zu sein.

Was die Furcht vor Repressalien anlangt, so wissen wir aus der Geschichte, daß es selbst dem unbarmherzigsten Terror nicht gelingt, Menschen auf lange Zeit zum Schweigen zu zwingen. In den wenigen Fällen, in denen solcher Terror zum Erfolg führte, war dies nur deshalb möglich, weil die Terrorisierten nichts Besseres verdienten.

Auch was die Publikationsmöglichkeiten betrifft, gibt es keine Schwierigkeiten. Alle führenden Intellektuellen in den sozialistischen Ländern haben heute Gelegenheit, ihre Ansichten in der westlichen Presse zu äußern, insbesondere wenn sie dabei den Sozialismus kritisieren.

Westliche Intellektuelle und Journalisten üben Tag für Tag Kritik, die an die Grundlagen des kapitalistischen Systems rührt, und dies in der eigenen wie auch in der Presse der sozialistischen Länder. Daß sozialistische Intellektuelle die gleiche Kritik an dem System ihrer Länder üben, ist hingegen außerordentlich selten; falls es geschieht, gilt es als Sensation.

Weder Zufriedenheit noch Furcht noch mangelnde Publikationsmöglichkeit sind die Ursachen für das Schweigen der sozialistischen Intellektuellen. Es gibt einen anderen, tieferen Grund.

Wenn westliche Intellektuelle von Sartre bis Hochhuth kritisch über die gesellschaftlichen Bedingungen in ihren Ländern schreiben, erweckt schon die Tatsache, daß sie sich ohne Gefahr für ihre Freiheit oder materielle Existenz frei äußern können, in den sozialistischen Ländern Respekt für eine Gesellschaft, die solche freie Kritik zuläßt. Daher können derartige Äußerungen aus dem Westen, ob sie nun dort oder in den sozialistischen Ländern veröffentlicht werden, nicht mit Erfolg zu Propagandazwecken benützt werden.

Fast genau umgekehrt ist die Situation, wenn es sich um Kritik von Angehörigen sozialistischer Staaten an deren Verhältnissen handelt. Da eine derartige Kritik in der Presse dieser Länder unmöglich ist, wird sie durch eine Veröffentlichung im Ausland zur mächtigen Waffe gegen die eigene Gesellschaft und Nation — und zwar zu einer Waffe, die üblicherweise gerade jenen zugute kommt, gegen die sich auch Kritiker wie Hochhuth wenden. Daher ist für die meisten von uns Kritik nicht nur in unserer, sondern auch in der westlichen Presse unmöglich, obwohl diese uns hiezu reichlich Gelegenheit bietet. Der sozialistische Intellektuelle, der sich vor einem westlichen Publikum frei äußert, fühlt sich irgendwie als Verräter.

Ich glaube, daß dieses Gefühl auch jene sozialistischen Schriftsteller befällt, denen es dank ungewöhnlicher Umstände gelingt, die Wahrheit über ihre Gesellschaft auch in ihrem eigenen Land auszusprechen; Pasternak, Dudintzew und Solschenitzyn müssen solches Unbehagen verspürt haben. Wenn sozialistische Intellektuelle ihre freie Meinungsäußerung beschränken, so spielt jenes Gefühl des Verrates hiebei eine viel größere Rolle als die Furcht vor Repressalien, denen sie sich aussetzen. Denn ihre Kritik dient als Waffe nicht nur gegen die sozialistischen Staaten, sondern auch gegen den Sozialismus überhaupt und gegen alle jene, die im Westen unter dem Druck von Armut und Rassenvorurteilen stehen.

So fühlen wir Intellektuelle in den sozialistischen Ländern uns wie Verräter, wenn wir die Wahrheit sprechen — Verräter an unseren eigenen Ländern und an all denen, die in der kapitalistischen Welt für die Freiheit kämpfen. Deswegen bleiben die meisten von uns stumm.

Der Kern des Problems ist ein grausames Paradoxon. Jene, die uns am Aussprechen der Wahrheit in der sozialistischen Welt hindern, leisten damit der Unterdrückung der Freiheit in der kapitalistischen Welt Vorschub. Ob sie wollen oder nicht, sie stärken ganz konkret die reaktionären Kräfte aller Art im anderen Lager. Desgleichen wird der kommunistische Totalitarismus von jenen gestärkt, die im Westen kommunistische Parteien verbieten, Zensur ausüben und den McCarthyismus fördern.

Es ist, als ob die Freiheit ein System kommunizierender Gefäße wäre. Sinkt das Niveau der Freiheit in einem Teil der Welt, so auch in den übrigen. Der Kampf für die Freiheit in der eigenen Gesellschaft ist zugleich ein Kampf für die Freiheit der ganzen Menschheit. Und in diesem Kampf sind die sozialistischen Intellektuellen in einer ungleich schwierigeren Situation, da sie zum Schweigen verurteilt sind.

Für uns in Jugoslawien ist die Lage besonders kompliziert. Wir haben ohne Zweifel unvergleichlich mehr Freiheit als in irgendeinem anderen sozialistischen Staat; wenn wir noch mehr verlangen, rügen uns nicht nur jene, die in unserem eigenen Land an der Macht sind, sondern auch die westlichen Liberalen („Seid doch nicht so undankbar; ihr habt ohnehin schon mehr bekommen als die anderen, jetzt wollt ihr gleich alles!“). Aber die Freiheit kann, wie das Leben, nicht in Stücke geteilt werden. Überdies ist der Weg Jugoslawiens zu einem Gutteil auch von den übrigen sozialistischen Ländern Europas eingeschlagen worden; das Problem der Freiheit in Jugoslawien ist somit zum Problem der Freiheit im gesamten sozialistischen Block geworden.

Jugoslawien zwischen Ost und West

Jugoslawien wurde zu einem Prisma, worin das Schicksal der Menschheit sich widerspiegelt. Während die Sowjetunion sich weitgehend liberalisiert, während die Jugend der sozialistischen Länder sich geistig den besten Traditionen der westlichen Demokratien annähert, bewegt sich die amerikanische Jugend nach links, in Richtung auf die Verheißungen des Sozialismus, in Richtung auf die Ideale einer inhaltlich bestimmten und nicht bloß formal-politischen Demokratie. Diese beiden Entwicklungsprozesse bewegen sich aufeinander zu; früher oder später werden sie einander begegnen. Es ist meine Überzeugung, daß Jugoslawien — welches weder zum Osten noch zum Westen gehört — jenes Land ist, in dem die beiden Bewegungen einander begegnen werden. Eben deswegen ist das Problem der Freiheit in Jugoslawien heute möglicherweise wesentlicher als in irgendeinem anderen Land.

Der Kampf für die freie Menschheit von morgen, im ökonomischen und politischen Sinn, wird nicht in Vietnam geführt, sondern in Jugoslawien.

Ich glaube nicht, daß der fundamentale Konflikt unserer Gegenwart sich zwischen dem sozialistischen und dem kapitalistischen System abspielt, sondern zwischen dem demokratischen Sozialismus und dem Totalitarismus — sei es politischer Totalitarismus, wie in den sozialistischen Ländern, oder ökonomischer, wie im Westen. Alle Propaganda der beiden Gesellschaftssysteme, des sozialistischen gegen das kapitalistische und umgekehrt, dient nur dazu, jenen, die auf beiden Seiten für die Freiheit kämpfen, Sand in die Augen zu streuen.

Aus diesem Grunde bedeutet auch schon die geringste Einengung der freien Meinungsäußerung in der sozialistischen Gesellschaft eine verschwenderisch große Hilfe für die reaktionärsten Kreise des Westens.

Die herrschende Ordnung in Ost und West hat, so glaube ich, gemeinsame Interessen. Sollten die beiden Welten zu einer Verständigung gelangen, welche die gegenwärtigen Verhältnisse konserviert, so würde die Sache der Freiheit hievon wenig Gewinn haben. Es ist eine grauenerregende Vision: ein weltweiter Totalitarismus, unter welchem die Menschen sich nach jenen Zeiten sehnen würden, in denen die Wahrheit über das eine System wenigstens innerhalb des anderen Systems frei geäußert werden konnte.

Da Jugoslawien in vieler Hinsicht die Synthese, genauer: die mögliche Synthese von Ost und West repräsentiert, ist der Kampf für die Freiheit der Rede und der Meinung in Jugoslawien zugleich der Kampf gegen beide politischen und ökonomischen Totalitarismen — ein Kampf gegen die Möglichkeit eines einheitlichen politisch-ökonomischen Totalitarismus, der aus der Menschheit allen Lebenssaft pressen würde.

Nach Jugoslawiens stürmischer Wendung zur Demokratie im Jahre 1958 — eine Wendung, die alle anderen sozialistischen Staaten berührte — ist die jugoslawische Gesellschaft heute an einem kritischen Punkt angelangt. Die Straße führt nun entweder zurück zu einem Totalitarismus sowjetischen Typs oder vorwärts zu einem demokratischen Sozialismus, wie er bisher unerreichbar war.

Ein subtiler, aber entschlossener Kampf ist im Gange zwischen dem Status quo, der sogenannten „sozialistischen Demokratie“, und dem Ideal des demokratischen Sozialismus. Die ersten Auswirkungen dieses Kampfes werden sich noch binnen Jahresfrist zeigen.

Es wäre ein Irrtum, wollte man glauben, daß Jugoslawen, die für Freiheit innerhalb des gegenwärtigen sozialistischen Systems kämpfen, ihre Wahl zugunsten einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung getroffen hätten. Im Gegenteil, sie sind möglicherweise heftigere Gegner des westlichen ökonomischen Totalitarismus als jene, die gegenwärtig die Fäden der Macht dieser sozialistischen Gesellschaft in ihren Händen halten.

Der Unterschied zwischen politischer und ökonomischer Macht ist nur ein formaler, kein inhaltlicher. Folglich kann die wahre Demokratie am ehesten in einer Gesellschaft verwirklicht werden, die frei ist von Privateigentum und der es gelungen ist, die Möglichkeit auszuschalten, daß irgendeine Gesellschaftsgruppe die absolute politische Macht ergreift. In diesem zweiten Punkt haben die sozialistischen Staaten bisher versagt; und deshalb sind sie immer noch weniger demokratisch als kapitalistische Staaten.

Heute ist Jugoslawien im Begriff, ein einzigartiges Experiment durchzuführen — das Experiment eines Sozialismus, der nicht totalitär ist. Ich würde diese Form des Sozialismus nicht als kommunistisch bezeichnen, denn sie unterscheidet sich von der marxistisch-leninistischen Doktrin der sogenannten „Diktatur des Proletariats“, d.h. Einparteiendiktatur, welche automatisch zum politischen Totalitarismus führt.

Ich würde diese Form des Sozialismus eher christlich nennen — nicht deshalb, weil sich die freie demokratisch-sozialistische Gesellschaft zum christlichen Glauben bekennen würde, sondern weil die Projektion des wahren Christentums in die sozio-politische Sphäre eben die Demokratie ist. Daher kann eine Gesellschaft, in der die Totalität einer einzigen Ideologie aufrechterhalten wird, wie in Francos Spanien, nicht christlich genannt werden, auch wenn die Ideologie eine christliche ist.

Wir sollten nicht vergessen, daß Adolf Hitler ein hervorragender Antikommunist war, daß aber Hitlers Handlungen mithalfen, die Herrschaft des Stalinismus in der Sowjetunion fast um zwei Jahrzehnte zu verlängern. Es ist unmöglich, Unterdrückung mit Unterdrückung zu bekämpfen, oder Lüge mit Lüge. Unterdrückung kann nur mit Freiheit bekämpft werden, Lüge nur mit Wahrheit.

Ich sympathisiere nicht mit kommunistischen Ideen, aber wenn der Westen mit der Verfolgung von Kommunisten beginnt, werde ich zum Kommunisten. Jedesmal, wenn der Polizeiknüppel einen Demonstranten im Westen trifft, werden, unsichtbar, aber nicht minder vernichtend, auch alle jene getroffen, die in unserer Hälfte der Welt nach Freiheit lechzen. Der Ku-Klux-Klan verbrennt auch unsere Freiheit. Die einzige Art, auf die eine Gesellschaft einer anderen, die unfrei ist, helfen kann, besteht darin, daß sie selber frei ist.

Schlechter Dienst in Vietnam

Deshalb leisten die Vereinigten Staaten mit ihrem Krieg in Vietnam einen schlechten Dienst für die Sache der Freiheit in der sozialistischen Welt. „Gewalt“, sagt der russische Philosoph Nikolai Berdjajew, „kann niemanden retten, denn Rettung setzt einen Akt der Freiheit voraus ... Der Teufel triumphiert, wenn gegen ihn auf üble, teuflische Weise Krieg geführt wird ...“ Als es hingegen dem westdeutschen Magazin „Der Spiegel“ gelang, den Verteidigungsminister Franz Josef Strauß zu stürzen, erhöhte dies den Respekt für die westliche Demokratie in den sozialistischen Ländern, wo ein ähnlicher Vorgang undenkbar ist. Die Unterdrückung der westdeutschen Kommunistischen Partei hingegen unterminiert den Kampf für die Freiheit in unserer Gesellschaft.

Nach allen Zeugnissen zu schließen, hat das Krebsgeschwür der Menschheit, der Totalitarismus, in allen seinen Formen (faschistisch, kommunistisch, ökonomisch) die Tendenz, im europäisch-amerikanischen Teil der Welt gleichzeitig zu erscheinen. Man vergleiche bloß die Daten, zu denen die Diktatur in Rußland, Deutschland, Italien, Spanien sich etablierte; die Gleichzeitigkeit der „Zwangskollektivierung“ und der westlichen Wirtschaftskrise; des „Schdanowismus“ und des „McCarthyismus“ nach dem Zweiten Weltkrieg in Rußland bzw. Amerika, usw. Dies genügt, um wahrzunehmen, daß der Prozeß überall der gleiche ist; die Unterschiede betreffen nur die Form und die Intensität.

Diese Unterschiede sollten jedoch nicht leichthin beiseitegelassen werden. Es scheint mir, daß der Totalitarismus, weil er derzeit in der sozialistischen Welt am intensivsten herrscht, dort auch die größte Zahl aktiver Feinde hat. Überdies scheint mir, daß Europa die Hölle des Totalitarismus hinter sich hat und sich nun im Purgatorium befindet; es wird eine Rückkehr zur Hölle nicht dulden.

Jeder Sieg der Freiheit in irgendeinem Land ist daher bedeutungsvoll — er zeugt von einer Bewegung in Richtung auf die Gesundheit ganz Europas. Die Freiheit wird vielleicht Länder, die die Krankheit des Totalitarismus überstanden haben, tiefer durchdringen als Länder, die nicht oder nur leicht infiziert waren. Jede Erfahrung bereichert, auch wenn die Bereicherung darin besteht, daß man das Erfahrene verwirft. Ich bin überzeugt, daß die marxistische Ideologie als eine Basis des Totalitarismus in der westlichen Welt auf längere Zeit gefährlicher bleiben wird als in der östlichen.

Aber schließlich muß die Krankheit überwunden werden, sei’s auch bloß, weil eine totalitäre Gesellschaft dem asiatischen Totalitarismus, der eben erst geboren wird, nicht gewachsen sein wird. Hiezu wird ein freies, christliches Europa nötig sein, vereint mit einem demokratischen (und das heißt: christlichen) Rußland — gerade so, wie die stalinistische Sowjetunion zuletzt den nationalen christlichen Geist des russischen Volkes wecken mußte, um Hitlers Deutschland zu widerstehen. Und der Kampf für ein demokratisches Rußland wird heute in Jugoslawien geführt!

Was ist das Wesen dieses Kampfes?

Trotz den zahlreichen Freiheiten, deren sich die jugoslawische sozialistische Gesellschaft dank dem Grundsatz der Selbstregierung heute erfreut, hängt über uns dennoch die ständige Möglichkeit eines Rückfalls in den Totalitarismus. Dies deshalb, weil es derzeit in der Praxis kein Mittel gibt, mit dem sich Jugoslawien zur Wehr setzen könnte, wenn die Macht, die jetzt in Händen der führenden Mitglieder der Kommunistischen Partei liegt, in die Klauen eines Stalinisten geraten sollte.

Daß es derzeit unmöglich ist, die wirkliche Grundlage des Systems zu kritisieren, ohne Zustimmung jener, welche die Exekutivgewalt dieses Systems haben — dies stellt derzeit keine große Tyrannei dar; aber es könnte sich eines Tages als Katastrophe erweisen. Denn trotz Selbstregierung stehen alle Informationsmittel und alle erlaubten gesellschaftlichen Organisationen unter der Kontrolle des Bundes der Kommunisten; in letzter Analyse befinden sie sich in Händen der Partei. Und jedes Einparteiensystem, was immer sonst darüber gesagt werden kann, ist eine Art Unterform des Stalinismus. Es läßt sich nicht damit rechtfertigen, daß es, im speziellen jugoslawischen Fall, ein ungewöhnlich liberales Einparteiensystem ist — gerade so, wie eine absolute Monarchie nicht mit dem vorübergehenden Auftreten eines wohlwollenden Monarchen entschuldigt werden kann.

Unter den Bedingungen, die sich in Jugoslawien herausgebildet haben, wäre zur Garantie künftigen Fortschrittes vor allem eine freie Presse von entscheidender Bedeutung — ein Organ, das nicht vom Kommunistenbund kontrolliert wird. Ein zweiter entscheidender Bereich der Reform wäre die ideologische Freiheit — die Zulassung offener Vertretung nicht-marxistischen Denkens (ob nun individualistischer oder religiöser Art). Eine dritte Notwendigkeit für den Fortschritt wäre die Koalitionsfreiheit — das Recht des Zusammenschlusses aller jener, die keine einflußreichen Positionen in der herrschenden Partei bekleiden.

Die Situation in Jugoslawien beweist, daß der Kampf um diese Ziele nicht zwischen Sozialismus und Kapitalismus stattfindet, sondern einzig zwischen den Parteigängern des „aufgeklärten (oder unaufgeklärten) sozialistischen Absolutismus“ und den Anhängern des demokratischen Sozialismus. Von Wiederherstellung des Kapitalismus kann keine Rede sein, noch auch ließen sich Kräfte finden, die bereit wären, ihn sodann aufrechtzuerhalten; ist doch das Potential der Demokratie in der sozialistischen Gesellschaft unvergleichlich größer als in der kapitalistischen.

Die Organisation einer Opposition — d.h. eines Zweiparteiensystems — würde die Aufrichtung einer echten gesellschaftlichen Verfügungsgewalt (zum Unterschied von ökonomisch oder politisch privater Verfügungsgewalt) über die Produktionsmittel und materiellen Güter ohne Zweifel nicht nur nicht behindern, sondern würde die Aufrichtung einer solchen Ordnung erleichtern.

Die jugoslawische Gesellschaft ist sich meines Erachtens bereits dessen bewußt, daß die sozio-politische Demokratisierung des sozialistischen Systems notwendig ist. Zugleich hat es in den vergangenen zwei oder drei Jahren zunehmende Anzeichen dafür gegeben, daß inner- wie außerhalb des Kommunistenbundes immer noch eine nicht unbeträchtliche Zahl von Leuten mit Neigung zum Totalitarismus vorhanden ist. In einer veränderten historischen Situation und bei unveränderter Fortdauer des gegenwärtigen Systems könnten diese Leute einen Rückfall in den Stalinismus zustande bringen.

Rückfall in den Stalinismus?

Es kann daher nicht oft und nicht kräftig genug betont werden, daß der Kampf um die Freiheit, das gegenwärtige sozialistische System öffentlich zu kritisieren, der Kampf gegen den Totalitarismus des marxistischen Denkens, zugleich ein Kampf ist für die Zukunft der gesamten europäisch-amerikanischen Weltbevölkerung.

Ohne Zweifel wird dieser Krieg für den demokratischen Sozialismus, wie jeder Krieg, seine Opfer fordern. Bisher war Freiheit noch nie kostenlos. Heute hat der freiheitliche Sozialismus in Jugoslawien eine Chance; die Schlacht um ihn wird, bewußt oder unbewußt, auf allen Gebieten des jugoslawischen gesellschaftlichen Lebens geführt, in allen Herzen und Hirnen.

Leider muß man in unserer Gesellschaft darüber immer noch in verhüllter Form schreiben und sprechen. Die Vorstellung einer organisierten Opposition innerhalb des Sozialismus; ein Schulsystem, das säkularisiert, d.h. frei vom marxistischen Dogma ist; die offene Äußerung nichtmarxistischer Gedanken in der Presse — das alles scheint immer noch allzu häretisch und provoziert prompt Anklagen wegen Wiederbelebung des Kapitalismus.

Dennoch: sollten die Kräfte des demokratischen Sozialismus siegreich aus dieser Schlacht hervorgehen, werden die übrigen sozialistischen Staaten dem Beispiel Jugoslawiens folgen — und früher oder später auch die modernen kapitalistischen Staaten.

Wir in den sozialistischen Ländern schweigen, weil wir unsere Länder nicht verraten und kein Material liefern wollen für die Kräfte der Reaktion, die sich den Freiheitskämpfen im Westen entgegenstellen. Wir wünschen vor allem anderen, daß die aufgeklärten Menschen des Westens im Genuß der Gedanken- und Pressefreiheit sind.

Dann würden wir nicht länger schweigen müssen.

(Reprint from ihe New Leader, Copyright by The American Labor Conference on International Affairs, Inc.)

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