FORVM, No. 100
April
1961

Wie schützt man den Staat?

Bundesminister Dr. Christian Broda, vor seinem Einzug in den Justizpalast unser Rechtsfreund und Mitbegründer, beteiligt sich hiemit erneut an unserer Generaldebatte über den Zustand der Zweiten Republik — eine Debatte, die er vor nunmehr fünf Jahrgängen eingeleitet hat (vgl. das Verzeichnis der Beiträger und ihrer Themen auf Seite 141). Weitere Diskutanten in diesem Heft sind unsere gleichfalls langjährigen Mitarbeiter Dr. Heinrich Drimmel, Bundesminister für Unterricht, und Herbert Eisenreich, Doyen der österreichischen Nachwuchsliteratur.

In den vergangenen Wochen hat es eine rege öffentliche Diskussion über den „Staatsschutz“ und seine Grenzen gegeben. Dies ist erfreulich. Eine wachsame öffentliche Meinung ist der sicherste Schutz gegen Unterwanderung der Demokratie — gleichgültig von welcher Seite. Und wenn die Vorschläge für ein „Strafrechtsänderungsgesetz“ zum Schutz des inneren Friedens, die ich der Regierung als Justizminister unterbreitet habe, zur Aktivierung der öffentlichen Diskussion und somit zur Stärkung der öffentlichen Meinung beitragen konnten, so liegt darin ein Gewinn, der mich die Mißverständnisse hinnehmen läßt, denen diese Vorschläge an mancher Stelle begegnet sind und die dazu geführt haben, daß die Österreichische Volkspartei vorerst dem Gesetzentwurf — nach Mitteilung ihres Parteiobmannes Bundeskanzler Dr. Gorbach vor allem wegen des Zeitpunktes der Einbringung — die Zustimmung nicht erteilt hat, während die Sozialistische Partei sich für das Gesetz ausgesprochen hat.

Das Mißverstehen hat schon damit begonnen, daß der Entwurf des Justizministeriums freigebig das Epitheton „Staatsschutzgesetz“ erhielt. Die Vorlage enthält jedoch auch die Bestimmungen, die mit einem Staatsschutz- oder Republikschutzgesetz gar nichts zu tun haben. Überdies besitzt Österreich bereits ein wirksames Staatsschutzgesetz aus dem Jahre 1936.

Ein zweites Mißverständnis: dem Gesetzentwurf wurde vorgeworfen, er richte sich — so wie aller „Staatsschutz“ — nur gegen Staatsfeinde von rechts. Ich bestreite die Richtigkeit dieser Argumentation. Mit dem Gesetz sollen aktuelle Lücken im Strafgesetz geschlossen werden. Der Entwurf richtet sich gegen Aktivität, die der Demokratie gefährlich werden könnte, wenn man sie duldet. Darum geht es, und nicht um rechts oder links!

Eine wesentliche Bestimmung des Entwurfes bildet der Vorschlag zur Einfügung eines § 299a des Strafgesetzes:

Wer vorsätzlich öffentlich oder in Druckwerken ... in gehässiger und empörender Weise die Republik Österreich oder eines ihrer Bundesländer beschimpft oder verächtlich zu machen versucht, wird ... wegen Vergehens mit strengem Arrest von drei Monaten bis zu einem Jahr bestraft.

Weil die der Österreichischen Volkspartei angehörenden Regierungsmitglieder dem Entwurf des Justizministeriums, der am 13. März — dem 24. Jahrestag der „Eingliederung“ Österreichs in das „Großdeutsche Reich“ — zur Verhandlung stand, nicht zustimmten, blieben auch die weiteren Bestimmungen des Entwurfs auf der Strecke. Die vorsätzliche, öffentliche „Verunglimpfung österreichischer Symbole“ (Flagge, Wappen, Hymne) in „gehässiger und empörender Weise“ darf weiterhin nicht gerichtlich bestraft werden. Wohl aber wird der Schutz „olympischer Embleme“ in Hinkunft unter Strafsanktion stehen. Ein diesbezüglicher Gesetzentwurf hat am gleichen 13. März 1962 die Hürde des Ministerrates genommen.

Hingegen konnten die Strafbestimmungen gegen die Tätigkeit in ausländischen Nachrichtendiensten und gegen Werkspionage zugunsten des Auslandes gleichfalls nicht beschlossen werden.

Der Vollständigkeit halber sei bemerkt, daß alle diese Bestimmungen des Strafrechtsänderungsgesetzes auf Vorschlägen der Strafrechtskommission beruhen.

Ähnliche Bestimmungen enthielt der deutschösterreichische Strafgesetzentwurf 1927, der wegen der Machtergreifung des Nationalsozialismus nicht mehr Gesetz wurde.

Die Schweiz stellt im Art. 270 ihres Strafgesetzbuches aus dem Jahre 1937 tätliche Angriffe auf ihre Hoheitszeichen unter gerichtliche Strafdrohung:

Wer ein von einer Behörde angebrachtes schweizerisches Hoheitszeichen, insbesondere das Wappen oder die Fahne der Eidgenossenschaft oder eines Kantons böswillig wegnimmt, beschädigt oder beleidigende Handlungen daran verübt, wird mit Gefängnis oder Buße bestraft.

Gleichlautende Bestimmungen sind in der Bundesrepublik Deutschland geltendes Recht. Sie sind auch in den Entwurf für ein neues deutsches Strafgesetz übernommen, der demnächst im Deutschen Bundestag als Regierungsvorlage in Beratung gezogen werden soll.

Qualtinger bleibt straflos

Da Besorgnis geäußert wurde, daß mit solchen Strafbestimmungen Kritik und Satire unterbunden werden könnten, möchte ich daran erinnern, daß das geltende Strafgesetz Bestimmungen enthält, die tatbestandsmäßig weit über die vorgeschlagenen Ergänzungen hinausgehen:

§ 65. Des Verbrechens der Störung der öffentlichen Ruhe macht sich schuldig, wer öffentlich oder vor mehreren Leuten, oder in Druckwerken, verbreiteten Schriften oder bildlichen Darstellungen

  1. zur Verachtung oder zum Hasse wider den einheitlichen Staatsverband der Republik, wider die Regierungsform oder Staatsverwaltung aufzureizen sucht, oder
  2. zum Ungehorsam, zur Auflehnung oder zum Widerstande gegen Gesetze, Verordnungen, Erkenntnisse oder Verfügungen der Gerichte oder anderer öffentlicher Behörden oder zur Verweigerung von Steuern oder für öffentliche Zwecke angeordneten Abgaben auffordert, aneifert oder zu verleiten sucht.

Die Strafe dieses Verbrechens ist schwerer Kerker von einem bis zu fünf Jahren.

§ 300. Wer öffentlich oder vor mehreren Leuten oder in Druckwerken, verbreiteten bildlichen Darstellungen oder Schriften durch Schmähungen, Verspottungen, unwahre Angaben oder Entstellungen von Tatsachen die Anordnungen oder Entscheidungen der Behörden herabzuwürdigen, oder auf solche Weise andere zum Hasse, zur Verachtung oder zu grundlosen Beschwerdeführungen gegen Staats- oder Gemeindebehörden oder gegen einzelne Organe der Regierung in Beziehung auf ihre Amtsführung, oder gegen einen Zeugen oder Sachverständigen in bezug auf ihre Aussagen vor Gericht aufzureizen sucht, ist, insoferne sich in dieser Tätigkeit nicht eine schwerer verpönte strafbare Handlung darstellt, des Vergehens der Aufwieglung schuldig, und mit ein- bis sechsmonatlichem Arreste zu bestrafen ...

Diese Bestimmungen haben noch nie zur Anklage gegen Satiriker geführt — weder gegen Karl Kraus noch gegen Helmut Qualtinger. Man mag beruhigt sein, daß der langjährige Rechtsfreund Qualtingers auch in seiner gegenwärtigen Funktion als Justizminister weiß, daß ein großer Satiriker, der immer gleichzeitig ein tiefernster Mensch ist, unentbehrliche demokratische Kontrollfunktionen ausübt.

Wie weit darf „Staatsschutz“ im Rechtsstaat gehen, ohne daß die Demokratie aufhört, Demokratie zu sein?

Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat sich in seinen Urteilen, die zum Verbot der Kommunistischen Partei und verschiedener rechtsradikaler Organisationen geführt haben, sehr gründlich mit diesem Problem auseinandergesetzt. Die Begründung war etwa die, daß die Betätigung von Organisationen, die programmatisch und in ihrer ganzen Praxis die Demokratie ablehnen, von der Demokratie nicht geduldet werden kann.

Andere westliche Demokratien gehen einen andern Weg als die Bundesrepublik. Man nimmt die legale Betätigung erwiesenermaßen antidemokratischer Organisationen in Kauf. Das ist nicht nur eine Frage der Staatsraison und der Stärke dieser (kommunistischen) Parteien. Die objektiven Kriterien für ein Parteiverbot sind in der Demokratie so schwer festzustellen, daß man die Konsequenzen scheut, die das Verfassungsgericht der Bundesrepublik gezogen hat.

Gilt dies auch für die Schaffung eines Tatbestandes der „Rassenhetze?“ Ich greife diese Frage heraus, weil gegen den Schutz der Republik und ihrer Symbole kaum ernsthafte Einwendungen erhoben wurden, während die vorgeschlagene Bestimmung gegen Verhetzung dem schärfsten Widerspruch begegnet ist. Sie lautet:

§ 302a. Wer vorsätzlich öffentlich oder in Druckwerken, verbreiteten bildlichen Darstellungen oder Schriften in einer die Menschenwürde verletzenden Weise gegen eine im Inland bestehende rassische oder durch ihre Zugehörigkeit zu einer Kirche, einer gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft, einem Volk, einem Volksstamm oder einem Staat bestimmte Gruppe hetzt oder in dieser Weise eine solche Gruppe beschimpft oder verächtlich zu machen sucht, wird wegen Vergehens mit strengem Arrest von drei bis zu sechs Monaten bestraft.

Die Bestimmung gründet sich auf einen vor drei Jahren fast einhellig gefaßten Beschluß der Strafrechtskommission vom 28. Jänner 1959, welcher gewiß ohne Affekt und ohne aktuellen österreichischen Anlaß zustande kam.

Eine ganz ähnliche Bestimmung gegen „Volksverhetzung“ hat der Deutsche Bundestag am 30.6.1960 beschlossen. Sie ist als § 130 des Strafgesetzbuches in der Bundesrepublik Deutschland geltendes Recht:

Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er

  1. zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt,
  2. zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder
  3. sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft ...

Daß sich der österreichische Entwurf auf ostdeutsche oder andere volksdemokratische Vorbilder gestützt hätte, gehört in das Gebiet der Erfindung.

Nüchterner Antisemitismus

Nicht erfunden ist hingegen der Wahrspruch der Innsbrucker Geschwornen, der am 14. März 1962 gefällt wurde — 24 Stunden nach der Ablehnung des Gesetzentwurfes zum Schutz des inneren Friedens im Ministerrat.

Die unbestrittenen, öffentlichen, wiederholten Äußerungen „Alle Juden gehören umgebracht“ und „Es sind noch zu wenig Juden umgebracht worden“ — Alkoholeinwirkung wurde nicht behauptet — blieben straflos. Von neuem erwies sich die einzige in Frage kommende Strafbestimmung des geltenden Strafgesetzes, § 305, nach dem die Staatsanwaltschaft pflichtgemäß angeklagt hatte, als unwirksam:

§ 305. Wer zu unsittlichen oder durch die Gesetze verbotenen Handlungen auffordert, aneifert oder zu verleiten sucht, oder dieselben anpreiset, oder zu rechtfertigen versucht, ist, insoferne sich darin nicht eine schwerer verpönte strafbare Handlung darstellt, eines Vergehens schuldig, und mit Arrest von einem bis zu sechs Monaten zu bestrafen ...

Aber ist man nicht auch bisher ohne wirksame Strafbestimmung gegen antisemitische Exzesse ausgekommen, so weit diese nicht zu Tätlichkeiten geführt haben? (Tätlichkeiten können natürlich nach anderen strafgesetzlichen Bestimmungen geahndet werden.)

Im ersten Jahrzehnt nach 1945 war die psychologische Schockwirkung des nationalsozialistischen Zusammenbruches noch so wirksam, daß kaum ein Bedürfnis für strafgesetzliche Bestimmungen gegen antisemitische Exzesse bestand. Aktuell wurde das Problem nach der Welle von Hakenkreuzschmierereien Anfang 1960. Damals wurde auch in der Bundesrepublik die Strafbestimmung gegen „Volksverhetzung“ geschaffen.

Hat die Duldung jener Bübereien — die der Natur der Sache nach unter keine schwerere Strafbestimmung fallen — irgend etwas mit Redefreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und demokratischen Grundrechten zu tun? Wäre dem so, müßte der Gesetzgeber in der Demokratie überhaupt resignieren. Ist die Wahrung der Menschenwürde gegenüber öffentlicher Rassenhetze — Verletzung der Menschenwürde ist Tatbestandsmerkmal des Gesetzesvorschlages — ein geringer zu achtendes Rechtsgut als der Schutz der Gemeinschaft vor öffentlicher Pornographie? Warum verlangen die lautstarken Gegner des zur Diskussion stehenden Gesetzentwurfes nicht mit gleicher Überzeugungskraft die Aufhebung des Pornographiegesetzes aus dem Jahr 1950?

Vielleicht kann der Justizminister, der den Entwurf für das Pressegesetz der Zweiten Republik vorgelegt hat, in dem der Pressefreiheit verfassungsmäßige Sicherungen zuerkannt werden, die weit über das geltende Verfassungsrecht hinausgehen, für sich einen gewissen Vorschuß an Vertrauen dafür in Anspruch nehmen, daß er die Grundrechte der Rede- und Meinungsfreiheit sich nicht weniger angelegen sein läßt als die Kritiker seines nunmehrigen Gesetzentwurfs. Auf diese Legitimation möchte ich mich berufen, wenn ich feststelle: die österreichische Demokratie darf die öffentliche Rassenhetze nicht sanktionslos hinnehmen. Noch sind keine zwanzig Jahre vergangen, seit das Feuer in den Gasöfen von Auschwitz ausgetreten wurde. Gegen öffentliche Rassenhetze müssen Staatsanwalt und Strafrichter das Wort haben — auch wenn andere Tatbestände des Strafgesetzes noch nicht erfüllt sind. Daß es zu Taten mit größerem Unrechtsgehalt und mit schwereren Folgen kommt, soll ja gerade verhindert werden.

Tadel mittels Strafgesetz

Es gibt gesellschaftliche Konventionen, die Gültigkeit haben, ohne daß jemand an Einschränkung des Grundrechtes der Rede- und Meinungsfreiheit denkt. Freiheit ist immer auch Begrenzung. Ausdruck des jeweiligen Entwicklungsgrades der Gesellschaft ist es, wie diese Grenze gezogen wird. Daß es überhaupt solche Grenzen gibt, darauf beruht das geordnete Zusammenleben der Menschen.

Der vom Justizministerium vorgeschlagene § 302a des Strafgesetzes soll seinen Platz vor dem geltenden § 303 des Strafgesetzes erhalten:

§ 303. Wer öffentlich oder vor mehreren Leuten, oder in Druckwerken, verbreiteten bildlichen Darstellungen oder Schriften die Lehren, Gebräuche oder Einrichtungen einer im Staate gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft verspottet oder herabzuwürdigen sucht, oder einen Religionsdiener derselben bei Ausübung gottesdienstlicher Verrichtungen beleidigt, oder sich während ihrer öffentlichen Religionsübung auf eine zum Ärgernis für andere geeignete Weise unanständig beträgt, macht sich, insoferne diese Handlungsweise nicht das Verbrechen der Religionsstörung bildet ..., eines Vergehens schuldig, und soll mit strengem Arreste von einem bis zu sechs Monaten gestraft werden.

Auch § 303 des Strafgesetzes enthält eine solche Konvention, mit der die Gesellschaft gewisse Beschränkungen der Freiheit auf sich nimmt, weil sie sich auf die Respektierung bestimmter Werte geeinigt hat. Glaubten die Kritiker des vorgeschlagenen § 302a, daß der geltende § 303 des Strafgesetzes die Demokratie oder die Grundrechte, auf denen die Demokratie beruht, bedroht?

Gewisse Verhaltensweisen werden von der Gesellschaft, je nach ihrem Entwicklungsgrad, moralisch geächtet, sie werden unter gesellschaftliche Quarantäne gestellt. Um sie zu isolieren, wird der Sicherheitskordon der strafgesetzlichen Bestimmungen gezogen. Die öffentlich sichtbare gesellschaftliche Tadelsfunktion ist die Aufgabe des Strafgesetzes in allen Kulturstaaten. An den Änderungen des Strafgesetzes mißt man die Änderungen der herrschenden Anschauungen in der Gesellschaft.

Für gewisse Verhaltensweisen, so z.B. die vom § 303 erfaßte Verspottung der Religion, ist jene Ächtung unbestritten und nicht mehr Gegenstand der öffentlichen Diskussion.

Die Achtung der Menschenwürde gehört zu den Grundwerten der menschlichen Gemeinschaft. Ihre Verletzung durch „öffentliche“ Verhetzung soll die Gesellschaft nicht mehr hinnehmen. Auch hier soll sie ihren feierlichen Tadel aussprechen — in Form der klaren und deutlichen strafrechtlichen Sanktion. Die Strafdrohung allein ist nicht alles, gewiß. Aber sie ist unentbehrlich, wenn die Gesellschaft ernst damit machen will, daß sie die Rassenhetze unter die Quarantäne der gesellschaftlichen Ächtung und einer jeden Zweifel ausschließenden strafrechtlichen Verurteilung stellt.

Vor 1938 war das nicht der Fall. Von 1938 bis 1945 gehörte zu den gesellschaftlichen Grundwerten geradezu die Mißachtung der Menschenwürde. Seit 1955 ist Österreichs Gesetzgeber frei und souverän. Jetzt soll der Gesetzgeber sprechen.

Darum geht es. Hier muß man sich zu Werten bekennen oder den Mut haben, Werte abzulehnen. Mit Redefreiheit und Meinungsfreiheit hat all dies nichts zu tun.

Man sollte auch nicht das Argument verwenden, daß es ältere Demokratien gibt, die ohne derartige Strafbestimmungen das Auslangen finden und doch den antisemitischen Radau-Exzeß nicht kennen. Die Form des wirksamen gesellschaftlichen Tadels ist nach Tradition und Reife der Demokratie verschieden. Die österreichische Demokratie kann auf die Tadelsfunktion des Strafrechts gegenüber der Rassenhetze noch nicht verzichten. Unsere eigene Vergangenheit ist noch zu frisch. Wir wollen keine Gefahr laufen, daß man nach zwanzig Jahren uns mißverstehen könnte und Langmut gegenüber bestimmten Vorfällen als Zustimmung auslegt.

Ungesundes Volksempfinden

Aber — wird eingewendet — wer gibt die Garantie dafür, daß derartige Bestimmungen nicht eines Tages wirklich zur Einschränkung der Rede- und Meinungsfreiheit mißbraucht werden könnten?

Die Demokratie kann nichts „garantieren“. Die Demokratie soll nicht behaupten, daß sie Garantie-Erklärungen gegen unvorhersehbare Entwicklungen abgeben kann. Diese Selbsteinsicht unterscheidet sie von der Diktatur.

Im Rechtsstaat darf nur auf Grund von klar abgegrenzten Tatbeständen strafgerichtlich eingegriffen werden und nicht, wenn es das „gesunde Volksempfinden“ verlangt.

Der berüchtigte § 2 des Reichsstrafgesetzbuches in der NS-Ära lautete:

Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft.

Im freiheitlichen Rechtsstaat darf es keine „Kautschukparagraphen“ geben, weder bei politischen noch bei nichtpolitischen Delikten. Nichts ist schlimmer als die Pauschalverdächtigung und die Pauschalbeschuldigung. Sie sind die eigentlichen Kennzeichen einer „Justiz“, die zum willenlosen Werkzeug der Diktaturen wird. Im „Amalgam“ unbeweisbarer Behauptungen und konstruierter Anschuldigungen zeigt die Diktatur ihr ewig gleiches Gesicht, was immer ihr Kennzeichen und ihr Name ist.

Jedermann wird verstehen, daß es gerade die parlamentarische Oppositionspartei ist, die hier besonders wachsam ist. Niemand wird daher den Sprechern der „Freiheitlichen Partei“ einen Vorwurf daraus machen, daß sie die Prüfung der gesetzgeberischen Vorschläge zum Schutz des inneren Friedens rigoros vorgenommen haben.

Was im gegebenen Fall geschehen konnte, ist geschehen. Ein strafgesetzlicher Tatbestand wurde nach sehr gründlicher Beratung durch ein sachverständiges Gremium, wie es kein zweites in Österreich gibt, formuliert. Alle Überlegungen, die bei legislativen Vorschlägen anzustellen sind, wurden angestellt. Die Praxis, die das Strafgesetz anzuwenden hat, wurde befragt. Als Ergebnis liegt ein Vorschlag vor, der gründlicher beraten und durchdacht wurde, als das sonst auch bei gesetzgeberischen Vorschlägen von weittragender Bedeutung zu geschehen pflegt.

Das Weitere muß man der Rechtsprechung überlassen; jener österreichischen Rechtsprechung, deren Kunst es immer gewesen ist, Gesetzestreue mit Lebensnähe zu vereinen.

Wenn jedoch der unwahrscheinliche und unvorhersehbare Fall eintreten sollte, daß die Rechtsprechung sich vom Gesetz und vom Willen des Gesetzgebers einmal lösen sollte, dann obliegt es dem Gesetzgeber, notfalls wiederum korrigierend einzugreifen.

Nur mit einem Argument komme man nicht: Wie könnte es werden, wenn sich überhaupt das Regime in Österreich ändert? — Soll man darauf wirklich antworten?

Dollfuß wurde weder von der demokratischen Bundesverfassung 1920/29 noch von deren Hüter, dem Verfassungsgerichtshof, abgehalten, seinen autoritären Kurs zu steuern. Hitler hat sich niemals auch nur der Mühe unterzogen, die Weimarer Reichsverfassung formell außer Kraft zu setzen. Diktaturen machen sich ihre Gesetze selbst. Sie brauchen keine Anleihen bei der Demokratie zu machen, die sie bekämpfen und stürzen, wenn sie die Kraft dazu haben.

Auch wir können getrost unsere Gesetze für die Demokratie machen und nicht für andere Staatsformen, die den Sturz der Demokratie zur Voraussetzung ihrer Existenz haben. Wollte man andere Grundsätze gelten lassen, dann fordere man gleich die Abdankung einer „zahnlosen“ Demokratie, die nicht mehr in der Lage wäre, ihre Angelegenheiten zu verwalten und ihr Ansehen zu wahren.

Vom Geist der Gerichte

Was die Besorgnis betrifft, unsere unabhängigen Gerichte könnten das vorgeschlagene Gesetz anders auslegen, als es dem Willen des Gesetzgebers entspricht, so wäre das folgende zu entgegnen: Man blättere einmal in den vielen hundert Seiten unseres Strafgesetzbuches aus dem Jahre 1852, das nahezu unverändert auf das Strafgesetz von 1803 zurückgeht.

Man wird tote Partien finden, die, obwohl in unveränderter Geltung, doch keinen praktischen Anwendungsbereich mehr haben:

§ 95. Zehnter Fall. Da in der Republik Österreich die Sklaverei und die Ausübung einer hierauf sich beziehenden Macht nicht gestattet ... so begeht jedermann ...

Dann gibt es lebendige Abschnitte, die volle Wirksamkeit im Leben von heute besitzen und Wirksamkeit auf dieses Leben ausstrahlen.

Auch unsere Richter — die Berufsrichter ebenso wie die Richter aus dem Volk — sprechen eben nicht Recht im luftleeren Raum, sondern in einer konkreten gesellschaftlichen Situation. Vor allem stehen sie unter dem Einfluß der öffentlichen Meinung.

Zwischen Rechtsprechung und öffentlicher Meinung gibt es eine vielfache Wechselwirkung. In der Rechtsprechung hat es noch zu jeder Zeit bei aller Treue zum Gesetz, die als selbstverständlich vorausgesetzt werden muß, eine bedeutende Komponente gegeben, die von der öffentlichen Meinung ihre Impulse erhält. Umgekehrt wirkt an der Bildung der öffentlichen Meinung die Rechtsprechung mit.

Daran sollte immer gedacht werden, wenn darüber gesprochen wird, ob Richter — es handelt sich meist um die Richter aus dem Volk — geltende Gesetze besser anwenden könnten. Auch den Geschwornen teilen sich die Impulse mit, die von einer zeitgemäßen Initiative des Gesetzgebers ausgehen. Bessere Gesetze schaffen nicht bloß unmittelbar die Voraussetzung für eine bessere Praxis. Der Geist einer Gesellschaft, der sich in der Initiative des Gesetzgebers manifestiert, hat immer noch seine Auswirkungen auf jene gehabt, welche die Gesetze anwenden.

Die öffentliche Meinung ist mitverantwortlich und mitbestimmend bei der Auslegung bestehender Gesetze und bei ihrer Anwendung durch die Rechtsprechung. Diese Tatsache ist in keiner Verfassung und in keinem Gesetz festgelegt. Sie ist gesellschaftliche Wirklichkeit.

Vorschlag an die FPÖ

Das Argument, das in der Diskussion der vergangenen Wochen am häufigsten zu hören war, lautete: man soll positive Maßnahmen für die Erziehung zur Demokratie ergreifen, nicht nach dem Staatsanwalt rufen. In Wirklichkeit stellt sich diese Alternative gar nicht. Natürlich ist es richtig, daß kein Staatsanwalt helfen kann, wenn die staatsbürgerliche Erziehung versagt. Aber gilt das nicht für die Kriminalität überhaupt? Der Strafrichter kann immer nur Symptome bekämpfen. Kann man deshalb auf ihn verzichten? Läßt man den Diebstahl straflos, weil das Strafgericht nicht die Ursache des Stehlens beseitigt? Die Alternative „Erziehung oder Staatsanwalt“ ist schief konstruiert.

Daher bedaure ich, daß — vorerst — eine wichtige Lücke im geltenden Strafgesetz nicht geschlossen werden kann. Ich glaube aber auch, daß Polemiken jetzt nichts fruchten. Statt dessen möchte ich allen jenen, die Bedenken gegen ein „Staatsschutzgesetz“ geäußert haben — und damit auch bei einer der beiden Regierungsparteien vorläufig durchgedrungen sind — einen Vorschlag machen:

Vorläufig sind die Möglichkeiten für den Staatsanwalt nicht erweitert worden. Nichts hindert uns aber, jene „Konvention“ gegen Rassenhetze und Antisemitismus, von der ich gesprochen habe, freiwillig anzuwenden. Ganz gewiß ist die vorläufige Zurückstellung des Gesetzentwurfes kein Hindernis für positive, staatsbürgerliche Erziehungsarbeit. Ihr sollten sich alle aktiven politischen Kräfte widmen, die zu Österreich stehen.

Es kommt mir nicht zu, der Oppositionspartei Ratschläge zu erteilen. Aber gerade jetzt, da die Stärkung des österreichischen Staatsbewußtseins so sehr diskutiert wird, eröffnet sich für sie eine echte Chance, der Öffentlichkeit zu zeigen, wie es mit ihrem österreichischen Staatsbewußtsein bestellt ist und wie ihr Beitrag zur Stärkung dieses Bewußtseins aussieht.

Die Opposition erfüllt in der Demokratie bedeutende staatspolitische Aufgaben. Warum soll eine Oppositionspartei, in der schon rein altersmäßig nur mehr eine Minderheit durch Ressentiments mit der Zeit vor 1945 verbunden ist, die staatspolitische Aufgabe der Erziehung der Jugend zum Staatsbewußtsein nicht gemeinsam mit den anderen staatstragenden politischen Kräften erfüllen können?

Ich glaube weiter, daß eine besondere Verantwortung auch jene Publizisten trifft, die so entschieden von Maßnahmen im Bereich des Strafrechtes abgeraten haben. Wer soll an der Stärkung des österreichischen Staatsbewußtseins mitwirken, wenn nicht die Publizistik?

Niemand kann der demokratischen öffentlichen Meinung die Aufgabe der Wachsamkeit abnehmen. Sie ist die Voraussetzung erfolgreichen Widerstandes gegen die Unterwanderung der Demokratie durch ihre Gegner. Die gesellschaftliche Abwehr in der Demokratie gegen antidemokratische Aktivität muß auf einem Zusammenwirken von Staatsgewalt und öffentlicher Meinung beruhen. Sie sind aufeinander angewiesen, wenn sie den ihnen auferlegten Pflichten nachkommen wollen.

Der Oberste Gerichtshof hat in zwei grundlegenden Entscheidungen festgestellt, daß der Tatbestand nationalsozialistischer Wiederbetätigung auch durch Verfälschung historischer Tatsachen im Zusammenhang mit dem Dritten Reich erfüllt werden kann. So sehr die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes zu begrüßen sind, muß hier doch vor einer Überschätzung der Möglichkeiten des Strafgerichtes gewarnt werden.

Hier gibt es Grenzen, die von der Demokratie gezogen werden. Ich möchte ungeduldigen sozialistischen Freunden sagen, daß unter den Garantien eines rechtsstaatlichen Verfahrens nicht alles Tatbestand des Strafgesetzes werden kann, was von uns verabscheut wird und auch tatsächlich verabscheuenswert ist.

Den Gerichten liegt immer wieder zur Beurteilung vor, ob nach den Bestimmungen des Verbotsgesetzes ungestraft behauptet werden darf, daß es gar keine Gasöfen gegeben hat bzw. daß in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches nur ein Bruchteil der behaupteten Zahl der Opfer das Leben verloren hat.

Es wird von der Gesamttendenz einer Publikation abhängen, in der solche Behauptungen aufgestellt werden, ob mit Aussicht auf Erfolg gerichtlich eingeschritten werden kann.

Richten ohne Gerichte

Die Quantität der Unwahrheit muß nicht ohne weiteres die Strafbarkeit vermehren. Wenn morgen in einer Publikation behauptet werden sollte, daß Hitler gar nicht gelebt habe, sondern daß seine Existenz eine nachträgliche Konstruktion sei, wird der Staatsanwalt kaum Möglichkeit zum Eingreifen haben. (Einige Jahrzehnte nach dem Tode Napoleons wurde in einem Buch „bewiesen“, daß er nie gelebt habe.)

Es gibt keinen allgemeinen Lügenparagraphen im Strafgesetz. Es gibt auch kein demokratisches Strafgesetz, das die unwahre Darstellung geschichtlicher Vorgänge schlechthin unter Strafe stellt.

Wir würden Demokratie und Rechtsstaat in den Augen jener, die wir zum österreichischen Staatsbewußtsein erziehen wollen, nur kompromittieren, wenn wir hier mit zweierlei Maß messen.

Man kann bei uns bekanntlich auch straflos behaupten, daß die ungarische Revolution 1956 eine Konterrevolution und das Werk von ausländischen kapitalistischen Agenten gewesen sei. Auch solche Behauptungen werden aber allgemein verabscheut und sind auch verabscheuenswert. Gerichtlich strafbar sind sie nicht.

Was an Verfälschungen, halben Wahrheiten und ganzen Unwahrheiten über die Geschichte der letzten Jahrzehnte literarisch angeboten und dargeboten wird, darf deswegen nicht unwidersprochen bleiben.

Der geistige Nährboden für die „neonazistischen“ Aktionen, mit denen sich die österreichischen Gerichte in den letzten Jahren zu befassen hatten, ist das Bestreben einer gewissen intellektuellen Schicht, die einmal Trägerin nationalsozialistischer Gedankengänge war, diese und damit ihren eigenen politischen Irrtum geschichtlich und menschlich zu rechtfertigen. Wahrscheinlich geschieht das häufiger unbewußt und unterbewußt als bewußt.

Der zeitliche Abstand vom Dritten Reich und das „Unbehagen“ in der Demokratie des Wohlfahrtsstaates haben diesen Rechtfertigungsbestrebungen eine gewisse Wirkungsbreite verschafft, die sie früher nicht besaßen.

Diesem Nährboden ebenso wirrer wie überholter antidemokratischer Emotionen und Ressentiments muß die demokratische öffentliche Meinung zu Leibe rücken. Verfehlt hier die Demokratie ihre Aufgabe, dann verwirkt sie das moralische Recht, Zwanzigjährige vor Gericht zu stellen, weil sie sich, in Ermanglung lebender Juden, an den Grabstätten israelitischer Mitbürger vergehen.

Der öffentlichen Meinung obliegt es, jene geistige Quarantäne zu schaffen, in der alle Versuche, der Jugend von heute ein verzeichnetes Geschichtsbild unserer jüngsten Vergangenheit zu übermitteln, isoliert werden.

Niemals wäre es möglich gewesen, einen ähnlichen Gesundheitskordon gegen den totalitären Kommunismus aufzubauen, wenn nicht eine öffentliche Meinung funktioniert hätte, die nicht bereit war, zu schweigen und zu verschweigen.

Warum sollte die öffentliche Meinung heute nicht die gleiche Aufgabe erfüllen können?

Es müssen nur genügend Kräfte, die an der Bildung der öffentlichen Meinung mitwirken, diese staatspolitische Aufgabe erkennen.

In den vergangenen Monaten hat die Justiz der Republik pflichtgemäß die Initiative ergriffen, um der öffentlichen Meinung die Gefahren zu zeigen, die der Gesellschaft drohen können, wenn Lücken im Strafgesetz geduldet werden, die geschlossen werden sollen.

Natürlich ist weder die Republik noch die Demokratie ernsthaft gefährdet. Natürlich brauchen wir nicht die Ratschläge Ungebetener, die gerne wieder in ein österreichisches politisches Spiel einsteigen wollen, aus dem sie mangels Bedeutung und Berechtigung längst und unwiderruflich ausgeschieden sind.

Aber wir sind nach den Erfahrungen unserer Vergangenheit hellhörig geworden. Ist es ein Wunder, daß ein antisemitischer Exzeß heute anders auf uns wirkt als vor dreißig Jahren — als niemand, nicht einmal die späteren Architekten der Gaskammern ahnen konnten, was bevorstand? Ist es ein Wunder, daß unser Rechtsbewußtsein 1962 auf politische „Kleinkriminalität“ anders reagiert als 1932? Schlimm stünde es um uns, wenn es nicht so wäre!

Die Justiz hat eine Initiative ergriffen. An der öffentlichen Meinung liegt es jetzt, diese Initiative fortzuführen.

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