FORVM, No. 465-467
November
1992

Wien: Weltstadt von gestern — europäische Metropole von morgen?

Fin de siècle: Wien als Entbindungsstation des 20. Jahrhunderts

Im 19. Jahrhundert war Wien eine europäische Metropole von Rang. Deren Anziehungskraft reichte bis in die entferntesten Teile der Monarchie und ins benachbarte Ausland. Um 1790 hatte Wien samt Vorstädten kaum 200.000 Einwohner. Um 1860 lebten hier knapp 500.000 Einwohner, um 1910 bereits mehr als 2 Millionen. In Spitzenjahren kamen damals bis zu 30.000 Neu-Bürger hinzu; im Durchschnitt (1850-1914) immerhin 15.000 pro Jahr. Damals bildeten die „echten“ WienerInnen bloß eine Minderheit. 1880 waren über 60%, 1910 immerhin 51% der hier lebenden Menschen anderswo zur Welt gekommen.

Um 1900 stammte ein Viertel (25%) aller Wienerinnen und Wiener aus Böhmen oder Mähren, mehr als ein Zehntel (11%) kam aus dem niederösterreichischen Umland. Fast ein Zehntel der Wiener Bevölkerung war aus dem europäischen Ausland vor — allem aus Ungarn, Deutschland oder Italien — zugezogen. Eher bescheiden war um 1900 der Zuzug aus den deutschsprachigen Alpenländern der Donau-Monarchie. Von dort stammten zur Jahrhundertwende nicht einmal 4% der Wiener Bevölkerung. An den Familiennamen und Leibspeisen der Wienerinnen und Wiener läßt sich deren Herkunft bis heute ablesen.

Eingesessene und Zugezogene verwandelten Wien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht nur in einen Mikrokosmos Mitteleuropas, sondern auch in ein explosives multikulturelles Laboratorium. Gegen die Zuwanderer aus dem Norden und Osten richteten sich bald antislawische Ressentiments und Verordnungen. Je mehr Rechte Tschechen, Polen und Slowenen in ihren „Stammländern“ einforderten, umso größer wurde der Assimilationsdruck in den Kronländern und Städten mit deutschsprachiger Mehrheit — also auch in Wien.

Gleichzeitig wuchs der Antisemitismus. Und er wurde geschürt. Zuerst von Schönerer und seinen Deutsch-Nationalen, später auch vom Wiener Bürgermeister Lueger, der den politischen Antisemitismus stärker mit Elementen der Kritik an Industrialisierung und Finanzkapital verband. Das entsprang nicht nur einer Traditionslinie des eigenen, katholisch-kleinbürgerlichen Lagers, sondern traf zugleich die Stimmung im Wählerpotential der Wiener Sozialdemokratie. „Sozialismus der dummen Kerls“ nannte Victor Adler diesen politischen Antisemitismus. Die Stadt eignete sich jedenfalls — wie Karl Kraus einst treffend formulierte — als Versuchsstation für den Weltuntergang.

Zur gleichen Zeit war Wien ein Nährboden der unterschiedlichsten intellektuellen, künstlerischen und politischen Avantgarde-Bewegungen: getragen sowohl von begabten Zuwanderern als auch von „zornigen“ Söhnen und Töchtern des ökonomisch etablierten Bürgertums und Geldadels. Sie machten Wien zu einem Geburtsort der Moderne, zu einer Entbindungsstation unseres 20. Jahrhunderts.
Psychoanalyse und logischer Positivismus hatten hier ebenso ihre Wurzeln wie Zionismus und politischer Antisemitismus.

Vom Wien an der Donau zum Wien am Gebirge

Auch nach dem Zusammenbruch des alten Österreich konnte die Stadt internationales Interesse beanspruchen. Zu denken ist dabei nicht nur an die kommunalen Experimente des Roten Wien, sondern auch an das Wien eines Ludwig Wittgenstein, eines Sigmund Freud, eines Adolf Loos oder eines Arnold Schönberg.

Dennoch büßte Wien seinen kosmopolitischen Charakter in den Jahren nach Ende der Monarchie ein. Was dies für den städtischen Alltag bedeutete, hatte Anton Kuh als erster erkannt. Bereits 1923 beklagte er in einem Essay den Verlust mitteleuropäischer Urbanität und das Verschwinden eines sebstbewußten Bürgertums. Stattdessen ortete Kuh in Wien einen Überhang an ländlich-provinzieller Kleidung und Geisteshaltung. Den unvoreingenommenen Beobachter erstaunt dies bis heute. Ein Londoner Bankier im Kilt würde in der City auf Befremden stoßen. Auch ein Broker mit Cowboy-Hut gälte an der New Yorker Wall Street als skurril. Große Teile der bürgerlichen Eliten Wiens demonstrieren dagegen bei jeder sich bietenden Gelegenheit durch ihre Kleidung eine tiefe Verbundenheit mit dem ländlich-alpinen Raum. Dirndl, Kropfbänder und weiße Stutzen sind bei vielen Bürgern Wiens ebenso salonfähig wie Jägerleinen und Lodenhüte. Eben dies verleitete Anton Kuh zu einer topographischen Innovation. Er schlug vor: Österreichs Bundeshauptstadt solle in Zukunft „Wien am Gebirge“ heißen.

Ein anderes Signal abnehmender Arttraktivität des modernen Wien war die schon in den 20er Jahren einsetzende Abwanderung. Gerade die Emigration führender und vielversprechender Köpfe — von Schumpeter über Lazarsfeld bis zu Chargaff und Liese Meitner — bewirkte mehr als nur symbolische Verluste. Die frühen Emigranten gingen weg, weil sie anderswo bessere Arbeitsbedingungen vorfanden. Die späteren gingen, weil ihnen als Sozialdemokraten oder als Juden die Karriere verwehrt blieb. Die große Fluchtbewegung setzte allerdings erst 1938 ein. Wer nach dem Anschluß emigrierte, mußte froh sein, den Nazis und damit dem Holocaust entkommen zu sein.

Vom Anschluß zur intellektuellen Selbstenthauptung

Aus der Distanz von mehr als 50 Jahren sehen wir sehr klar: Den Status einer europäischen Metropole verlor Wien spätestens 1938/39. Der Nationalsozialismus hatte nicht nur mehrere hunderttausend WienerInnen heimatlos gemacht, ihres Besitzes und ihrer Berufe beraubt, in Vernichtungslager verschleppt, in den Selbstmord oder ins Exil getrieben. Auch alle österreichischen Nobelpreisträger mußten das Land verlassen. Den Nazis und ihren Helfershelfern fiel eine ganze wissenschaftliche und intellektuelle Kultur zum Opfer. An die Stelle der vertriebenen oder ermordeten Künstler und Architekten, Journalisten und Schriftsteller, Forscher und politischen Denker traten einerseits Nazis und Ariseure. An ihre Stelle trat andererseits oft nur Nachwuchs der 2. und 3. Garnitur. Viele waren nicht so sehr überzeugte Nazis, sondern Mitläufer und Nutznießer der Barbarei.

Viele, die sich bis zum Ende der NS-Herrschaft nicht zu sehr exponierten, blieben uns nach 1945 erhalten. Und jene, die sich zwischen 1938 und 1945 einen Posten gesichert hatten, zeigten später verständlicherweise wenig Interesse, Emigranten und Vertriebene wieder heimzuholen. Man blieb in Wien praktischerweise unter sich. Dazu ein Beispiel unter vielen: Von den 100 bekanntesten geflüchteten Naturwissenschaftlern holte die Republik nach Kriegsende nur sechs wieder zurück; von den Nobelpreisträgern keinen einzigen. Hier fand offenbar das Gegenteil von Elitenrekrutierung statt. Dies gilt keineswegs nur für die Universitäten, sondern auch für Kunst und Medien — und für den Bereich der Politik.

Hans Kelsen und Friedrich Adler, Erich Fried und Otto Preminger; sie alle sind nicht zufällig im Exil gestorben. Elias Canetti lebt nicht zufällig in Zürich, Marie Jahoda in Südengland, Billy Wilder in Amerika.

Das Abseits als vermeintlich sicherer Ort

Durch die NS-Zeit und die europäische Nachkriegsordnung wurden Wien und der gesamte Osten Österreichs zur Peripherie — in geistiger, politischer und geographischer Hinsicht. Der Eiserne Vorhang verstärkte diese Entwicklung. Aber nicht die ganze Provinzialisierung geht auf’s Konto Hitlers und Stalins, ihrer Statthalter und Mitläufer. Wien hat sich vom Kahlschlag der NS-Zeit auch deshalb nicht so rasch erholt, weil diese Stadt und ihre Bewohner nach 1945 gar keinen Anspruch auf Weltgeltung mehr erhoben.

Vielen schien es zu genügen, daß diese Stadt einst Bedeutung gehabt hatte. Über die mindere Gegenwart trösteten Mozart-Opern, Beethoven-Symphonien und Sissi-Filme. Anderen erschienen überregionale Ambitionen schon deshalb unpassend, weil sie glaubten, solche Ansprüche hätten die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts eher noch beschleunigt. Dagegen stand nach 1945 der Reflex, nicht aufzufallen und den eigenen Beitrag zu eben diesen Katastrophen herunterzuspielen.

Sowohl die Flucht in die Tradition als auch der Versuch, sich kleiner zu machen, verhinderten in der Nachkriegszeit die aktive Suche nach einer neuen Rolle Wiens. Man kann das als voreilige Abmeldung aus Europa, insbesondere als Abmeldung aus West- und Mitteleuropa verstehen. Was blieb, war ein vages Bewußtsein früheren Glanzes und eine gehörige Portion Selbstmitleid; fast so, als hätte die Nachkriegsordnung den Wienern ein schwereres Schicksal beschert als ihren östlichen Nachbarn.

Den Dialog mit Prag, mit Budapest oder mit Zagreb haben die Wiener nach 1945 gar nicht mehr gesucht. Aber auch zu den Metropolen des Westens entstand kein fruchtbares Konkurrenzverhältnis. Paris, London oder Mailand erschienen nicht als Vorbild und Ansporn, sondern eher als Fluchtpunkte eigener Reisewünsche und Auswanderungsphantasien. Was blieb, waren kleinliche — und bis heute gern gepflegte — Rivalitäten und Ressentiments zwischen Wien und den übrigen Bundesländern. Der billige Triumph über Linz oder St. Pölten sollte offenbar kaschieren, daß das Leben im Wien der 50er und 60er Jahre selbst tief provinzielle Züge trug: von der Gastronomie über das Niveau der wissenschaftlichen Forschung bis zur damaligen Architektur.

Neue Attraktivität und der Ruf nach der Zugbrücke

Geraunzt und geklagt wird in Wien nach wie vor. Aber von der Provinzialität ist viel verschwunden. Neues Selbstbewußtsein vermittelte den Wienerinnen und Wienern zuerst die Diplomatie der Großmächte. Wien wurde nach dem Abzug der Alliierten dank Österreichs Neutralität und dank seiner geographischen Lage zum Ort für Ost-West-Gipfel, zum „Austragungsort“ internationaler Konferenzen und zum dritten Amtssitz der UNO. Der Ära Kreisky verdankt die Stadt in dieser Hinsicht viel. Schließlich avancierte die Stadt zum Thema einer Reihe vielbeachteter Großausstellungen. Hamburg und Venedig, Paris und New York entdeckten „Wien um 1900“. Die genannten Großausstellungen stärkten nicht nur das Selbstbewußtsein der Donaumetropole. Sie bewirkten — quasi als Nebenprodukt — auch eine höchst tourismuswirksame Imageveränderung. Immer mehr Touristen kamen auf der Suche nach dem Wien von gestern in das Wien von heute.

Doch dann ging vielen Wienerinnen und Wienern alles zu rasch. Denn mit dem Fall des Eisernen Vorhangs zerbrach auch der Glassturz, unter dem es sich die Bewohner dieser Stadt bequem eingerichtet hatten. Seit 1989 endet die „erfahrbare“ Welt für Ost und West nicht mehr an Thaya, March und Neusiedler See. Wien ist auch kein neutraler Logenplatz mehr, von dem aus sich das Geschehen im restlichen Mitteleuropa risikolos beobachten ließe. Wien liegt wieder mittendrin.

Zu Hunderttausenden kommen seit 1989 Ungarn, Tschechen, Slowaken, Polen mit eigenen Autos, im Bus oder im Zug, besichtigen Wiener Sehenswürdigkeiten, wandeln auf den Spuren ihrer Großmütter und Großväter, kaufen kurz- und langlebige Konsumgüter. Etliche suchen nach Gelegenheiten, selber Geld zu verdienen. Manche wollen sich in Wien sogar niederlassen.

Die Konfrontation mit den östlichen Nachbarn löste bei vielen Einheimischen keineswegs Begeisterung, sondern allerhand Abwehrreflexe aus. Die gemeinsam mit Budapest geplante Weltausstellung unter dem Motto „Brücken in die Zukunft“ fiel deshalb dem „Nein“ der Stimmbürger zum Opfer. Das Thema „Ausländer“ dominierte die Wiener Kommunalwahlen von 1991. Etliche Zeitgenossen empfinden die veränderte geopolitische Lage weder als Chance noch als Herausforderung, sondern als Zumutung. Sie wollen an keiner neuen Drehscheibe zwischen Ost und West, sondern lieber an einer Zugbrücke leben, mit der sich die Stadt bei Bedarf dicht machen läßt. Bei jenen, die dringend eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz suchen, mag diese Haltung berechtigt sein. Aber populär ist der Wunsch nach Abschottung weit über den Kreis jener Wienerinnen und Wiener hinaus, die in irgendeiner Konkurrenz zu in- oder ausländischen Zuwanderern stehen. Schon mehrt sich die Zahl jener, die dem Eisernen Vorhang nachtrauern.

Dahinter verbirgt sich ein Konfliktpotential, das nicht gering veranschlagt werden darf, wie der Stimmenanteil der FPÖ bei den Kommunalwahlen 1991, wie aber auch die Stimmung in Teilen von SPÖ und ÖVP zeigt. Ausländer und Zuwanderer aus Osteuropa und dem Balkan rufen verdrängte Erinnerungen an die eigene Armut nach 1945 wach. Sie wecken noch viel dunklere kollektive Erinnerungen an die slawische Herkunft eines Gutteils der Wiener Bevölkerung, die nach totaler Assimilation von dieser Herkunft gerade nicht eingeholt werden will. Viele sind schlicht irritiert durch den rauheren Wind, den der Umbruch im Osten bewirkt.

Verstärkte Konkurrenz und mehr Marktwirtschaft wären den Einheimischen schon ohne Ostöffnung ins Haus gestanden. Dafür hätten schon der EWR und der geplante EG-Beitritt Österreichs gesorgt. In der aktuellen Situation ist dies brisant, denn jeder Modernisierungsschub löst Angst vor Veränderungen oder Wohlstandsverlusten aus; so auch die angepeilte Internationalisierung Wiens mit oder ohne EG. Ausländer und Angehörige ethnischer Minderheiten können dabei leicht in die Rolle von Sündenböcken geraten.

Großstadt Wien: auf Zuwanderer angewiesen

Der seit 1990 um sich greifende Wunsch nach Abschottung steht in eigentümlichem Kontrast zu den enormen Entwicklungschancen, die sich für Wien und die gesamte Ostregion Österreichs durch die geänderten Verhältnisse in Ost-Mitteleuropa eröffnen. Der Standort Wien hat deutlich an Attraktivität gewonnen: für Investoren ebenso wie für Migranten. Vorbei ist die Zeit, da Wien als morbide, sterbende Stadt gelten konnte — ein Klischee, unter dem Wien lange zu leiden hatte. Seit Mitte der 1980er Jahre wächst die Stadt erstmals seit 1914 wieder; im Schnitt der Jahre 1988-91 um rund 20.000 Einwohner pro Jahr. So viel Zuwanderung hatte es zuletzt vor 100 Jahren gegeben.

Neue Gründerzeiten könnten bevorstehen, aber auch jede Menge Konflikte zwischen Eingesessenen und Zugewanderten. Dagegen helfen weder Soldaten an Österreichs Ostgrenze noch ein verschärftes Asylgesetz, sondern nur eine beherzte Kommunalpolitik. Wir benötigen mehr Wohnungen für In- und Ausländer, Lernhilfen für Schüler mit nicht-deutscher Muttersprache, Sprach- und Orientierungskurse für Erwachsene, Maßnahmen gegen Diskriminierung und Ausbeutung von Zuwanderern auf dem Arbeitsmarkt und eine raschere Einbürgerung all jener, die auf Dauer hierbleiben wollen.

Wien braucht Zuwanderer, wenn es Millionenstadt bleiben will. Wien braucht sozial integrierte Zuwanderer, wenn hier keine entlang ethnischer Grenzen gespaltene Zwei-Drittel-Gesellschaft entstehen soll. Und Wien braucht Zuwanderer, die die Sprachen unserer Nachbarländer verstehen, wenn es sich als eine europäische Dienstleistungsmetropole zwischen Berlin, Prag und Budapest behaupten will.

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