MOZ, Nummer 41
Mai
1989
Industrieansiedlungspolitik im ungarisch-burgenländischen Grenzgebiet:

Wilder Westen in der Puszta

Der letzte Schrei in der österreichischen Industrieansiedlungspolitik heißt „Maquiladora“. Nach mexikanisch-US-amerikanischem Vorbild sollen ausländische Konzerne ins österreichisch-ungarische Grenzland gelockt werden.

Das Packard Electric Werk in Groß-Petersdorf
Bild: ICD

Der Prototyp einer zwischenstaatlichen Betriebsansiedlung, wie sie seit kurzem auch in Österreich beworben wird, steht an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze. Dort werden seit bald 20 Jahren unter der Projektbezeichnung „Maquiladora“ Investoren ins Land gelockt, die für ihre arbeits- und lohnintensive Produktion billige Arbeitskräfte eines „3. Welt“-Landes benötigen und trotzdem nicht die Sicherheit eines nach westlichem Muster funktionierenden Industriestaates missen wollen. Also wird akkurat nördlich und südlich der mexikanisch-US-amerikanischen Grenzlinie eine Produktionsanlage errichtet, im Süden die großen Fabrikshallen, im Norden das Verwaltungsgebäude und die Forschungs- und Entwicklungsabteilung — getreu dem immerwährenden kapitalistischen Prinzip der größtmöglichen Optimierung von Kosten- und Standortvorteilen. Die Regierungen beider Länder machten daraus kurzerhand eine Zollfreizone, der Investor verweist stolz auf die hohe Anzahl geschaffener Arbeitsplätze — und profitiert von der — fehlenden Sozialgesetzgebung in Mexiko ebenso wie von der unternehmerfreundlichen Steuergesetzgebung in den USA.

Und weil das Ganze so vorbildhaft Gewinne abwirft, müssen investitionswillige Fabrikanten ihren Standort seit zwei, drei Jahren nicht mehr direkt am Grenzbalken wählen. Heute ist das Modell „Maquiladora“ überall in Mexiko durchführbar, zollfrei versteht sich.

Ungarn, Burgenland: Zwischenstaatliche Betriebsansiedlung

Nun soll es, wenn es nach den Vorstellungen der staatlichen österreichischen Betriebsansiedlungsgesellschaft ICD (International Cooperation for Development, laut Eigendefinition eine „im öffentlichen Auftrag tätige Gesellschaft, die ausländische Investoren und mögliche Kooperationspartner berät und in allen Phasen einer industriellen Ansiedlung unterstützt“) geht, „Maquiladora“ auch in Österreich geben. Und welche Gegend böte sich da besser an als die burgenländisch-ungarische Tiefebene. Ungarisches Lohnniveau und österreichische Sozialpartnerschaft sind tatsächlich denkbar günstige Voraussetzungen, um ausländischen Firmen die Gegend von Sopron bis Köszeg schmackhaft zu machen.

ICD-Chef Gerald Y. Genn, früher Boß von General-Motors-Austria, den Bundeskanzler Kreisky Anfang der 80er Jahre mit der Leitung dieses quasi „Entwicklungs-Ministeriums“ beauftragt hat, hofft hauptsächlich auf japanische und US-amerikanische Investoren: „In Europa basiert die Investitionsentscheidung sehr stark auf dem Faktor Lohnkosten“, erklärt Genn die Standortwahl für die neue ICD-Idee und tritt für die Nutzung der billigen Arbeitskraft in unserem östlichen Nachbarland ein. Das unterschiedliche Lohnniveau zwischen Österreich und Ungarn rechtfertigt den „Maquiladora“-Plan, solange man die Logik kapitalistischer Investitionsentscheidungen akzeptiert.

In Ungarn verdient ein mittelmäßig qualifizierter Arbeiter eines Staatsbetriebes ca. 6.000 Forint im Monat, wofür man am Mexikoplatz in Wien ein bißchen weniger und in einer ungarischen Bank etwas mehr als 1.200 öS bekommt. Selbst wenn ein internationaler Konzernmulti seinen Beschäftigten das Doppelte oder Dreifache vom denkbar niedrigen ungarischen Lohn bezahlt, kommt ihm ein/e ungarische/r Arbeiter/in noch immer drei- bis fünfmal billiger als ein/e österreichische/r.

Wenn also, wie sich das ICD-Chef Genn idealtypisch vorstellt, zwischen Nickelsdorf und Hegyeshalom, Andau und Mosonszentjanos, Lockenhaus und Köszeg demnächst Industriegebiete entstehen, so dürfen sich die angelockten Investoren über die Einsparungen bei den Lohnkosten freuen.

Und es gibt noch mehr Zuckerln, welche die Idee vom zwischenstaatlichen Betriebsstandort schmackhaft machen sollen. Anders als bei „3. Welt“-Standorten im südlichen Teil der Welt zeichnet sich in Ungarn die durchschnittliche Arbeitskraft durch relativ hohe Qualifikation aus. Und die Geschichte vom faulen sozialistischen Arbeiter stimmt für die Pußta schon lange nicht mehr, längst haben sich die Istvans und Marias an die sogenannte zweite Arbeit gewöhnt, in der sie seit Jahren neben der offiziell-staatlichen Beschäftigung in einer zusätzlichen Schicht für den privaten Lada, den Sony-Plattenspieler und das VHS-Videogerät roboten.

„Made in Austria“, von Ungar/inne/n fabriziert

Warum dann, angesichts all dieser überwältigenden Vorteile, nicht gleich das ganze Werk in Ungarn bauen? Gerald Y. Genn weiß die Antwort: „Die politische Stabilität und die mit Hilfe jahrzehntelanger Sozialpartnerschaft erwirkte Zuverlässigkeit der Arbeiter sind wichtige Faktoren, die für Österreich sprechen.“ Dazu kommt noch, daß es noch immer einen gewissen Vertrauensmangel gibt, der seitens westlicher Firmen gegenüber Ungarn besteht. Also ist es durchaus logisch, den potentiell investitionsfreudigen Ausländern die österreichische Seite der Grenze als Standort für Werks- und Verwaltungszentrale sowie für die Forschungs- und Entwicklungsabteilung zu empfehlen. Auch macht es die Strategie von „einem Betrieb in zwei Staaten“ möglich, daß — je nach Bedarf — einmal ein ungarisches und dann wieder ein österreichisches Ursprungszeugnis für das jeweilige Produkt ausgestellt werden kann. Das könnte vor allem dann von Bedeutung sein, wenn Österreich dereinst an der (west)europäischen Integration teilnimmt. Mit diesem zwischenstaatlichen Betriebsansiedlungsmodell wäre es möglich, „Made in Austria“-Etiketten auf Waren zu heften, die von ungarischen Arbeiter/inne/n produziert worden sind. Und noch einen Vorteil von „Maquiladora“ erläutert Gerald Y. Genn gegenüber der MOZ: Mit den zuständigen ungarischen Stellen ist man übereingekommen, daß um den prozentuellen Anteil ungarischer Wertschöpfung an dem zwischenstaatlich produzierten Produkt die betreffende Firma Gegengeschäfte mit Ungarn machen darf. Produziert also z.B. der Kabelhersteller Packard Electric, eine im burgenländischen Großpetersdorf angesiedelte GM-Tochter, einen Teil seiner Kabel in Ungarn — wie das auch seit kurzem passiert —, so kann die Firma Opel, für die die Kabel hauptsächlich gefertigt werden, um den entsprechenden Anteil ungarischer Wertschöpfung Autos nach Ungarn exportieren. Solche Gegengeschäfte sollen einen weiteren Anreiz für Investoren darstellen, die ICD-Idee aufzugreifen.

ICD-Chef Gerald Y. Genn
Bild: ICD

Konzeptloser ÖGB

„Wenn Betriebe abwandern wollen, werden sie sowieso abwandern“, meint lapidar der volkswirtschaftliche Referent des ÖGB, Mag. Muhm, auf die Frage, ob es nicht sonderbar ist, daß eine im öffentlichen Auftrag tätige österreichische Betriebsansiedlungsgesellschaft mit dem Faktor billiger ungarischer Arbeitsplätze Investoren wirbt. ÖGB-Muhm findet daran nichts Anstößiges, im Gegenteil: „Wenn z.B. ein japanisches Unternehmen diesen Investitionsstandort wählt, dann ist es besser, es bleibt zumindest ein Teil der Arbeitsplätze in Österreich“, gibt sich der volkswirtschaftliche Referent bescheiden.

Gleichzeitig wird allerdings eingeräumt, daß eine Gefahr von „möglichen Beschäftigungsabflüssen aus der Ostregion“, also aus dem Burgenland, besteht. Dies führt jedoch offensichtlich nicht dazu, gewerkschaftlicherseits zumindest einen beschäftigungspolitischen Alternativplan zu entwickeln.

Der ÖGB bewegt sich wie das Kaninchen vor der Schlange, nämlich gar nicht. Die Konkurrenzsituation auf dem internationalen Arbeitsmarkt, die ja durch vier- bis fünfmal niedrigere Löhne in Ungarn für eine österreichische beschäftigungspolitische Offensive die Ausgangslage ziemlich düster erscheinen läßt, wird zwar als Problem erkannt, es reicht jedoch nicht einmal zu einem Forderungspaket, geschweige denn zu Maßnahmen, die verhindern könnten, daß sich internationale Konzerne die Rosinen aus dem Arbeitsmarktkuchen herauspicken.

Eines ist klar: Die niedrigen ungarischen Löhne werden — sollte „Maquiladora“ in der Pußta Fuß fassen können — auch auf das ostösterreichische, insbesondere auf das burgenländische Lohnniveau drücken. Nicht ausreichend wird es sein, in fünf bis zehn Jahren das ungarische Lohn-Dumping zu beklagen und unsere Nachbarn als Tschuschen zu beschimpfen. Es steht allerdings zu befürchten, daß es genau so kommen wird.

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