FORVM, No. 465-467
November
1992

Zur Entblätterung des Haider-Mythos

I. Haider, der Oppositionspolitiker

Das »profil« und andere Medien führen gegen Jörg Haider eine „Kampein“, wie Waldheim sich ausdrücken würde — und daran ist nichts kritikabel. Wenn dort Einwände gegen diesen Herrn vorliegen, warum sie nicht publizieren? Entscheidend ist doch wohl die Qualität dieser Einwände, und die liegt im Argen. Kritikabel ist, daß es eine miserable Kampein ist — und der Inbegriff ihres Mangels besteht in dem Versuch, Haider als Verstoß und Abnormität zu dem zu präsentieren, was in Österreich gute politische Sitte ist. Dem Mann kann man viel vorwerfen — das aber nicht. Im Gegenteil. Haider ist gänzlich eine Charaktermaske der Politik, d.h. er hat sich die Maßstäbe des politischen Erfolgs in Österreich als seine persönlichen Eigenschaften zugelegt. Das macht sein vielgepriesenes „politisches Talent“ aus und ihn so sympathisch.

Im Unterschied zu in der Öffentlichkeit kursierenden Auskünften werden in der real existierenden gefestigten Demokratie dem Wähler von den politischen Parteien keine alternativen politischen Konzepte vorgelegt. Das geht auch gar nicht. Die Parteien wollen schließlich alle dasselbe. Erstens an die Macht, um mit ihr zweitens die feststehenden Anliegen der Nation voranzubringen. Das sind nach innen die heimische Marktwirtschaft und wegen dieser ein gehöriger Einfluß im Ausland: Alle Parteien des demokratischen Blocks sind für Demokratie, Recht und Ordnung, ein ordentliches Wirtschaftswachstum und ein gebührendes Ansehen des Vaterlandes überall in der Welt. Dafür wollen alle, die sich berufen fühlen, den freien, auf nichts als die eigenen Beschlüsse festgelegten Gebrauch der Macht. Moderne Parteien sind allesamt Volksparteien. Versprochen wird dem Volk nur eines. Nämlich, daß außer Österreich! nichts zählt und daß dafür jeder Stand entsprechend seiner Funktion eingespannt und beschränkt gehört.

Diese Übereinstimmung im Grundsätzlichen macht die Bildung von Koalitionen so problemlos, wenn der wählende Bürger keine absolute Mehrheit zustandebringt — im Großen und Ganzen kann jede Partei mit jeder. Eben diese Eintracht macht das Wahlkämpfen hingegen zu einer kniffligen Angelegenheit. Dem Wähler müssen schließlich schon Anhaltspunkte geboten werden, warum er ausgerechnet die eine und nicht die andere Partei ankreuzen soll. Also müssen Unterschiede her, weil es keine relevanten gibt. Eindeutig unterscheidbar sind demokratische Volksparteien bestenfalls durch die Personen, die sich ihnen „zur Verfügung stellen“. Vranitzky z.B. ist eindeutig nachweisbar der Vorsitzende der SPÖ und nicht Mitglied der ÖVP, und wer ihn als Kanzler will, muß seine Partei wählen, so das „Argument“ der SPÖ im letzten Nationalratswahlkampf. Erfolge dieses Kalibers haben findige Köpfe aus politischen Kreisen dazu bewogen, einige aus ihrer Mitte zu „Persönlichkeiten“ zu deklarieren, und unverfroren zu behaupten, das wäre schon ein guter Grund, denen die Macht über Land und Leute zu geben.

Die notgeborene Tugend, die Personen in den Vordergrund zu stellen, hat der Demokratie das Kompliment eingetragen, sie besitze in der Konkurrenz der Parteien ein Medium der Auslese, wodurch, wenn viele an die Macht wollen, (hoffentlich) nur der Beste dorthin gelange. Keine politischen Inhalte, aber immerhin die Eignung des Personals stünde zur Wahl. Diese These täuscht sich ein wenig über die Qualitäten, die jemanden zum Regieren befähigen, und die breite Entfaltung dieser Täuschung macht einen Gutteil der „politischen Kultur“ aus. Gemeint ist die Verwechslung der Taten, die ein Politiker mithilfe der Kompetenzen und der Macht seines Amtes zustandebringt, mit Leistungen, die sich der Persönlichkeit, dem „Charisma“, der Führungsstärke des Individuums verdanken sollen. Der alltägliche demokratische Personenkult widmet sich dieser Verdrehung: Regieren sei gerechterweise eine Folge der „Ausstrahlung“ von „Führungsqualität“ und die Ausübung der Macht sei eine Frage individuellen Talents. Die Widerlegung dieses kindgemäßen Aberglaubens ist ebenso einfach wie bekannt: kaum hat einer den entsprechenden Posten, kann er es auch schon, das Regieren. Der beste „Beweis“, qua „Persönlichkeit“ zum Regieren befähigt zu sein, ist bekanntlich der Besitz des Kanzlerpostens selbst — „Kanzlerbonus“ genannt. Das hindert die Öffentlichkeit nicht daran, nach einem Entsprechungsverhältnis von individuellen Fähigkeiten und politischen Ämtern zu verlangen, sondern stachelt dieses Bedürfnis an.

Im Wahlkampf stehen diese Herrscherqualitäten bzw. das gekonnte Fingieren derselben auf dem Prüfstand. Dieser besteht deswegen aus der jedem Wähler bekannten Mischung von Angeberei und Diffamierung. Der Spruch vom Eigenlob, das stinkt, gilt auf keinen Fall für Politiker. Die Selbstdarstellung dieser Herrschaften besteht aus offensiver Arroganz und peinlichen Verweisen auf die eigene, rundum geglückte Person. Slogans, in denen „Kraft“, „Mut“, „Erfahrung“ u.ä. locker durchmischt mit „Österreich!“ vorkommen, ergänzt um Hinweise auf ein gelungenes Familienleben und bisherige Karriereerfolge bilden das Material, das dem Wähler präsentiert wird. Komplementär dazu ist das Bestreben, dem Konkurrenten die zum Regieren angeblich nötigen Qualitäten abzusprechen. Am schönsten zur Anschauung gebracht wird das in den Schlammschlachten US-amerikanischer Wahlkämpfe. Mißerfolge im Berufsleben, „Verfehlungen“ im Privatleben werden ausgeschlachtet, und am wirkungsvollsten ist natürlich eine gerichtsanhängige Affäre, die den Konkurrenten diskreditieren soll. Die jeweilige Partei spielt in diesem Zirkus die Rolle einer Statisterie, die sich um ihren Spitzenmann schart, und durch ihre geschlossene Gefolgschaft „beweist“, daß jener die „Führungsqualität“ besitzt, die ihn für einen führende Position qualifiziert, weil ihm sonst die Partei natürlich nicht ergeben folgen würde. Parteitage sind Inszenierungen, die dieses zur Darstellung bringen sollen. In der Öffentlichkeit wird das alles ausführlich kommentiert und „kritisiert“, und zwar nach dem erhabenen Grundsatz, daß der letztendliche Erfolg beim Wähler noch jeder dieser primitiven Darbietungen recht gibt.

Ob Jörg Haider diese Zustände erklären könnte, ist sehr die Frage; bemerkt hat er jedenfalls, worauf es ankommt — dabei gibt er sein Bestes und bringt die Sache auf den Punkt. In seinen Darstellungen besteht die große Koalition wesentlich aus Kriminellen und Korruptionisten, die die verantwortungsvollen Ämter zwecks Bereicherung untereinander aufgeteilt haben. Solche Burschen verdienen einfach die Macht nicht, die er selber will. Breitest gewürdigt werden die bekannten Skandale, und besonders dann, wenn ein Gerichtsverfahren oder gar eine Verurteilung den quasi überparteilichen Beweis liefert, daß eine Missetat vorliegt, kann sich Haider kaum halten vor Begeisterung, pardon: Empörung. In der Causa Sinowatz, Androsch, etc., da tut die brave Justiz ihre Pflicht. Wenn umgekehrt eine Verfügung gegen Haider erlassen wird, liegt natürlich ein Fall von politisierter, interessengeleiteter Rechtspflege vor. Sehr bedenklich. Da sieht man dann, wie die Konkurrenzparteien die Justiz, bei welcher der Prozeßhansel Haider dennoch manche Anzeige abliefert, im Griff haben.

Die anderen, die „alten“ Parteien, laborieren ein wenig am Problem der fehlenden Gegenmunition. Die auf die Opposition abonnierte FPÖ besetzt einfach zu wenig Positionen, die Affären überhaupt gestatten, die sich dann hochspielen ließen. Speziell die von Haider oft und gern als Ansammlung von verurteilten Kriminellen angeprangerte Vranitzky-SPÖ ist daher auf die Idee verfallen, den Chef der FPÖ in die Nähe des Polit-Kriminellen zu rücken, der regelmäßig gefragt wird, wie er es denn mit dem Faschismus hält. Die ein wenig divergierende Meinung Haiders zum Dritten Reich bzw. zur Vergangenheitsbewältigung — dazu später — läßt sich dafür mehr oder weniger erfolgreich ausschlachten. Diese taktische Variante hat übrigens eine überraschende Nebenwirkung gezeitigt. Einige Intellektuelle, Theatermenschen, Journalisten hauptsächlich, sind darauf hereingefallen, wollen bei Vranitzky eine antifaschistische Gesinnung entdeckt haben, und beteiligen sich seither aus Überzeugung an der erwähnten „Kampein“.

Die taugt nichts. Ein markantes Beispiel dafür war der Versuch, aus dem länger zurückliegenden Abgang des Kärntner Lokalpolitikers Candussi eine Affäre zu machen. Der einzige „Vorwurf“, den die Sachlage selber hergibt, der ist höchstens eines Haider würdig. In dessen Diktion handelte es sich darum, einem „abgehalfterten Funktionär eine Abfertigung zuzuschanzen“. Unter der Bedingung, daß der Begünstigte die Hand, die ihn füttert, nicht beißt. Candussi hatte offenbar mit einer Laufbahn als Berufspolitiker kalkuliert, andere Erwerbsmöglichkeiten vernachlässigt und war dementsprechend von seinem Mandat abhängig, wofür sogar sein Parteifreund — „Brauchst was, Kamerad Walter?“ — Verständnis hatte, dem ansonsten vom »profil« vorgeworfen wird, er trete Versager oder potentielle Konkurrenten rücksichtslos aus der Partei. Dieser Vorwurf war offenbar dem »profil« zu fad, aber der Versuch, dieses soziale Entgegenkommen zum „Schweigegeld“ über einen geheimen „Karrierevertrag“ aufzublasen, wirft zumindest folgende Frage auf: Wer ist eigentlich kindischer — zwei Intriganten, die einander nicht über den Weg trauen und deswegen einen geheimen Pseudovertrag schließen, der im Ernstfall eh’ nicht einklagbar ist; oder eine Presse, die aus dieser pubertären Form einer ansonsten üblichen „Seilschaft“ wieder mal einen Skandal machen will? „Das war zu allen Zeiten, bei allen (alten) Parteien und insgesamt in der Politik üblich. Warum also nicht auch in der FPÖ?“ So fragt Herr Wolf im »Kurier« und gibt auch gleich die Antwort: Weil Haider nämlich immer behauptet, er wäre gar kein normaler Politiker! Ist er da nicht unglaubwürdig? Na und wenn schon — „unglaubwürdig“ sind sie doch alle, und die Glaubwürdigkeit eines Haider lebt ohnehin nicht von seinen Äußerungen, sondern von der demokratischen Rollenverteilung. Der Mann ist nun einmal in der Opposition und daher „unverbraucht“, wie gerade Journalisten bei anderer Gelegenheit die Roßtäuscherqualitäten der Parteienkonkurrenz durchaus zu würdigen wissen.

Analog die Geschichte mit den markierten Stimmzetteln anläßlich der Besetzung des Rechnungshof-Präsidenten. Ausgangspunkt war doch wohl die Tatsache, daß die Damen und Herren im Parlament einander gut kennen und deswegen nicht viel voneinander halten. Die FPÖ-Fraktion meinte deshalb, Paktfähigkeit beweisen zu müssen, und hat auf ihre Weise die Einhaltung des ansonsten stinknormalen Klubzwanges organisiert. Nationalratspräsident Fischer hat anschließend nach einem kurzen Telephonat mit seinem Gewissen die Skandalisierung eingeleitet. Diese beruht darauf, daß man das Parlament für einen Tempel nimmt, in dem die gewählte Priesterschaft dem Götzen Demokratie huldigt, — und dieses Heiligtum wurde von einem Frevler geschändet. „Gesinnungsdruck auf de jure frei gewählte Abgeordnete“ ist „nichts Neues im Hohen Haus“, erinnert sich der »profil«-Herausgeber, während er die Kultstätte gegen den Ketzer verteidigt. Aha. Andere schänden auch. Und wo bleibt jetzt die Kampein gegen SPÖ und ÖVP?

Ähnlich gelungen sind die Auslassungen der „Haider-Jagdgesellschaft“, die innerparteiliche Demokratie in der FPÖ betreffend. Die gleiche Mannschaft, die respektvollst zur Kenntnis nimmt, wie sich Vranitzky Personalentscheidungen in Regierung und Partei „vorbehält“, verwendet abwertend gemeinte Vokabeln (»Führerpartei«), wenn Haider mit seiner Gefolgschaft genauso verfährt. An der FPÖ wird sogar entdeckt, daß das Bedürfnis nach „Persönlichkeiten“ den passenden Personen- und Führerkult impliziert — was denn sonst? Wenn man sich der Anteilnahme der „kritischen“ Öffentlichkeit bezüglich der ÖVP-Personalrochaden erinnert: damals wurde man ausführlichst darüber unterrichtet, daß mündige Journalisten Politiker aus vollem Herzen anhimmeln möchten, und es Mock und Riegler einfach nicht verzeihen konnten, diesem Bedürfnis nicht zu entsprechen — zumindest verglichen mit Vranitzky. Wobei den enttäuschten Bewunderern offenbar noch nicht einmal so recht klar ist, daß die ihnen aufgefallene Charismaschwäche an der Funktion und nicht an der Person liegt: der Vizekanzler ist eben nur der Vize vom Kanzler. Haider scheint die damalige öffentliche Häme über die „Selbstzerfleischung“ einer Partei genau studiert zu haben; dem Haupt- und Kardinalvorwurf an die abgesägten ÖVP-Obleute — „Führungsschwäche“ — will er sich nicht aussetzen, und wie wird es ihm honoriert? Oder: Eine Kärntner Bäuerin, Galionsfigur eines „extrem deutschnationalen“ Parteiflügels, wird in die politische Pension geschickt, wobei der Stammtischhumor nicht zu kurz kommt, und statt Haiders oft eingemahnte „Lernfähigkeit“ zu registrieren, wird Opportunismus diagnostiziert. Die knorrige Ewiggestrige hatte zwar die verkehrten, aber immerhin Grundsätze. Als Haideropfer hat die gute Frau mitsamt ihrem Vorwurf — Prinzipienlosigkeit in deutsch-völkischen Existenzfragen! — sofort eine wohlmeinende Presse und eine Kondolenzbotschaft vom Parlamentspräsidenten obendrein.

Kurz, die Entdeckung einiger Presseleute, sie würden mit ihrer kritisch gemeinten Schreibe zum Erfolg Haiders beitragen, konnte einfach nicht ausbleiben. Sogar Herr „Staberl“ von der »Krone« hat bemerkt, daß seine Kollegen über Haider genauso schreiben wie er selber, wenn ihn sein gerechter Zorn überkommt: parteilich, einäugig, verbogen. Herr Rauscher vom »Kurier« wiederum, das andere Extrem, ist zu dem für ihn bequemen Ergebnis gekommen, der Politiker Haider verfolge gar nicht die Absichten, die er äußert — und an denen einem Rauscher keine Kritik gelingt? —, mit anderen Worten, er spricht einfach sich von der Verpflichtung frei, seine Abneigung gegen Haider zu begründen. Kein Wunder, daß die FPÖ im Aufwind ist, bei dieser Sorte unbeabsichtigter Propaganda.

Das Getöse, der FPÖ-Chef sei eine Gefahr für die Nation oder wenigstens die vielbeschworene Politkultur, reduziert sich nämlich darauf, daß die letzten Wahlerfolge der FPÖ die anderen Parteien Stimmanteile gekostet haben, auf die diese so etwas wie ein Gewohnheitsrecht reklamieren. SPÖ und ÖVP probieren es nun mit dem „Argument“, allein schon ihre wiederholt geäußerte Abneigung gegen Haider disqualifiziere diesen — eine Masche, die bei einer Öffentlichkeit, die „geistige Führung“ schätzt, keineswegs nur Gelächter hervorruft. Diese sogenannte „Ausgrenzung“ kann Haider auf der einen Seite so unrecht gar nicht sein. Immerhin konnte er anläßlich der Regierungsbeteiligung der FPÖ unter Steger eine bemerkenswerte Erfahrung machen. Da landet die Partei ihren bis dahin größten Erfolg, ist erstmalig an der Macht beteiligt, und was passiert? Eine Wahl nach der anderen geht verloren. Es droht die Entmachtung, und zwar ausgerechnet durch eine völlig subalterne Figur: den Wähler. Die letzten paar tausend Naiven, die an das Märchen geglaubt hatten, in der Demokratie könne der Bürger per Stimmzettel „etwas ändern“, müssen 1983 geschlossen FPÖ gewählt haben und waren dementsprechend enttäuscht, als sich — außer beim Regierungspersonal — gar nichts änderte. Seither legt Haider schwer Wert auf den Gestus, nicht bloß an die Macht zu wollen, und kultiviert ein wenig den Außenseiterstatus, wobei er die Anfeindungen der Konkurrenten einbaut. Umgekehrt suchte er den Vorwurf mangelnder Seriosität durch eine stinknormale Amtsführung als Kärntner Landeshauptmann zu entkräften. Diese selbst war daher in keiner Weise auffällig [*] und hat dann auch keinen Vorwand dafür hergegeben, ihm den Posten wieder abzunehmen. Bisher also gibt ihm der Erfolg recht — zumindest in einer „politischen Kultur“, die das so sieht.

II. Haider, der „Nazi“

Jörg Haider ist ein anständiger Mensch. Sein Gerechtigkeitsempfinden und seine Wahrheitsliebe gehen daher immer wieder mit ihm durch, wenn es um die Ehre der Kriegsgeneration oder um den guten Ruf des Dritten Reiches geht. Da läßt er regelmäßig ansonsten übliche Berechnungen außer acht, legt eine in der „politischen Klasse“ ungewohnte Spontaneität an den Tag und verschafft seinen Konkurrenten die Anlässe, ihn mit dem Faschismus in Verbindung zu bringen. Beiden Seiten gemeinsam ist eine gewisse Unklarheit, worum es bei ihrem Streit eigentlich geht. Gegenstand ist nämlich nicht der Faschismus als solcher, sondern die postfaschistische Art und Weise, ihn für das Nationalbewußtsein der Nachfolgestaaten des Dritten Reiches aufzubereiten: die berühmte Vergangenheitsbewältigung.

Wie die Bezeichnung „Bewältigung“ schon andeutet, geht es dabei nicht um die Analyse des Faschismus und allfällige zu ziehende politische Konsequenzen, sondern um die Stellung, die das heutige Österreich dazu einnehmen soll, damit ein moralischer Gewinn für es dabei herauskommt. Aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit soll ein Urteil über die Gegenwart resultieren, über die sittliche Güteklasse der jetzigen Nation. Dieses Urteil steht im Prinzip immer schon fest — nicht nur an Lipizzanern, Exporterfolgen, Sportlern, Sängerknaben, Flüchtlingsmitleid etc., auch an einer zum Zweck der Selbstdarstellung bezogenen Position zum Faschismus habe sich zu erweisen, daß Österreich! zurecht das „Ansehen“ genießt, dem seine Repräsentanten gerecht werden sollen. Vorgenommen wird diese Gegenwartswerbung durch Vergangenheitsbewältigung sowohl in Form der Distanzierung von den Greueln der Vergangenheit als auch durch das Bekenntnis zu ihnen, was nur vordergründig einen Widerspruch darstellt.

In der Abteilung „Distanzierung“ wird das Lob der Gegenwart durch die Bebilderung einer abgrundtiefen Differenz von Demokratie und Faschismus gesungen. Die dunkle Vergangenheit ist dabei der Hintergrund, vor dem das Hier und Jetzt umso heller strahlen soll. Bevorzugtes Thema dabei ist natürlich die Vernichtung der Juden durch das Dritte Reich. Zufall ist das keiner — woran sonst sollte der demokratische Verstand auch die Unvergleichbarkeit der Systeme beweisen? Schließlich wußte der Faschismus mit etlichen Errungenschaften der modernen Zivilisation schon etwas anzufangen, z.B. mit Eigentum und Kapital, Geld und Kredit, Lohnarbeit und Sozialstaat, Polizei und Militär, Beamtentum und Jurisdiktion, staatlichem Gewaltmonopol und Gesetzgebung, Ehe und Familie, Religion, Moral und Wissenschaft. Meinungs- und Parteienpluralismus sowie Wahlen wurden vom Faschismus für unbrauchbar befunden — sonst eigentlich nichts von den Einrichtungen, die eine Demokratie zu bieten hat. Umgekehrt wollte das frischbefreite Österreich auch nicht auf Errungenschaften des Dritten Reiches verzichten, z.B. auf die Kirchensteuer — der Führer wird sich dabei schon etwas gedacht haben. Ähnliches gilt für die vorbildliche innere Sicherheit unter Hitler:

Die Aufgaben, die von den Reichsstatthaltern auf dem Gebiet des öffentlichen Sicherheitswesens geführt wurden, gehen in Unterordnung unter die im Bundesministerium für Inneres eingerichtete Generaldirektion für öffentliche Sicherheit auf Sicherheitsdirektionen über ...

(Gesetz vom 20. Juli 1945 ... über die Überleitung der Verwaltungs- und Justizeinrichtungen des Deutschen Reiches in die Rechtsordnung der Republik Österreich)

Daschauher! „Überleitung“ von faschistischen Behörden mitten in die demokratische Rechtsordnung!

Die staatsoffizielle Moral und die politische Praxis passen eben hinten und vorne nicht zusammen. Da sind einerseits die Rechtsgrundlagen nicht nur der Staatspolizei vom Faschismus geerbt worden, also offenbar ganz brauchbar für das demokratische Österreich — aber wenn ein 16-jähriger in einer Umfrage die Meinung protokollieren läßt, „nicht alles“ im Dritten Reich sei abzulehnen, dann sollt’ er sich dafür in Grund und Boden schämen? Warum eigentlich? Weil der Kanzler, dem nach guter demokratischer Sitte auch die Führung in Fragen der Geschichtsforschung zukommt, die Richtlinie ausgibt, „nichts“ von damals dürfe ein braver Österreicher gut finden? Also eine kollektive Heuchelei anstiftet? Die Glaubwürdigkeit dieser Distanzierungen leidet halt schwer daran, daß die Gemeinsamkeiten von Demokratie und Faschismus zu unübersehbar sind — zumindest für jeden, der sich nicht total vom Kanzler und dessen Sprachregelungen hat bevormunden lassen.

Die andere Abteilung — Vergangenheitsbewältigung durch ein hemmungsloses Bekenntnis zu den Leistungen des Dritten Reiches beim Völkermord und der österreichischen Mitverantwortung dabei — ist auch nicht besser. Praktiziert wird da eine eher simple moralisch-psychologische Technik der Selbsterhöhung durch Selbsterniedrigung. Wer sich zu allerlei Schandtaten bekennt, die bequemerweise ohnehin von gestern sind, und damit sich selbst verurteilt, beweist erst einmal seine moralischen Maßstäbe und bekräftigt diese, indem er sich nicht scheut, sie auf sich selbst anzuwenden. Wer sich selbst demonstrativ verdammt, hat ein Gewissen — und braucht sich deswegen von niemandem etwas vorhalten zu lassen. Die Analogie zum volkstümlichen Brauch der Beichte ist unübersehbar. Auch dort ist das Bekenntnis zum eigenen Sündigen die Methode, ein schlechtes in ein gutes Gewissen zu verwandeln und dafür Anerkennung zu verlangen.

Die öffentliche Zurschaustellung von Zerknirschung -— „Wir Österreicher sind zurecht stolz auf uns, weil wir uns doch so demonstrativ dafür schämen, Verbrecher gewesen zu sein, sozusagen in einem früheren Leben“ — ist im übrigen folgenlos. Sie genügt sich selbst und hat mit dem Bekenntnis, früher mal gesündigt zu haben, also jetzt sauber und geläutert zu sein, ihren Zweck erreicht. Eine Suche nach den Gründen der vergangenen Schandtaten ist weder beabsichtigt noch als unerwünschte Nebenwirkung zu entdecken, das macht diese Sorte „Bewältigung“ so billig und so widerlich.

Auch hier steht fest, daß Jörg Haider keine Ahnung davon hat, was eigentlich los ist. Dabei läßt sich an der Vergangenheitsbewältigung der BRD vortrefflich studieren, wie durch das Vorzeigen von viel Reue, Schuld, Entsetzen etc. über das eigentlich Unsagbare ein unverwüstliches, von der Güte des Vaterlandes überzeugtes Nationalbewußtsein zustandekommt. Gerade dadurch, daß sich der neudeutsche Patriotismus ein angeblich fürchterlich zerquältes, „gebrochenes“, problembewußtes etc. Verhältnis zur normalen, angeblich blinden Vaterlandsliebe zugutehält! Wie bruchlos die überkommene Büßerpose bei Gelegenheit in außenpolitische Anmaßung übergeht, zeigt sich am aktuellen Verkehr z.B. mit der (Noch-) ČSFR: deren Repräsentanten müssen sich fragen lassen, wie sie es denn mit dem Bereuen, Bewältigen, Bekennen etc. halten wollen und fangen dabei ziemlich schlechte Noten ein. Die Grundlage dieses hochsittlichen Auftrumpfens ist natürlich das politische und ökonomische Kräfteverhältnis der beiden Staaten, aber bemerkenswert ist doch, wie gut nationale Zerknirschung und Arroganz einander ergänzen. Bei dieser Sorte Aufrechnerei zwischen Nationalisten kommt übrigens etwas zur Sprache, was Haider schon lange entdeckt hat.

Er hat nämlich getan, was von Anhängern der Vergangenheitsbewältigung immer empfohlen wird — sich mit „der Geschichte zu befassen“ — und dabei eine Entdeckung gemacht, die leicht zu haben ist: staatlicher Rassismus und Völkermord sind keine exklusiven Leistungen des Dritten Reiches. Seither reagiert der FPÖ-Chef periodisch mit der moralischen Naivität eines Halbwüchsigen und erregt sich über „Ungerechtigkeiten“. In beiden Abteilungen, beim Distanzieren und beim Bekennen, fällt ihm die verlangte Heuchelei auf. Wenn man den Faschismus in toto abzulehnen hat, was ist dann mit denen, die damals „ihre Pflicht erfüllt“ haben? Entweder diese Unterwerfung unter staatliche Aufträge ehrt den Untertanen, dann aber auch die damalige „Kriegsgeneration“ — denn es liegt doch wohl im Begriff der Pflicht, daß man sie nicht sich aussuchen kann, sondern auferlegt bekommt, was in einer Demokratie auch vorkommen soll. Zumindest hat der frühere Verteidigungsminister Frischenschlager die Wahrheit ausgesprochen, daß er im Ernstfall den heutigen Rekruten abverlangt hätte, was früher von deren „Vätern“ gefordert wurde: den Dienst für das Vaterland mit der Waffe, wobei Befehle ausgeführt, und nicht vorher diskutiert werden.

Abteilung Bekenntnis: Wenn allerlei militärische Leistungen deren Urheber und Mitmacher zu Verbrechern machen und großes Bereuen angesagt ist, warum nur auf Seiten der Verlierer, während einem Oberbefehlshaber der alliierten Flächenbombardements noch Jahrzehnte nachher ein Denkmal errichtet wird? Und so weiter. Haiders eigentliches Thema sind also die Heucheleien der Vergangenheitsbewältigung, seine Ausfälle sind sozusagen deren Sumpfblüten. Er hat offenbar einfach nicht kapiert, daß die Selbstbeschuldigungen in Sachen Vergangenheit bloß der Umweg zum reinen Gewissen der Gegenwart sind. Deswegen kann er sich nicht beherrschen, wird hysterisch und produziert vor lauter Empörung ziemlichen Schwachsinn, wie den Vorwurf an Robert Jungk, dieser habe eine „Jubelbroschüre“ über das Dritte Reich verfaßt.

Wäre Haider imstande, seine eigene Position halbwegs adäquat zu formulieren, hätte er etwa sagen müssen: „Sozialpolitik gilt gemeinhin als etwas Gutes, als ein Kompliment an den Staat, der sie betreibt. Auch das Dritte Reich hat erwiesenermaßen Sozialpolitik betrieben, aber das darf man so nicht sagen, weil man am Faschismus nichts normal finden darf. Wenn nun der Robert Jungk es erwähnt, regt sich ungerechterweise niemand auf, aber wenn ich, der Haider Jörgl, das gesagt hätte, wären sie alle wieder gemein zu mir gewesen!“

Ein Resultat haben die ständigen „Ausritte“ Haiders allerdings erbracht. Es schadet einem Politiker heutzutage offenbar nicht (mehr?), zumindest nicht beim Wähler, wenn er sich der pedantischen, linientreuen Distanzierung vom Faschismus ein wenig verweigert und ausspricht, was so oder so ähnlich das gesunde Volksempfinden schon lange vermutet. Daß derartige Sprüche wieder salonfähiger werden, liegt nicht an Haider, sondern an den weltpolitischen Veränderungen der letzten Jahre. Der Zusammenbruch des Ostblocks, die Revision des für gute Deutsche schmerzlichsten Kriegsergebnisses durch den Anschluß der DDR, der Aufstieg Deutschlands zur Vormacht Europas, das läßt die frühere deutsche Pose von Schuld und Sühne endgültig obsolet erscheinen — mehr war es eben nicht. Und nach der Logik auch des akademischen historischen Denkens, gemäß dem streng objektiv der Erfolg oder Mißerfolg weltpolitischer Glanztaten über deren moralischen Wert entscheidet — kommt daher, daß immer die Sieger die moralischen Maßstäbe setzen und zur Anwendung bringen —, hat diese Niederlage der Sowjetunion ohne Krieg einen neuen Bezug „der Geschichte“ zur Gegenwart nahegelegt: Wenn Haider Wehrmachtsveteranen dafür lobt, gegen die Sowjetunion, also für die heutige Ordnung der Dinge gekämpft zu haben, dann möchte man ihm zwar gern ein Geschichtsbuch zukommen lassen, aber daß diese „schneidigen Hund’“ damals für ein vereintes Europa unter deutscher Führung unterwegs waren — das kommt doch hin, irgendwie. Oder?

„Verharmlosung“

Ein betrübliches Nebenergebnis dieser Dauerdiskussion über die „unselige“ Vergangenheit und die demokratisch-korrekte Stellung zu ihr ist noch zu erwähnen. Der Beweiszweck, die Absicht der debattierenden Rechten oder der sogenannten Geschichtsrevisionisten ist klar. Es geht um die Verharmlosung der NS-Zeit. Dadurch, daß der Völkermord des damaligen Deutschen Reiches als gar nicht so einmalig und außergewöhnlich behauptet wird. (Übrigens: das stimmt. Da haben die „Revisionisten“ recht.) Dennoch ein bizarrer Standpunkt. Wieso wird denn, sagen wir einmal, ein Völkermord dadurch harmlos, daß er nicht der einzige in der Weltgeschichte ist? Wer geistig halbwegs beieinander ist, wird die Judenvernichtung doch nicht weniger ablehnen, wenn sie, angenommen, nicht der einzige Genozid aus Gründen der Rassenhygiene gewesen wäre! Die Gleichsetzung von „nicht einzigartig“ mit „harmlos“ oder „normal“, die ist perfid, und es ist ziemlich bestürzend, wie dem in der Öffentlichkeit entgegnet wird. Da wird nämlich nicht diese Gleichsetzung kritisiert und zurückgewiesen, sondern umgekehrt versucht, den ganz einmaligen, den „singulären“ Charakter der Judenvernichtung nachzuweisen. Das wird erstens ziemlich unglaubwürdig, landet zweitens notgedrungen bei der bevorzugten Methode des Massenmords und vernachlässigt ein wenig seinen Grund, und bekräftigt drittens implizit den Standpunkt von der Harmlosigkeit oder zumindest geringeren Verabscheuungswürdigkeit von Völkermorden, wenn sie denn mehrmals vorkämen. Da kommen ausgesprochen ekelhafte Streitigkeiten und sehr eigenartige Strafanzeigen heraus. Ist denn ein Hinweis darauf, daß viele Juden nicht vergast, sondern wie Teile der Kriegsgefangenen zum Verrecken gebracht wurden, seiner Natur nach tatsächlich geeignet, die Judenvernichtung zu verherrlichen, zu verharmlosen, zu rechtfertigen oder zu leugnen? Selbst wenn er so gemeint sein sollte? Wie müssen eigentlich Leute beisammen sein, die das als Relativierung empfinden? Wem nützen denn solche Debatten?

„Überlegenheit der Demokratie“

Jörg Haiders Stellung zum Faschismus gleicht vermutlich — es folgt jetzt eine Hypothese — derjenigen, die es nach 1945 vielen überzeugten Faschisten gestattete, ehrlich zur Demokratie zu konvertieren. Der Sieg im Krieg und die anschließenden Erfolge in Sachen Weltherrschaft, also die Überlegenheit der Demokratie in Bezug auf das erzfaschistische Kriterium der Auslese beim Kampf ums Dasein und auf das ewige, naturgewollte Recht des Stärkeren, das hat so manchen aufrechten Faschisten zur Demokratie und ihren Prozeduren bekehrt. Das sollte eine Öffentlichkeit nicht als Opportunismus oder Prinzipienlosigkeit abtun, die ebendiesen schönen sozialdarwinistischen Gedanken seit dem Abgang des Realen Sozialismus bis zum Erbrechen dem Lobpreis von Demokratie und Marktwirtschaft widmet: ihr Sieg gibt den westlichen Prinzipien des Regierens theoretisch recht und setzt sie moralisch ins Recht; die Niederlage in der Konkurrenz der Systeme blamiert den Verlierer endgültig, und wesentlich wuchtiger als alle moralisierenden Invektiven. Kein Zweifel: Jörg Haider ist eingefleischter Demokrat.

III. Haider, der Erneuerer

Jörg Haider will Österreich politisch „erneuern“, dadurch, daß er die derzeitigen Regierungsparteien an der Macht ablöst, wenn es sein muß, durch eine Koalition mit ihnen. Das war sie dann, die Erneuerung. Fragen nach dem Grund und dem genauen Inhalt dieser „Erneuerung“ werden nicht gestellt, weder von seinen Anhängern noch von seinen Gegnern. Offenbar ist dieses eigentümliche Bedürfnis allgemein plausibel. Das kann nicht nur daran liegen, daß sich darunter jeder vorstellen kann, was er will, denn so unbestimmt sind Haiders politische Zielsetzungen auch wieder nicht. Das muß schon daran liegen, daß in Österreich Politik nur in einer Form zur Kenntnis genommen wie auch kritisiert wird: idealistisch.

Den meisten Angehörigen der österreichischen Nation sind deren Ziele, die herrschenden Interessen, für die jeder vereinnahmt und hergenommen wird, gar nicht bzw. auf sehr eigentümliche Art und Weise geläufig. Nämlich in Form der Sprachregelungen, die von der Regierungsmannschaft und ihren Pressesprechern ausgegeben werden. Eine Regierung ist schließlich nicht mit der Verbreitung gediegener Erkenntnisse über sich und ihre Leistungen beschäftigt, sondern mit dem Bestreben, Zustimmung zu sich und ihren Werken herzustellen. Das verträgt sich mit den Prinzipien einer „kritischen Öffentlichkeit“ so gut, daß der Berufswechsel vom Journalisten zum ministeriellen Pressesekretär und wieder retour schon einmal vorkommt. Die Elementarform dieses auf Beifall und nicht auf Wahrheit abzielenden Beitrags zur öffentlichen Meinung besteht in der Behauptung, die jeweils aktuellen politischen Maßnahmen seien als Dienst am allgemeinen Wohl oder an verbindlichen Werten nicht materieller, sondern ideeller Provenienz zu verstehen. Und weil dem so sei, verlange die Politik zurecht die Bereitschaft der Bürger, die jeweiligen Konsequenzen zu tragen. Wenn diese Konsequenzen ihre ungemütlichen Seiten haben, wenn das „Wohl“ also nicht so allgemein ausfällt, wird das von den Betroffenen und der Öffentlichkeit gewöhnlich so interpretiert, die politische Umsetzung des Guten, Wahren und Schönen, das unser Österreich! nach allgemeiner Ansicht ausmacht, liege ein wenig im Argen, werde womöglich von eigennützigen Staatsfunktionären hintertrieben. Der Verdacht, die erwähnten Härten seien konstitutiver Teil des Guten und Wahren und das spreche gegen die hohen Werte oder das „allgemeine“ Wohl, kommt gewöhnlich nicht auf.

Egal, wovon die Rede ist, das erwähnte Verfahren ist universell anwendbar und macht deswegen den Kern der Umtriebe einer parlamentarischen Opposition aus. Drei Dauerbrenner der Innenpolitik als Beispiele:

  • Wenn die Zahl der Arbeitslosen neue Höhen erreicht, ist die idealistische Deutung immer schon fertig. Beschäftigungslosigkeit kann auf gar keinen Fall daher rühren, daß in der Marktwirtschaft der „Faktor Arbeit“ einen ähnlichen Status hat wie jeder andere Rohstoff — er wird nur verbraucht, wenn er sich lohnt, wenn nicht, dann nicht —, sondern am mangelnden Engagement der Politik soll es liegen.
  • Wenn die Vergiftung von Luft, Boden und Wasser vorankommt, weil Industrie und Landwirtschaft im Interesse ihres Wachstums diese Produktionsbedingungen als preisgünstige Abfalldeponien benutzen dürfen und sollen, dann liegt schon wieder — nach idealistischer Deutung — kein Ergebnis, sondern ein Versäumnis der Politik vor.
  • Wenn der Widerspruch zwischen Kinderbetreuung einerseits und der Notwendigkeit, durch Arbeit zum Familieneinkommen beizutragen andererseits, den betroffenen Frauen zum Ausbaden überantwortet wird, dann soll auch das wieder nicht an der Art und Weise liegen, wie sich die Politik um die Frauen kümmert, sondern daran, daß sie sich zu wenig um diese Hälfte der Menschheit sorgt.

In gewissem Sinn ist eine demokratische Opposition hauptsächlich damit befaßt, Propaganda für Regierungsgeschäfte zu betreiben: Eigentlich sollte die Regierung endlich im Sinne ihrer eigenen geschönten Sprachregelungen aktiv werden, wenn nicht, vergeht sie sich an den edlen Aufgaben der Nation. Präventiv wird ein Verdacht bekämpft, der in einer etablierten Demokratie so gut wie ausgestorben ist: die Regierung mache ihre Sache korrekt, deswegen bleiben sozial Schwache, Frauen und die Umwelt auf der Strecke, und die erwähnten Sprachregelungen sind eben solche und ohnehin nicht die realen Ziele der Politik. Diese herrschende komische Form des „politischen Diskurses“ erzeugt ein ebenso komisches Politikverständnis: einerseits ist Österreich! eine Ansammlung der erhabensten Werte und edelsten Anliegen, verdient damit — eigentlich — höchstes Ansehen; aber das, was die Regierung gerade treibt, wird diesem eigentlichen Österreich! nie so ganz gerecht. Es hat sich eingebürgert, für diese Zweiteilung der Politik in eine ideale, die nur als Sollen existiert, und in die eher miese, die es wirklich gibt, die Staatsmänner verantwortlich zu machen, und zwar in ihrer Gestalt als Parteipolitiker.

Die Parteien sind der Prügelknabe, der für alles verantwortlich gemacht werden darf und soll, was einem nicht paßt, damit die hohe Meinung von der Politik nicht leidet. Billiger geht es ja wohl kaum: da legt sich die Öffentlichkeit eine fixe Idee einer idealen Nation zurecht, will nicht zur Kenntnis nehmen, daß Politik genau das ist, was die so verachteten Regierungs-Parteien auf die Tagesordnung setzen, und trennt auf diese Weise ihre Begeisterung für Politik von dem, was die Regierenden gerade bieten bzw. verlangen; der neue Bundespräsident konnte dieses infantile Parteienbeschimpfen sogar erfolgreich im Wahlkampf verwenden.

Haiders „Erneuerung“ besteht, im Unterschied zu „Reform“ einem Umbau gewisser Staatsfunktionen zwecks höherer Effizienz in nichts anderem als der Behauptung, mit allem Herrlichen, das Österreich! angeblich sein soll, aber nicht ist, weil von den „Altparteien“ versaut — endlich ernst machen zu wollen. Diese Ausfälle gegen die „Systemparteien“, die den Staat okkupiert und nur das Eigenwohl im Sinn hätten, sind gar nicht zu Unrecht von hellhörigen Kritikern mit faschistischen Positionen in Verbindung gebracht worden. Aber wie ungerecht: Wenn der deutsche Bundespräsident die Parteien auf die gleiche Weise heruntermacht, weist niemand darauf hin, daß der Mann seine Einfälle von Hitler hätte abschreiben können.

Die „politische Erneuerung“ besteht nun nicht darin, das Volk endlich mit den Wohltaten zu überschütten, die von den anderen Parteien bloß versprochen werden. Das geht ein wenig anders: Niemand soll von der Politik profitieren dürfen, am allerwenigsten die Amtsträger, dann dient sie allen. Erneuerung wendet sich gegen Korruption und Privilegien, gegen alle angeblichen Versuche, es sich in einer öffentlichen Funktion bequem zu machen. Als ob davon etwas abhinge. Damit wird ein höchst absurder Maßstab für die Beurteilung von Politik nahegelegt und breitgetreten. Sie dürfe den Staatsfunktionären nichts nützen, dies ausgerechnet sei ihr Gütesiegel. Die aktuellen Staatsanliegen — für die auch die FPÖ ist — sind durch die Bank geeignet, die Bürger zu schädigen, was auch nicht verschwiegen wird:

  • Der Beitritt zu Europa, so er stattfindet, kostet einen Teil der Bauern die Existenz und verschärft für etliche Branchen, d.h. für die darin Beschäftigten, den Konkurrenzkampf.
  • Die angekündigten Reformen bei den ÖBB und im Pensionssystem haben eine eindeutige Stoßrichtung: weniger Ausgaben durch den Staat, also weniger Geld für Beschäftigte bzw. Bedürftige.
  • Die „Konsolidierung des Budgets“ läßt einige ministerielle Phantasie beim Geldeintreiben befürchten.
  • Da suggeriert die blöde Privilegiendebatte, man solle Politik gar nicht nach ihren Zwecken und Konsequenzen beurteilen, sondern sich schwer für die Einkommen der politischen Macher interessieren — und dafür die eigenen der Republik und den ökonomischen „Sachzwängen“ ausliefern! —, als ob deren formale Korrektheit schon ein Beweis für eine allgemeine Bekömmlichkeit der Regierungspolitik wäre.

Anders gesagt: Die Heuchelei, Politik sei ein Dienst an den Untertanen, will Haider dadurch glaubwürdig machen, daß er darauf verweisen kann, die Mächtigen der Nation seien nicht die primären Nutznießer. Auf diesen schönen Schein hat der Bürger ein Recht, ansonsten verheißt der Sauberkeitswahn nichts Gutes. Den „anständigen kleinen Leuten“ wird vom Populisten Haider nur eines versprochen: Daß auf sie keine wie immer geartete Rücksicht genommen wird, das aber immerhin von garantiert uneigennützigen Staatsführern:

Die Gesellschaft sei vielfach krank geworden, sei aus dem Gleichgewicht. Geistige Verwahrlosung greife um sich, der Gemeinsinn schwinde. Es fehle an gesellschaftlicher Hygiene, der Hedonismus sei zur Philosophie erkoren worden. Werte wie Treue, echte Autorität etc. müßten wieder Geltung erlangen. Rückgrat und aufrechter Gang sollten wieder in Mode kommen.

(Wiener Erklärung, zitiert nach »Standard«)

Das sind Bekenntnisse zur Gewalt. Die ist das Mittel des politischen Idealismus. Schließlich breitet hier nicht der Papst oder Waluliso sein Weltbild aus, sondern einer, der beschloß, Politiker zu werden, zwecks „Erneuerung“. Die Diagnose ist ebenso primitiv wie eindeutig. Jenseits aller speziellen „Mißstände“ und als deren tieferer Grund stimmt das gesellschaftliche Verhältnis von „oben“ und „unten“ nicht. Angeblich lassen es die normalen Leute an untertänigem Gemeinschaftsfanatismus fehlen, an Hingabe für das große Ganze, und die Oberen dulden das. Die Therapie ist ebenso klar — der Erneuerer muß an die Macht und das Mißverhältnis beheben. Die Rede von einer „geistigen Verwahrlosung“ und einer verkehrten „Philosophie“ als Auftakt ist ohnehin nicht dahingehend mißzuverstehen, er wolle diesen „intellektuellen“ Mängeln etwa mit Argumenten und guten Worten beikommen — hier will schließlich einer seine Eignung für die Ausübung der Staatsgewalt untermauern. Mit der will er dann „geistige Führung“ praktizieren. „Rückgrat und aufrechter Gang“ sind in dem Fall die von Staatsmännern zu fordernden Tugenden, um die verwahrlosten Bürger zur Räson zu bringen, statt es denen aus Bequemlichkeit immer recht machen zu wollen. Was dem Rechtsdemokraten unangenehm auffällt — auf Details kommt es nicht an — liegt am zu laschen Umgang der Obrigkeit mit den ihr Unterworfenen. Da gehört ordentlich durchgegriffen.

Klar, sachlich betrachtet leidet der Mann unter Wahnvorstellungen. Nur zur Illustration: als den aktuell anstehenden sozialen Fortschritt besprechen die damit Befaßten die Einführung einer Pflegeversicherung. Dem kann man entnehmen, ein Mitglied der hiesigen Leistungsgesellschaft darf damit rechnen, am Ende seiner Laufbahn erstens kaputt zu sein — pflegebedürftig —, und zweitens arm — es kann sich die Pflege eigentlich nicht leisten. Da soll die „Versicherung“ einhaken. Und in Zeiten wie diesen entdeckt der Erneuerer den „Hedonismus“ als die maßgebliche Philosophie! Solche Auskünfte sind in Österreich natürlich kein Skandal und erinnern auch niemanden an den Faschismus. Sowas gilt eher als eine Probe von Staatskunst: es den Bürgern als fehlende „Hygiene“ vorzurechnen, wenn einer das „kranke“ Gemeinschaftsleben durch gesunde Brutalität beim Regieren sanieren will. Da bewundert sogar ein bekannter journalistischer Haiderkritiker, der anspruchsvolle Herr Rauscher, sein negatives Idol — dafür, daß dieses solche Sentenzen im Stil einer Mittelschülerredeübung über die Rampe zu bringen imstande ist.

Ob sich durch eine Regierungsbeteiligung der FPÖ mit oder ohne Haider wirklich „etwas ändern“ würde, ist daher keine Frage: Alles bleibt beim Alten, die regierende Mannschaft befriedigt genau den „Handlungsbedarf“, den sie und niemand sonst vorher definiert hat. Was anders wird, ist die Darstellung der Politik. Speziell die von der Sozialdemokratie lange Jahre gepflegte Manier, das Kürzen von Pensionen oder das Entlassen von Arbeitern sei als ein leider notwendiger komplizierter Umweg zu interpretieren, den Betroffenen Gutes zu tun, und EG-Beitritt ebenso wie Budgetsanierung seien zumindest gut gemeint gewesen — das hört sich auf. Die Marktwirtschaft ist nun einmal kein Wohlfahrtsinstitut, wer auf der Strecke bleibt, wenn andere erfolgreich sind, ist selber schuld, wo gehobelt wird, fallen Späne, und im Prinzip ist ohnehin immer der richtige Moment, um Opfer für das Vaterland zu bringen, weil „Österreich! zuerst“ und natürlich zuletzt auch. Lauter vertraute Töne, vom Erneuern — keine Spur.

IV. Lieblingsthemen des Erneuerers

Ausländer & „Sozialschmarotzer“

Haiders Auslassungen zu diesen Themen sind demagogisch. Die Demagogie besteht darin, der Regierung ihren eigenen Standpunkt als Versäumnis und Forderung entgegenzuhalten. Der Unterschied zu SPÖ und ÖVP ist bestenfalls einer der Diktion. Der These, ausgerechnet der besonders fürsorgliche Umgang mit sozial Schwachen und Ausländern sei ein gewichtiges Indiz für die Güte und Menschenfreundlichkeit einer Nation, kann der Erneuerer nichts abgewinnen. Er ist halt ein „Inländerfreund“. Für Haider sind alle, die nicht zu Österreich! gehören, und dennoch hierher wollen, ebenso verdächtig wie diejenigen, die den Sozialstaat mit einer Versicherung verwechseln (wollen) und Rechte reklamieren, statt für die unverdiente Gnade einiger Almosen dankbar zu sein. Deswegen muß der Staat diesen Gruppen gehörig auf die Finger sehen. In der Diktion der Regierungsparteien sind „Leistungsbezieher“ und auch Ausländer im Großen und Ganzen anständige Leute. Beaufsichtigt gehören sie alle bloß wegen der „schwarzen Schafe“, die es unter ihnen natürlich auch gibt. Ansonsten gehen der Sozialabbau und die Sonderbehandlung für Ausländer ihren jeweiligen Gang. Da braucht die Gesetzgebung eben ihre Zeit.

Vom georteten „Problem“ bis zur Verabschiedung im Parlament gibt es Fristen, Vorlaufzeiten, Begutachtungsverfahren etc. und das Aushandeln innerhalb einer Koalition dauert auch. Während dieser Zeit wirft der FPÖ-Chef der Regierung vor, sie sei untätig, und wenn es soweit ist, hat seine Partei mit der Zustimmung zur Regierungsvorlage wenig Probleme. In Inseraten gibt der Erneuerer dann damit an, er habe das, was die Regierung ohnehin gerade erledigt, immerhin als Erster angesprochen, und im deutschen Ausland preist er die österreichische Ausländerpolitik als vorbildlich. Ziemlich raffiniert, so ein Oppositionspolitiker, der die Regierungsparteien vor sich „hertreibt“, nicht wahr? Nach den kernigen Aussprüchen eines Zilk („Vorsicht, die Russen kommen!“) und Busek („100.000 — illegale — Ausländer raus aus Österreich!“) hat Haider offenbar befürchtet, Anschluß und pole position zu verlieren und ist deswegen auf die Idee mit dem Volksbegehren gekommen. Die kühle Antwort Vranitzkys — mit ihrem „Ultimatum“ „hinke“ die FPÖ der Rechtsentwicklung auf dem Ausländersektor „nach“ — wirft wieder einmal die Frage auf, wer hier eigentlich wem hinterherläuft.

Parteibuchwirtschaft & Privilegien

Zu den Aufgaben jeder Regierung gehört die Besetzung diverser Positionen in der Verwaltung. Für die gehobenen Ämter werden gern bewährte Personen herangezogen, die sich als vertrauenswürdig erwiesen haben. Darunter können auch Parteifreunde sein. Sonstige Qualifikationen sind zwar durchaus vorhanden, im Grunde aber nicht erforderlich. Anderen Leuten Anweisungen erteilen, das lernt sich schnell, für die Details steht ein Beamtenapparat zur Verfügung, für den dazugehörigen „Streß“ sorgen schon die Intrigen anderer Seilschaften. Das Einkommen entspricht der „Verantwortung“. Und das alles könnte und sollte einem normalen Menschen scheißegal sein. Bloß erlebt die Bevölkerung im Umgang mit der Verwaltung, speziell mit der Sozialbürokratie, manche herbe Enttäuschung. Das liegt an der Sache. Exekutiert wird nämlich das in Gesetzesform vorliegende Staatsinteresse, und nicht das des Einzelnen. Da bietet der Demagoge einen Sündenbock an. Wer unbedingt glauben will, die Gesetze würden für ihn gemacht, darf sich an Geschichten über Protektionskinder, Beamtenpaläste und überzogene Sozialleistungen erregen und sich einbilden, darunter würden seine Anliegen leiden. Wenn andere bei anderer Gelegenheit auf demselben Klavier spielen, beherrscht Haider natürlich auch die Retourkutsche von der „Neidgenossenschaft“, die verdienten Leistungsträgern die verdienten Bezüge mißgönne.

„Kammernunwesen“ & Sozialpartnerschaft

Es geht um die ungemein aufwendige Art und Weise, mit der in Österreich der soziale Friede hergestellt wird. Geschützt ist ein „Arbeitnehmer“ hier weder vor Entlassung noch vor Berufskrankheiten, Arbeitsunfällen oder chronischen Abnützungserscheinungen und auch nicht vor dem sozialen Abstieg. Sicher ist aber, daß bei so ziemlich allem, was eine Firma mit einer Arbeitskraft unternimmt oder unterläßt, ein Arbeitnehmervertreter — Betriebsrat, Gewerkschafts- oder Kammerfunktionär — dabei war und zugestimmt hat. Das Mitreden von Repräsentanten der arbeitenden Klasse im Betrieb wie auch in der Politik macht die Marktwirtschaft zwar nicht bekömmlich, hat aber für „die Wirtschaft“ den unschätzbaren Vorteil, bei jeder Zumutung darauf verweisen zu können, daß Arbeitnehmervertreter alles geprüft und als — leider — notwendig anerkannt hätten. Diese betont „sachliche Arbeit in den zuständigen Gremien“, der Stolz des gestandenen Gewerkschaftsfunktionärs, hat über die Jahre hinweg einen für die Sozialdemokratie charakteristischen Erfolg erbracht: Es gilt in Österreich als Normalzustand, daß vom ÖGB vertretene Arbeiter alles mitmachen (müssen) — Überstunden, Kurzarbeit, Sonderschichten, Entlassungen, flexible Arbeitszeit, noble Zurückhaltung beim Lohn —, weil in der Wirtschaft Sachzwänge am Werk sind, die berühmten Gesetze des Marktes, gegen die jeder Einspruch zwecklos und sogar kontraproduktiv wäre. Angesichts dessen fragt sich Haider, ob durch das in Österreich weitverbreitete Eingebundensein von Interessenvertretern in lauter ganz sachliche Sachfragen nicht quasi „künstlich“ Konflikte evoziert werden, mit denen überflüssige Funktionäre bloß den Fachleuten für Betriebsführung Zores bereiten, weil sie ihre Daseinsberechtigung beweisen wollen, wenn die „Bonzen“ nicht ohnehin mit dem Verzehr von „Privilegien“ ausgelastet sind.

Die aktuell etwas in den Hintergrund getretene „Nebenregierung“ der Sozialpartner hat in den Augen eines Fanatikers der staatlichen Souveränität, abgesehen davon, daß die FPÖ darin nicht vertreten ist, den Mangel der Anmaßung von im Grunde genommen hoheitlichen Befugnissen. Politische Entscheidungen den Vertretern von schnöden Interessen zu überantworten, auch wenn diese dadurch für das Allgemeinwohl instrumentalisiert werden, ist ein Zeichen von staatlicher Schwäche, und die kann der Erneuerer nun einmal gar nicht leiden.

Staatsvertrag & Neutralität

Die Sachlage selbst ist klar. Die staatsvertraglichen Souveränitätsbeschränkungen und die Neutralitätserklärung waren die Bedingungen, die von den Siegermächten des Weltkrieges an die Wiederherstellung der österreichischen Nation geknüpft wurden. Die Sowjetunion bestand auf einer militärischen Neutralisierung des politisch wie ökonomisch in den Westen bereits eingemeindeten Österreich. Gegen diese Beschränkungen wendet sich Haider, und auch das liegt wieder einmal nicht an ihm. Die Voraussetzungen der Neutralität haben sich mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes erledigt, damit ist diese gegenstandslos geworden. Mit dem Beitritt zum künftigen Europa ist eine Teilnahme Österreichs an der projektierten Politischen Union mit allen außenpolitischen Konsequenzen fällig und von der Regierung auch blanko zugesagt worden. Der neue Bundespräsident hat dafür den wohlklingenden Titel „Solidarität“ —- mit einem noch zu gründenden europäischen Kriegsbündnis — in Umlauf gebracht. Der ganze Unterschied des Rabauken Haider, der angeblich wieder mal an den Grundfesten der Republik gerüttelt haben soll, zur offiziellen Linie kürzt sich wieder darauf zusammen, daß er als Oppositionspolitiker unbelastet von den außenpolitischen Berechnungen und Rücksichten einer amtierenden Regierung die Forderung nach der voller Souveränität erhoben hat.

Österreich & Europa

Haider hat seine Fraktion gegen den EWR-Vertrag votieren lassen. Sie erfüllt damit die „staatspolitisch wichtige Aufgabe“ jeder parlamentarischen Opposition, gegen die Regierungslinie aufzutreten. Jeder Wähler mit einem ausgeprägten Hang zur Selbsttäuschung kann sich durch die demokratische Arbeitsteilung von Regierung und Opposition immer wieder einbilden, ihm wäre manches erspart geblieben, wenn die anderen an der Macht gewesen wären — ein Bedürfnis, das auf dem Weg nach „Europa“ garantiert nicht schwinden wird. Falls die Opposition an die Macht kommt und — logischerweise — die Politik fortsetzt, die sie zu Oppositionszeiten „kritisiert“ hat, schlägt dem politischen Journalismus wieder einmal eine Sternstunde: es darf über „Glaubwürdigkeitsprobleme“ gejammert werden. „Politische Kultur“ eben, wie man sie kennt und schätzt.

Außerdem ist der Erneuerer tatsächlich mit einem begnadeten politischen Talent geschlagen. Dieses gestattete ihm nach kurzer Zeitungslektüre die Entdeckung, daß bei nicht unmaßgeblichen Teilnehmern der europäischen Einigung die Skepsis gegenüber den Maastrichter Verträgen wächst und gedeiht: die Abstimmung in Dänemark, die (damalige) Ungewißheit über das französische Referendum, die britische Zurückhaltung, die italienischen Selbstzweifel an der eigenen Europareife. Das Talent hat einfach die Frage aufgeworfen, ob Österreich auf das richtige Pferd setzt, denn seine gleichzeitigen Andeutungen in Richtung „Österreich hin zu WEU oder NATO“ lassen erkennen, daß es ihm darum geht, Österreich möge sich doch an etwas Solides, Verläßliches anschließen. Haider hat zudem seine „Ablehnung“ der Maastrichter Perspektive mit allerlei „Bedingungen“ und „Hausaufgaben“ verknüpft, er hat also jede Menge „politischen Spielraum“ — was soll die Aufregung?

[*Hier, dünkt’s mich, irrt der Autor sehr. G.O.

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