FORVM, No. 179-180
November
1968

Zur Psychopathologie der Parteien

Nachfolgendes wird manchen meiner Parteifreunde zu pauschal sein. Mir eigentlich auch (außer in der konkreten Kritik an mir, die ich als richtig akzeptiere). Anderseits ist dies endlich ein saftiger Beitrag zur längst anständigen wissenschaftlichen Kritik des Parteiwesens in Österreich. Er bedarf gewiß noch der Verfeinerung — vor allem aber des Bedenkens in den Parteien selbst. Denn die SPÖ sitzt hier nur stellvertretend auf der sozialpsychologischen Anklagebank.

G. N.

Das besondere Ziel und der erklärte Stolz der Sozialistischen Partei war stets ihre maximale innere Geschlossenheit. Dazu konnte etwa die Österreichische Volkspartei nie finden: die in ihr organisierten sozialen Interessen sind zu widersprüchlich, als daß sie auf die Ideologie größtmöglicher Einheit vereidigt werden könnten.

In diesem Sinne ist die ÖVP tatsächlich „entideologisiert“, da zumindest Bauern- und Wirtschaftsbund in ihr wesentlich nur ein Instrument zur Durchsetzung klassenspezifischer wirtschaftlicher Ziele sehen. Die Bauerndemonstrationen der jüngsten Zeit haben deutlich genug gezeigt, wie schwach die politische Identität in dieser Partei ausgebildet ist; die Volkspartei ist — von der Position des ÖAAB soll hier abgesehen werden — als politische Organisation weitgehend zweckrational, „lobbyistisch“ bestimmt.

Anders die Sozialistische Partei: ihr pragmatischer Kern (Vertretung der Interessen der Arbeiterschaft) ist von einem auf den ersten Blick freischwebenden Mantel revolutionärer oder zumindest systemtranszendierender Ideologie umgeben. Der Widerspruch zwischen der pragmatischen, unter anderem im SPÖ-Wirtschaftsprogramm theoretisch manifest gewordenen Politik und dem Anspruch auf grundlegende Veränderung der Gesellschaft erklärt sich aus dem historischen Funktionswandel der Partei. Durch diesen wurde der ideologische Überbau jedoch, im Gegensatz zur SPD, nur mäßig in Mitleidenschaft gezogen. Diesem zum Ritual gewordenen Überbau ist eine gewisse Systemrationalität nicht abzusprechen, da er zur Begründung der klassenkämpferischen Integrations- und Einheitsideologie dient.

Demokratisch behauptet die Partei zu sein, da es „im Aufbau der Sozialistischen Partei von der Basis bis zur Spitze, von den untersten Einheiten in Lokalorganisationen und Sektionen bis zum Parteivorstand, nur gewählte Leistungskörperschaften und Delegiertenkonferenzen“ gibt (Czernetz, „Zukunft“ 11/12/63). Für die kritische Beurteilung dieser gewählten Körperschaften gibt Czernetz folgende grundsätzliche Weisung („Zukunft“ 6/66):

Alle unsere Überlegungen, unsere ganze Kritik ist beherrscht von unserer unwandelbaren sozialistischen Überzeugung und von unserer unerschütterlichen Treue und Liebe zu unserer großen Gesinnungsgemeinschaft, der Partei.

(Hervorhebung d.d.Verf.) Die Frage lautet: Was ist der Begründungszusammenhang dieser „unerschütterlichen Liebe und Treue“? Rationale Einsicht des einzelnen in die Unerträglichkeit und Veränderbarkeit seiner sozialen Lage oder Angst und manipulativer Druck?

Nach Freud ist Angst ursprünglich stets Angst vor Liebesentzug. Liebesentzug kann auf das Individuum eine schwererwiegende Wirkung ausüben als körperliche Strafe. Je ich-schwächer das Individuum, um so stärker das Bemühen um Identifikation, um Übereinstimmung mit denen, die Liebe, Geborgenheit usw. zu gewähren vermögen. Dahinter steckt die permanente Angst des Subjekts, das sich nie als ein „Selbst“ erfahren hat: ohne die große Gruppe bin ich verloren, hilflos, meine Liebe ist die Gewähr für ihre Solidarität.

Die „unwandelbare sozialistische Überzeugung“ wird gespeist aus der latenten Drohung, die Identität mit dem mächtigen Über-Ich, dem Kollektiv, einzubüßen und jener Sicherheit verlustig zu gehen, die das ich-geschwächte Individuum nur in der streng normfixierten Großgruppe finden kann.

Czernetz hätte ebensogut sagen können:

Geh nicht zu weit in deiner Kritik, sonst verscherzt du dir unsere Liebe und Solidarität, und du bekommst deine wirkliche Schwäche und Einsamkeit voll zu spüren.

Wo nicht die rationale Einsicht in das gesellschaftliche Interesse den Zusammenhalt herstellt, dort ist der Motor des Konsensus die Angst. Nicht der einzelne bestimmt die inhaltliche Übereinkunft, sondern die Dynamik des Ganzen lebt aus der Angst des Individuums vor dem Verlust seiner Identität.

Die Angst vor dem Über-Ich soll normalerweise kein Ende finden, da sie als Gewissensangst in den sozialen Beziehungen unentbehrlich ist ...

(Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Ges. Werke, Bd. 15, S. 95).

Die Identifizierung, das heißt Sicherung von Solidarität und Liebe, erfolgt durch die Übernahme von Vorbildern, deren Anerkennung und Verinnerlichung die Angst bannen soll. Diese Angst ist das „affektive Vehikel der Anpassung“, nicht etwa Kritikfähigkeit und Einsicht.

Reizwörter wie „Ordnung“, „Einheit“, „Sicherheit“, „Größe“ signalisieren dem kritik- und ich-schwachen Individuum die Aufforderung zu prompter Beantwortung, hinter der die Angst vor der jeweiligen Negation steht.

Daß die „Liebe zur Partei“ letztlich auch durch den Verzicht auf Liebe zu einem Menschen, durch Enterotisierung sozialer Beziehungen erkauft ist, hat eigentlich schon Karl Kraus mit seiner Bemerkung vorweggenommen, die Sozialdemokratie habe nie einen Zweifel darüber gelassen, daß das Wort „Genosse“ nicht von „genießen“ kommt.

Die gestauten Triebstrebungen unterdrückter Sexualität werden positiv umgelenkt auf die Partei, die zur „großen sozialistischen Familie“ hinaufgejubelt wird. Die ständige Betonung der Größe der Partei verweist in Wirklichkeit auf die Ängste und Minderwertigkeitsgefühle ihrer Mitglieder.

Das Mithineingenommensein in das Große und Mächtige soll das Gefühl der realen Machtlosigkeit kompensieren.

Die Unterwürfigkeit gegenüber mächtigen Autoritäten ist aber nur der eine Aspekt solch pervertierter Identitätsfindung. Damit untrennbar liiert sind Haß und Abneigung gegen Schwache, gegen Unintegrierte. Brüllende Parteisekretäre sind die Verkörperung dieser Ambivalenz.

Rituale und Zeremonien werden von der Psychoanalyse als Mittel verstanden, die Gefahr unkontrollierter affektiver Äußerungen zu bändigen. Das schwache, durch bloße Identifikation hergestellte Ich soll in der Signalform des Rituals politische Zusammenhänge angstfrei und beherrschbar erleben. Alles wird verständlich, gesellschaftliche Inhalte reduzieren sich auf Parolen, Fahnen und Blasmusik.

Indem die komplexen Verknüpfungen des Gesellschaftlichen negiert werden, erscheint das Bestehende als durchsichtige Summierung isolierter Einheiten: am Vormittag Kundgebung, am Nachmittag Trachtenkappellen.

Jegliche individuelle Selbsttätigkeit wird aufgehoben, Angst und Unsicherheit finden in der ritualisierten Projektion auf den Außenfeind ihre Beschwichtigung — die Welt bleibt in Ordnung. Das „Erlebnis der Gemeinschaft“, von sozialdemokratischen Führern als Antizipation sozialistischen Lebens allzuoft beschworen, ist die politische Verwertung der kollektiven Neurose: die nur mühevoll gelenkten Triebe, nicht integrierbar von einem autonomen Ich, werden systemkonform kanalisiert zur Angst vor dem „Außen“ und zur Suche nach Schutz.

Die empörten Reaktionen auf die „Störung“ des Blasmusikfestivals vom 1. Mai dieses Jahres sind nur zu verständlich: wo das Ritual gesprengt wird, treten die Machtlosigkeit und Einsamkeit des einzelnen schlagartig zutage. Der Schock kann nur überwunden und die zerbrochene Identität nur wiederhergestellt werden durch neuerliche Ritualisierung, diesmal der Abwehr. Die prügelnde Polizei wird zum willkommenen Objekt der Identifikation der Machtlosen mit der ▒▒▒▒▒ [*] Rituals plötzlich freigesetzte Aggressivität findet ihre verwaltete Erfüllung in der legitimierten Aggression der Polizei.

Politisches Ritual läßt sich also verstehen als Beherrschung und Lenkung der Aggression in einem. Die manipulative Verwertbarkeit und Wirksamkeit zeremonialisierter Politik erfließt aus der Unsicherheit der individuellen Rollenfunktion, die sich in Aggressivität gegen das „Außen“, in paranoischer Angst vor Nonkonformen niederschlägt.

Das schwache Ich delegiert Gewissen und Persönlichkeit an parteibeamtete Zeremonienmeister und rituelle Vollzugsformen, die es gar nicht kritisch überprüfen will, da Kritikfähigkeit zu infantilem Identifizierungszwang degeneriert wird.

XPÖ wäscht weißer

Teilnahme des einzelnen am politischen Geschehen regrediert auf die parteihierarchische Verwaltung seiner Ängste und der daraus gespeisten aggressiven Wunschprojektionen. Nicht das Finden des eigenen Selbst durch freie Praxis in der Organisation, sondern das „Sich“-Wiederfinden in den Normen des Kollektivs macht den Inhalt der Parteimitgliedschaft aus.

Im repressiven Kollektiv dürfen nur rollengerechte Gefühle, Gedanken usw. in Erscheinung treten. Besonders bei stark ausgeprägter kollektiver Identität wächst das „Grenzbedürfnis“, der Wunsch nach scharfer Unterscheidung von innen und außen. Stabilisiert wird dieser Zwangsmechanismus durch die ritualisierte Ableitung von Angst und Aggressivität auf den Außenfeind.

Die Herausbildung regelrechter Phobien ist dabei keine Seltenheit. So äußert sich der hysterische Antikommunismus der SPÖ, der während der ČSSR-Krise seine Kapriolen schlug, in extremer Berührungsangst: Dubček wurde entweder in einen „Eh-schon-Sozialdemokraten“ umfunktioniert oder als „Immer-noch-Kommunist“ betrachtet, der den Freiheitsdrang der Bevölkerung nicht mehr zu bremsen vermocht hatte. Übereinstimmung mit ihm als einem Kommunisten wäre unerträglich gewesen.

Die bewußten und unbewußten Ängste werden zum Teil in reaktiven charakterologischen Ausbildungen gebunden: pedantischer Reinlichkeits- und Ordnungssinn, auch in politischen Belangen. Die Vorliebe für politische „Sauberkeit“ und die geile Befriedigung am perfekten Ritual weisen auf die drängende Macht des unterdrückten, „unsauberen“ Triebes. Die Ablehnung des Dialogs mit den Kommunisten und der Hang zu Waschmittelslogans bilden eine psychodynamische Einheit: der Schmutz muß weg.

Der Unintegrierte wird in der Partei zur eigentlichen Gefahr, nicht weil er durch Aufklärung Veränderung schaffen könnte (an solchen Minderwertigkeitsgefühlen leidet die Parteimaschine nicht), sondern weil allein schon sein Abweichen das labile Gleichgewicht von organisierter Angriffslust und verinnerlichter Unterdrückung in Frage stellt.

Auseinandersetzungen können deshalb gar nicht rational und sachlich erfolgen, da es nicht „um die Sache geht“. Psychodynamisch steht die Abweichung im Vordergrund, der Ausbruch, die Gefährdung des institutionalisierten Rollenspiels.

Da die Lösung des Konflikts nicht innerhalb der Organisation verkraftet werden kann, erfolgt seine Projektion nach außen: in die „Hinterhöfe der Reaktion“, auf die KPI und — gut, daß es ihn gibt, wo doch Dutschke nicht mehr da ist — auf Cohn-Bendit, der sich rasch „überwuzelt“ und in Günther Nenning seine Zweitgeburt erlebt.

Gegen Günther Nennings parteikritische Aktivität wären vor allem aus diesem Blickwinkel Bedenken anzumelden. Indem er den Konflikt personalisiert und im wesentlichen auf eine Auseinandersetrzung Nenning—Kreisky einengt, mobilisiert er genau jene Manipulations- und Angstmechanismen, gegen die er ankämpfen möchte. Nenning läßt sich allzu willig zum greifbaren Außenfeind stempeln. Statt jene Strukturen des Bewußtseins und der Organisation zu kritisieren, deren Produzent wie Produkt Kreisky ist, lokalisiert er die Brennpunkte der Auseinandersetzung in einzelnen Personen.

Wo die projektive Konfliktlösung durch die Einheit von Aufklärung und praktischer, erlebbarer Durchbrechung autoritärer Bewußtseinsbindungen verhindert werden müßte, projiziert Nenning munter zurück: er überläßt so das Schlachtfeld dem Gegner, bevor die Schlacht noch begonnen hart.

Kreisky war für die Reformer alten Typs nicht umsonst eine Hoffnung: Glaubten sie doch, ein Mann von unbestreitbaren intellektuellen Qualitäten wie Kreisky werde die Phrase der Kritik durch die Kritik der Phrase ersetzen. Wie unrealistisch diese Erwartungen waren, hat vor und trotz allem die systematische Provokation Nennings bewiesen. Darin liegt möglicherweise ihre wirkliche und einzige Chance.

Kein anderer repräsentiert das Dilemma der SPÖ (und der anderen großen politischen Gruppierungen) mehr als gerade Kreisky. Seine Flucht in Rituale, sein charismatischer Habitus und seine deftig-heftigen Reaktionen auf jedwede Kritik stehen nur in scheinbarem Gegensatz zu seinem technokratischen Reformeifer. Gerade weil er so intelligent und sensibel ist, die Gefährdung und den Anachronismus der bestehenden Organisationsformen (d.h. auch seiner eigenen Position) durch die anlaufende technokratische Reform zu erkennen, muß er in seinen politischen Äußerungen auf rituelle Primitivismen zurückgreifen, um die widersprüchlichen Kräfte zur Einheit zu manipulieren.

Die traditionellen Apparate werden zunehmend Macht und Einfluß an Experten abzugeben haben, ihre Aufgabe wird in der politischen Transmission technokratischer Daten und Werte bestehen. Diese gigantische Bedrohung der überkommenen Struktur wird keineswegs mit zwingender Notwendigkeit zu einer „Verwissenschaftlichung“ der Politik, zu einer Rationalisierung des Parteilebens führen. Viel wahrscheinlicher ist die Verstärkung des psychologischen Konformitätsdrucks durch aggressive Freund-Feind-Schemata und ein ausgeprägtes Grenzbedürfnis, um derart die bedrohte organisatorische und organisationspsychische Stabilität zu retten.

Die technokratische Reform steht keineswegs in Widerspruch zur Möglichkeit einer solchen Entwicklung. Spezialisierung einer Rollenfunktion und infantiles Sozialverhalten können sich geradezu gegenseitig bedingen. Das spezialisierte Nebeneinander hochtechnisierter Vollzugsformen ist geeignet, die Kritik und Sensibilität gegenüber der falschen und entmenschlichten Rationalität des Ganzen zu brechen. Um erkennen zu lassen, wie sehr Sach- und Affektbildung auseinanderzutreten vermögen, muß man ja nicht erst auf die Schreibtischterroristen des Dritten Reiches verweisen.

[*▒▒▒▒▒ Hier ist offenbar eine Textportion dem Umbruch zum Opfer gefallen.

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