FORVM, No. 157
Januar
1967

Achtung, Maulkorb!

An die Delegierten des Parteitags der SPÖ:

Liebe Freunde,

normalerweise würde ich das Folgende Euch auf dem Parteitag sagen können. Die innerparteiliche Kritik auf diesem Parteitag wird jedoch den Schönheitsfehler haben, daß die Vertreter bestimmter Meinungen dorthin nicht delegiert wurden.

Normalerweise könnte ich das Folgende auch in Parteiorganisationen sagen, die mich als Referenten einladen. Diese Form der innerparteilichen Kritik hat jedoch den Schönheitsfehler, daß ich mit einem administrativen Redeverbot belegt bin (welches freilich nur sehr mangelhaft befolgt wird).

Normalerweise könnte ich das Folgende auch in der Diskussionsrubrik der „Arbeiter-Zeitung“ sagen. Diese Form der innerparteilichen Kritik hat jedoch den Schönheitsfehler, daß der Chefredakteur der AZ nicht im Besitz seines kollektivvertraglichen Rechtes auf selbständige Führung der Redaktion ist (§ 2, lit. b, Kollektivvertrag für Tageszeitungen), sondern der Kontrolle des Parteivorstandes unterliegt (§ 22, Z. 3, Parteistatut); die Fortführung der innerparteilichen Diskussion in der AZ wurde ihm vom Parteivorstand verboten; dafür, daß er sie eingeführt hat, wird er womöglich anläßlich des Parteitags mit Absetzung bestraft werden.

Normalerweise könnte ich das Folgende auch in der „Zukunft“ sagen. Diese Form der innerparteilichen Kritik hat jedoch den Schönheitsfehler, daß die „Zukunft“, anders als jede andre Redaktion, einen Monopolanspruch auf Autoren erhebt; Sozialisten sollen nur in der „Zukunft“ diskutieren [1] — zugleich aber, wie jede andre Redaktion, erhebt sie den Anspruch, Autoren nach ihrem Belieben anzunehmen oder abzuweisen.

Mir war es seit dem Tod meines Freundes Oscar Pollak nur noch unter unsäglichem Aufwand an Zeit, Nerven, Mühe und Geduld möglich, in der „Zukunft“ zu publizieren. Meine Artikel wurden Satz für Satz auseinandergenommen — in langen Diskussionen mit Abgesandten des für den Autor unerreichbar thronenden Chefredakteurs —, insbesondere mußte jeweils jede direkte oder indirekte Kritik am Chefredakteur entfernt werden.

Dies ging so lange, bis es mir einfach zu dumrn wurde, jeden kritischen Gedanken durch die geisttötende Wurstmaschine solcher „Vorzensur“ der „Zukunft“ drehen zu lassen.

Ist das die innerparteiliche Demokratie der Zukunft: Außerparteiliche Kritik ist verboten; innerparteiliche Kritik wird nicht gedruckt —?

Die Frage ist nicht so absurd, wie sie Euch, liebe Freunde, immer noch erscheinen mag.

Normalerweise würdet Ihr, was ich Euch im Folgenden sage, ohnehin schon wissen. Aber seit längerem werden Anträge an den Parteitag nicht mehr in den sozialistischen Parteiorganen veröffentlicht, so daß sie der breiten innerparteilichen Diskussion entzogen bleiben und dem gewöhnlich sterblichen Mitglied, Funktionär oder auch Parteitagsdelegierten erfahrungsgemäß erst im letzten Augenblick bekannt oder bewußt werden.

Dem Parteitag wird vermutlich der folgende Antrag vorliegen:

Statutenänderung. Zusatz zu § 4, als 3. Absatz. Der Partei kann ferner nicht angehören ..., wer in der Öffentlichkeit gegen die Partei und deren Beschlüsse oder Vertrauenspersonen auftritt.

Ihr werdet diesen Antrag vermutlich beschließen, so wie Anträge eben beschlossen werden: voll guten Willens.

Niemand oder fast niemand wird Euch darauf hinweisen, daß unsere große demokratische Partei in den schwersten Zeiten der Ersten Republik ohne solchen Maulkorb-Paragraphen ausgekommen ist; auf dem Linzer Parteitag 1926 wurde ein ähnlicher Antrag (Nr. 49, Wien XVIII, Protokoll S. 440) glatt abgelehnt.

Niemand oder fast niemand wird Euch darauf hinweisen, daß unsere große demokratische Partei in den schwersten Zeiten der russischen Besetzung ohne solchen Maulkorb-Paragraphen ausgekommen ist; ein Erwin Scharf wurde wegen organisatorischer Tätigkeit zugunsten der KP ausgeschlossen, nicht wegen parteikritischer Meinungsäußerungen in der Öffentlichkeit.

Niemand wird Euch darauf hinweisen, daß Fritz Adler seine große Gerichtsrede gegen den Parteivorstand nicht hätte halten, Karl Renner seine parteikritischen, in Deutschland verlegten Schriften nicht hätte veröffentlichen, die gesamte „Linke“ in Zimmerwald und Kienthal nicht den Mund hätte aufmachen dürfen, wenn es damals diesen Maulkorb-Paragraphen schon gegeben hätte; sie wären alle ausgeschlossen worden.

Niemand wird Euch darauf hinweisen, daß Ihr mit Eurer Abstimmung die erste sozialdemokratische Partei der ganzen Internationale schaffen werdet, die nicht bloß organisatorische Zusammenarbeit mit dem politischen Gegner verbietet (wovon der bisherige § 4 handelt), sondern die öffentliche Meinungsäußerung ihrer Mitglieder.

Niemand wird Euch darauf hinweisen, daß „dem Parteimitglied trotz Anerkennung der Parteidisziplin das Recht eingeräumt und gewährleistet sein muß, auch nach Beschlußfassung und bei loyaler Durchführung des gefaßten Beschlusses, seine eigene Ansicht und allenfalls ablehnende Auffassung über den Inhalt des gefaßten Beschlusses nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern auch offen und unumwunden innerhalb und außerhalb der Partei zu äußern. Die Parteidisziplin darf weder das Recht auf die Freiheit des Denkens, noch das Recht auf die Freiheit der Meinungsäußerung in Wort und Schrift beschränken. Will die Parteidisziplin nicht nur die Durchführung des Beschlusses, sondern auch die Identifizierung mit dem Beschluß erzwingen, wird sie zur Gefahr für die Freiheit des Einzelnen und damit zur Gefahr für die Freiheit der Gesellschaft. Die Fortentwicklung eines solchen Zwanges müßte in der Totalität münden, deren konsequenteste Entwicklungsstufe unweigerlich von der Gedankenpolizei des Orwell’schen Zukunftsstaates beherrscht wird.“

Vielleicht täusche ich mich in diesem Punkt. Vielleicht wird Euch auf die Gefahren des Orwell’schen Gedankenpolizei-Paragraphen, den Ihr da beschließen sollt, wenigstens der Autor obiger Sätze verweisen. Er heißt Christian Broda. [2]

Vielleicht wird Christian Broda sich zu Wort melden und sagen: „Ich stehe zu dem, was ich da geschrieben habe und stimme daher gegen den Maulkorb-Paragraphen.“ Oder aber er wird sagen, was demokratisch gleichermaßen zulässig wäre: „Ich habe mich damals geirrt. Heute denke ich anders. Daher stimme ich für den Maulkorb-Paragraphen.“

Dann gibt es noch die dritte Möglichkeit: daß Broda schweigen und schweigend dafür stimmen wird.

Niemand wird Euch auf den Unterschied verweisen zwischen der Zurückhaltung von Spitzenfunktionären, die eine Meinung der Partei in den Spitzengremien selbst miterarbeitet haben und in der Öffentlichkeit dann nicht gut das Gegenteil davon vertreten können, und einem Maulkorb für das einfache Mitglied sowie insbesondere für den sozialistischen Publizisten von Berufung und Beruf.

Niemand wird Euch vermutlich berichten, daß schon 1964, als ähnliche Bestrebungen im Gang waren, die sozialistische Fraktion der Gewerkschaft Kunst und Freie Berufe und der Sektion Journalisten in dieser Gewerkschaft eindringlich und ausführlich warnten; [3] ein solcher Maulkorb-Paragraph würde den ohnehin nur tröpfelnden Zustrom von Intellektuellen zur SPÖ vollends versiegen lassen und die wenigen Intellektuellen, die in der Partei sind, noch tiefer in die innere Emigration treiben.

Niemand wird Euch darauf hinweisen, daß ein ähnlicher Maulkorb-Paragraph sich nur noch im Statut der KPÖ findet (§§ 4 und 27) — und nicht einmal dort in solcher Schärfe; [4] was soll ein solcher Maulkorb-Paragraph im Statut einer sozialdemokratischen Partei zu einer Zeit, da überall sonst der Stalinismus zum Sterben kommt?

Niemand wird Euch sagen, daß in einer Demokratie die staatsbürgerlichen Grundrechte, z.B. die Meinungs- und Gewissensfreiheit, durch den Beitritt zu einer Partei gar nicht aufgehoben werden können; wie werdet Ihr die nächste Werbeaktion führen?: „Arbeiter! Angestellte! Kommt zu uns! Nur beim Reden müßt Ihr aufpassen. Ob Ihr innerparteilich diskutieren dürft, entscheidet der Parteivorstand, welcher statutengemäß die Parteipresse kontrolliert; wenn Ihr außerparteilich diskutiert, werdet Ihr statutengemäß hinausgeschmissen.“ Niemand wird Euch darauf hinweisen, daß ein auf indirekte Weise, in mehrstufiger Delegation gewähltes Gremium, wie es der Parteitag ist, eine solche Gesamtänderung der Parteiverfassung — von gut demokratisch auf beinahe stalinistisch — guten Gewissens gar nicht beschließen kann; dazu wäre eine Urabstimmung unter den Mitgliedern nötig.

Liebe Freunde, man wird Euch sagen: Darum geht es nicht, es ist ja nur eine „Lex Nenning“ (wie der famose Paragraph heute schon im Kreis der Wissenden genannt wird). Das ist eine Irreführung. Wer wie ich zwei Jahrzehnte in Wort und Schrift zugunsten des Sozialismus hinter sich hat — dem kann ein Stück Papier mit einem Paragraphen drauf den Mund nicht stopfen.

Wenn man mich säubern will, wird der Paragraph dabei keine Ausrede liefern. Die Säuberer werden vor der Partei, vor den Wählern, vor der Internationale mit ihrem wahren Motiv geradestehen müssen: „Sein Sozialismus hat uns nicht gepaßt; wir haben ihn gesäubert, weil er anderer Meinung war.“

Nein, Freunde, das ist kein Paragraph gegen den bösen Nenning, das ist ein Paragraph gegen die Partei: diese große Bewegung zur Sonne der Freiheit droht nun zum Gespött und zur Schande der Internationale zu werden. Laßt nicht zu, daß diese stolze, kraftvolle Partei reduziert wird auf ein Häuflein Unmündiger, die sich bei der innerparteilichen Diskussion von ein paar Gouvernanten der Demokratie und des Sozialismus anschaffen lassen, was demokratisch und was sozialistisch ist, was sie sagen und schreiben dürfen und was nicht — und bei der öffentlichen Diskussion um sich blicken, ob niemand in der Nähe ist, der sie bei der nächsten Bezirksorganisation wegen Verstoßes gegen die Statuten anzeigt.

Für den Sozialisten, der über seine Partei, seine Idee und deren Träger spricht, gibt es keine andere Instanz als sein eigenes Wissen und Gewissen; niemand kann ihm diese Instanz ersetzen, schon gar nicht ein Parteivorstand, der aus Menschen besteht, die, was Gewissensfragen betrifft, so gut und so schlecht, so klug und so dumm sind wie er selbst.

Ich sage im Bewußtsein lang erwogener Verantwortung, aber auch Berechtigung eines Menschen, der für den Sozialismus brennt, auch bereit ist, für ihn verbrannt zu werden: Wer immer auf diesem Parteitag die Hand heben wird zugunsten jenes Maulkorb-Paragraphen, der hebt die Hand gegen den Sozialismus als Bewegung der Freiheit.

Ich weiß schon, Ihr werdet wahrscheinlich dennoch für den Maulkorb stimmen.

Das ist mir kein Anlaß zur Verzweiflung. Die Bewegung des Sozialismus in der Welt ist unvergleichbar größer als die große österreichische Partei. Sie wird siegen, auch wenn Ihr versagen werdet.

Und dies in einer Zeit der gewaltigen Chance, zur großen Opposition zugunsten der Freiheit in diesem Lande aufzuwachsen! Aber für die Freiheit kann nach außen nur kämpfen, wer innen selber frei ist.

Nach dem Zahltag, nämlich Wahltag, werden wir uns dann zusammensetzen und beraten, wie unsere Partei wieder in die Höhe zu bringen sei.

Bis dahin herzliche Freundschaftsgrüße

Eures
Günther Nenning

[1Bruno Pittermann definierte im ersten Heft der neugestalteten „Zukunft“, Januar 1963, diese als eine Zeitschrift, „in der alle Sozialisten, aber auch Andersgesinnte ihre Ansichten offen und frei äußern sollen. Doch die Sozialisten ausschließlich in der dafür bestimmten sozialistischen Zeitschrift, in der „Zukunft“.

[2Christian Broda: Demokratie, Recht, Gesellschaft. Europa Verlag, Wien—Stuttgart—Zürich, S. 184 f.

[3Siehe die Auszüge auf den folgenden Seiten unter dem Titel „Gegen den Maulkorb“.

[4§ 4 des Statuts der KPÖ:

Alle Mitglieder sind an die Parteidisziplin gebunden. Die Beschlüsse der Mehrheit sind für alle verbindlich. Alle Beschlüsse höherer Parteiorganisationen sind für die unteren Parteiorganisationen und für alle Mitglieder bindend.

§ 27 des Statuts der KPÖ:

Die Tätigkeit von Parteimitgliedern ... bei Zeitungen ... die nicht Parteiorgane sind ... bedarf der vorherigen Zustimmung der zentralen Instanz der Partei.

Das öffentliche Auftreten, d.h. die außerparteiliche kritische Meinungsäußerung gegenüber der Partei, deren Beschlüsse oder Vertrauenspersonen, wird also, im Gegensatz zur vorgeschlagenen Statutenänderung der SPÖ, nicht einmal im Statut der KPÖ ausdrücklich verboten.

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