FORVM, No. 103/104
Juli
1962

Am linken Ufer der Moskwa

Als ich in Moskau ankam, schien der XXII. Parteikongreß noch jedermann gegenwärtig, und die literarischen Kreise der Stadt waren voll Gerüchte und Prophezeiungen. Die Meinungen, die man über Kunst und sogar Politik darbot, waren so mannigfach schattiert, daß ich zunächst den Eindruck einer intellektuellen Gärung gewann, die mir kräftig genug erschien, um, für sich selbst genommen, als Anzeichen einer unwiderstehlichen Veränderung zu gelten. Dann jedoch unternahm ich Vergleiche mit der Hochstimmung im Gefolge der ersten Attacken auf Stalin und gelangte zur Ansicht, daß die Erneuerung der antistalinistischen Kampagne eine Atmosphäre geschaffen hatte, die weniger Optimismus enthielt als damals — und dafür mehr Nervosität.

An Gründen hiefür nannten mir meine Gesprächspartner erstens die Enttäuschung der 1956 geweckten Hoffnungen, zweitens den Glauben, daß jeder wirkliche Fortschritt zur Meinungsfreiheit durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes blockiert sei („Erst ein wirtschaftlich prosperierendes Land kann sich eine liberalere Politik leisten“) und drittens die Tatsache, daß die Regierung zwar die Zügel viel lockerer läßt als unter Stalin, daß jedoch kein Wechsel in der Dogmatik stattgefunden hat. Das Gewicht, das die Sowjetbürger hierauf legen, läßt sich schwerlich übertreiben.

Tatsächlich bekennen sich Stalinisten wie Antistalinisten trotz den sonstigen, beträchtlichen Unterschieden zwischen ihnen zur Doktrin des „Sozialistischen Realismus“, mit der alle Künstler konform gehen müssen, und sie definieren diese Doktrin auf gleiche Weise. Ein junger Dichter in der Provinz, im übrigen ein orthodoxer Antistalinist, versicherte mir: „Unser Vorteil gegenüber den westlichen Autoren besteht darin, daß wir zwar möglicherweise weniger Talent haben, jedoch wissen, wohin wir gehen.“ Keiner der beiden anderen Autoren, die an der Konversation teilnahmen, wandte sich gegen diese Verteidigung der Mittelmäßigkeit, welche tatsächlich immer noch die korrekte Doktrin darstellt — heute wie zu Stalins Zeiten.

Worauf es wirklich ankomme, erläuterte mein Gesprächspartner, sei „die Botschaft“, obgleich der „Stil“ insofern Bedeutung habe, als er das Vehikel sei, mit dem die Botschaft zu den Massen gebracht werde. Talent, schien er zu meinen, sei desto gefährlicher, weil es mißbraucht werden könnte.

Ein Romanautor in der Provinz — er hatte einen Bestseller geschrieben, und ein Tugendleuchten überglänzte sein Gesicht, so oft er davon sprach — attackierte die „bourgeoise Fiktion“ eines Publikums von Kennern. „Proust war ein Snob, der für Snobs schrieb. Unsere Pflicht ist es, für die Massen zu produzieren. Was kann also ein besserer literarischer Maßstab sein als die Massenauflage?“ In Moskau hört man solche Ansichten kaum derart unverblümt, aber kürzlich wurden sie in substantiell gleicher Weise von dem reaktionären Literaten Kochetow geäußert, welcher seither zum Herausgeber der wichtigen Literaturzeitschrift „Oktjabr“ avançiert ist. Anderseits konnte der liberale Autor Twardowski, Herausgeber der gleichermaßen wichtigen Zeitschrift „Nowij Mir“, seinen Kollegen Kochetow auf dem jüngsten Schriftstellerkongreß anscheinend ungestraft attackieren.

Offensichtlich ist etwas Neues in Entwicklung begriffen, obgleich die grundsätzliche Konzeption vom Schriftsteller als „Chefpropagandisten“ öffentlich nicht in Frage gestellt wird. Anscheinend hat der Schriftsteller weiterhin die positive Pflicht, dem Sowjetmenschen den Weg zum Ziel zu weisen, indem er ihm ein Bild der Gesellschaft „im Licht der Zukunft“ präsentiert, und die negative Pflicht, sich nicht mit der Schilderung unangenehmer Tatsachen aufzuhalten, welche als Kristallisationskerne für oppositionelle Elemente dienen könnten. Im Grunde geht es bloß um die Frage, ob der Autor als Mörtel für das von ihm zu errichtende Gebäude vielleicht ein bißchen mehr „Wahrheit“ verwenden darf als bisher.

Sich vorzugsweise mit der Wahrheit zu beschäftigen, scheint mir eine Tendenz zu sein, die tiefer reicht und weiter um sich greift als je zuvor in der russischen Geschichte. Wahrheit ist ein wesentliches Ziel des „Neuen Humanismus“ unter den orthodoxen jungen Intellektuellen. Auf einer Veranstaltung in Leningrad sagten mir einige junge Leute: „Bisher waren wir zu sehr damit beschäftigt, äußeren Druck abzuwehren. Nun müssen wir der Wahrheit mehr Beachtung schenken, der Ehrlichkeit, Güte und Toleranz in den menschlichen Beziehungen. Wir dürfen uns weniger mit äußerlichen Dingen befassen und müssen unseren Blick nach innen kehren.“

Jugend contra Heuchelei

Der jugendliche Widerwillen gegen Heuchelei ist das Thema eines vor kurzem entstandenen Theaterstücks, in welchem der Held das Recht auf selbständiges Denken fordert. Er weigert sich, in die Partei einzutreten, weil er „ja oder nein sagen will, wenn er dies wirklich wünscht und nicht, wenn es ihm die Partei vorsagt ...“

Die selbe Tendenz spiegelt sich mit verblüffender Frische in den Kurzgeschichten junger Autoren wie Kasakow und Tendrjakow, welche das tägliche Leben außerhalb der großen Städte mit echtem Realismus schildern. Die Geschichten haben nichts Subversives an sich. In jeder Sammlung gibt es einige mit den vorgeschriebenen Themen. Der Rest ist unpolitisch und kann nach rein literarischen Maßstäben beurteilt werden. Die Autoren machen keine Stilexperimente, sondern setzen die guten Traditionen des 19. Jahrhunderts fort. Sie beobachten ehrlich und nützen, was sie sehen, zu eigenen Feststellungen über das Leben.

Die jungen Autoren haben diese Richtung nicht ohne Unterstützung einiger ihrer älteren Kollegen eingeschlagen. Alexander Twardowski, der einige besonders lebendige Geschichten junger Autoren herausgegeben hat, ist fast eine Generation älter als seine Schützlinge. Die selbe Jugendfrische findet sich in der Anthologie „Tarusa“, deren Herausgeber, Konstantin Paustowski, gleichen Alters mit Pasternak ist, die vielleicht beste zeitgenössische Prosa Rußlands schreibt und eine Integrität ausstrahlt, die ihm allgemeine Bewunderung und allgemeinen Respekt eingetragen hat.

Das Erscheinen dieser Anthologie war bei meiner Ankunft in Moskau die literarische Sensation der Stadt. Paustowski erzählte mir die Entstehungsgeschichte des Werkes. Ich traf ihn in Moskau, aber er verbringt den größten Teil des Jahres in Tarusa, einem Dorf, das in der Nähe von Kaluga liegt und ein traditioneller Aufenthaltsort für Künstler und Schriftsteller ist. Im Jahr 1960 legten ihm einige jüngere Autoren den Plan dar, eine Sammlung von Erzählungen, Skizzen und Gedichten der Ortsansässigen zu veranstalten. Er willigte ein, als Herausgeber zu fungieren. 70.000 Exemplare wurden in Kaluga gedruckt und sodann auf den Markt gebracht. Als 4.000 Exemplare verkauft waren, bemerkte die Obrigkeit (Paustowski erzählte mir dies nicht, aber viele andere versicherten mir, es sei wahr), daß „Tarusa“ das Licht der Welt erblickt hatte, ohne die offizielle Maschinerie zu passieren. Der Verkauf wurde eingestellt. Paustowski beschwerte sich „an höchster Stelle“ und einige Wochen später war die restliche Auflage wieder in den Buchhandlungen — ein Beweis sowohl für Paustowskis Ansehen wie für das Ausmaß des neuen Liberalismus.

Die Lügenepidemie

Der Band vereinigt eine große Zahl vorzüglicher Beiträge junger sowie auch etablierte Autoren. Aber eine anspruchslose Geschichte über Kinder ist für die Haltung, die in dem Band zum Ausdruck kommt, besonders aufschlußreich. Die Geschichte enthält zwei Beispiele dafür, wie man die Kinder „lügen lehrt“.

Eine Lehrerin läßt ihre Klasse einen Aufsatz über den Mai-Aufmarsch schreiben. Ein Mädchen schreibt, daß es regnete, daß seine Galoschen Löcher hatten und daß es daher nicht mitmarschierte. Die Lehrerin gibt ihr den Aufsatz mit folgendem Kommentar zurück: „Du sagst nicht die Wahrheit. Deine Eltern sind Kulturmenschen. Es ist unmöglich, daß sie dich nicht mitgenommen haben. Beschreibe, was du gesehen hast!“ Das Kind setzt sich gehorsam hin und schreibt: „Es war ein sonniger Morgen, die Arbeiter marschierten in ordentlichen Reihen. Jedermann war fröhlich ...“

Das zweite Beispiel betrifft den Herausgeber einer Kinderzeitung, der seine Leser auffordert, ihm zu schreiben, was sie unternehmen würden, wenn sie tun könnten, was sie wollten. Er veröffentlicht als das angebliche Resultat der Umfrage lediglich Briefe von Kindern, die Krankheiten bekämpfen und Neger befreien wollen. Briefe von Kindern, die sich eine „Gratisfahrt zum Mond“ wünschen oder „eine Zauberfeder, die alle Schularbeiten schreibt“, bleiben weg. Der Autor kommentiert hiezu, daß die Furcht vor der Wahrheit schreckliche Folgen habe. „Die halbe Wahrheit ist keine Wahrheit.“

Als ich dies las, wurde mir bewußt, daß die Russen dem Aufkommen der Wahrheit über Stalin auf dem Parteikongreß deswegen so außerordentliche Bedeutung beigemessen haben, weil Wahrheit für sie das begehrteste und gefürchtetste aller Güter ist. Die offiziellen Enthüllungen über Stalin bezeichneten einige meiner Gesprächspartner als „Garantie dafür, daß so etwas nie wieder geschehen kann“. Aber ich hatte das Gefühl, daß viele Russen die Wahrheit über Stalin einfach deswegen willkommen geheißen haben — und zwar mit dem gleichen Grad von Emotion wie aus dem vorerwähnten Grund —, weil ihnen eben die Wahrheit an und für sich als wertvoll erscheint. „Auch Schweigen heißt lügen“, sagte mir eine Frau, die den Stalinismus glücklich überlebt hatte. Und sie ergänzte: „Wir alle sind von Lügen zerfressen, von Lügen, die wir gehört, von Lügen, die wir gesagt haben.“ Hätte sie damals nicht gelogen, wären andere Menschen zu Schaden gekommen. Ihre Lügen waren bloße Lippenbekenntnisse, mit denen sie niemanden betrügen wollte. Aber sie empfand darüber ein unvernünftiges Maß von Traurigkeit. „Auch solche Lügen“, sagte sie mir, „hinterlassen ihre Spuren.“ Die Lüge in Form des Schweigens oder der halben Wahrheit hat das Land wie eine Krankheit heimgesucht und den Menschen die Last ihrer Erinnerungen unerträglich gemacht.

Lippenbekenntnisse — wie bedeutungslos sie, für sich genommen, sein mochten — wurden unter Stalin erzwungen, weil sie ein Mittel zur Desintegration der Persönlichkeit waren. Die Abwehr bestand darin, daß man versuchte, zumindest die „innere Wahrheit“ und die „innere Freiheit“ zu retten. Dies war eine kostspielige Rettungsaktion, denn man mußte jeglichen Teil seines persönlichen Bewußtseins vor der Preisgabe schützen. Wer sich das nicht leisten konnte, half sich durch gänzliche Flucht aus der Wirklichkeit. Es ist ein Wunder, wie viele Menschen auf diese Weise sich tatsächlich ihre Integrität bewahrten.

Heute werden von denen, die abweichender Meinung sind, viel weniger Lippenbekenntnisse verlangt. Intellektuelle können sich zum großen Teil entziehen, indem sie auf unbedeutenden Posten verbleiben oder Forschungsarbeit betreiben. Aber wer sich gänzlich entziehen will, findet in dieser Gesellschaft der Konformität noch immer so wenig Raum wie ein Wahnsinniger unter den Gesunden, und es ist nur logisch, daß manche Nonkonformisten tatsächlich im Irrenhaus landen.

Die jüngste Vergangenheit wird wahrscheinlich die russische Literatur noch geraume Zeit in Atem halten, schon deswegen, weil die Schriftsteller das Gefühl haben, dies den Opfern schuldig zu sein: den Toten, die bisher nicht geehrt wurden; den Gefangenen, die mit einem halben Bogen Amtspapier verhöhnt wurden, auf dem ihre Freilassung mit dem bündigen Vermerk begründet worden war, daß ihre Verurteilung „irrtümlich“ erfolgt sei.

Alexander Fedin verfaßte jüngsthin einen Kriegsroman, in dem erzählt wird, wie der kommandierende Offizier der Garnison Tula, als die Deutschen vor der Stadt stehen, mit dem Kreml telephoniert und um Panzerabwehrkanonen ersucht. Stalin weigert sich, mit ihm zu reden, und Malenkow verspricht ihm ein Dutzend gewöhnlicher Gewehre. „Solche Tatsachen“, sagte mir Fedin, „kann man jetzt enthüllen.“ Als ich dies gegenüber Freunden erwähnte, fügten sie hinzu: „Und dabei starben Tausende mit Stalins Namen auf den Lippen.“

Die Bedeutsamkeit des XXII. Parteikongresses auf dem Gebiet der Kunst liege darin, erklärte mir Fedin, „daß man über die historischen Fakten nun sprechen und sie in die richtigen Proportionen bringen kann.“ Auch Ilja Ehrenburg sah die Bedeutung des Parteikongresses darin, daß nun die Wahrheit über Stalin — über seine Verbrechen wie über seine Opfer — enthüllt werden könne. Ehrenburg muß schon lang darauf gewartet haben, sich die Last der Vergangenheit von der Seele zu schreiben. Als er mit seinen Memoiren begann, dachte er (wie er mir erzählte), er würde sie mit dem Jahr 1936 abschließen müssen. Nach dem Parteikongreß verkündete er in der „Prawda“, er werde darin auch die Jahre 1937 und 1949 behandeln, somit die beiden Höhepunkte des Terrors. Nun plant er, seine Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1953 weiterzuführen.

Ehrenburg sagte mir, daß die Säuberungen in der Nachkriegszeit weniger schrecklich waren als in den Dreißigerjahren; sie beschränkten sich, Ehrenburg zufolge, auf die Verhaftung von Parteimitgliedern und Opfern der früheren Säuberungen sowie auf das „Massaker unter den jüdischen Schriftstellern“. — „Stalins geniale Begabung für Heuchelei“, ergänzte Ehrenburg, „muß von der Geschichtsschreibung erst aufgedeckt werden. Als die Kampagne gegen die Juden begann, pflegte er sich mit den Juden seiner Umgebung zu beraten, eine bekümmerte Miene aufzusetzen und zu sagen: „Das riecht doch nach Antisemitismus!“

Viktor Nekrassow hat in seinem Roman „Kira Georghiewna“ den „dezenten Schleier“ gehoben, mit dem bisher das Schicksal der zurückgekehrten Gefangenen verhüllt worden war. Der Held seines Buches wird nach Stalins Tod amnestiert und herzlich willkommen geheißen — unter der Bedingung, daß er seine peinliche Erfahrung für sich behalte. Infolgedessen bleibt er von allen Menschen isoliert, außer von seinen ehemaligen Leidensgenossen, die solcherart eine abgesonderte Gesellschaftsschichte bilden. Nekrassow war es auch, der zu Beginn des „Tauwetters“ offen über die unterschiedslose Verfolgung aller jener sprach, die während des Krieges in den deutsch besetzten Gebieten zurückgeblieben waren.

Wie stark die Russen ihre Verpflichtung fühlen, der Toten zu gedenken, läßt sich an Hand des seltsamen Ereignisses zeigen, welches Jewtuschenko zu seinem, seither berühmt gewordenen Gedicht „Babij Jar“ inspiriert hat (obgleich es sich hier um Hitlers, nicht um Stalins Opfer handelt).

„Babij Jar“ ist der Name eines Kulturparks, der über einem Massengrab angelegt wurde. Dieses geht auf ein Judenmassaker der Nazi zurück und wurde durch keinerlei Zeichen des Gedenkens markiert. Vor etwa einem Jahr legte man hier Entwässerungsgräben an. Es kam zu einer Überflutung durch Grundwasser und Schlamm, bei der, wie sich die Leute erzählten, „Hunderte“ ertranken. Über das Unglück durfte in den Zeitungen nichts geschrieben werden. Die einfachen Leute, zu denen das Gerücht gelangte, betrachteten das Ereignis als Strafe Gottes für die Entweihung eines namenlosen Friedhofs durch eine Vergnügungsstätte; sie waren offenbar nicht der Ansicht, daß gesunde Lebensfreude ein besserer Tribut an die Toten sei als trauerndes Gedenken.

In Moskau wurde mir klar, daß die jungen Intellektuellen des „linken Flügels“ für das Regime zugleich die größte Hoffnung und das größte Kopfzerbrechen darstellen. Als Opposition wären sie unerträglich, aber wenn es gelänge, ihr Vertrauen zu erwerben, würde ihre Unterstützung wertvoller sein als die der „Rechten“. Das Regime steht vor der Alternative, die Jungen entweder mundtot zu machen oder ihnen mehr Freiheit und Spielraum für ihre speziellen Interessen zu gewähren. Die Behörden sind im Begriff, die zweitgenannte Variante auszuprobieren, und sie finden sich dabei durchaus bereit, Experimente zu riskieren.

Natürlich hatte ich den Wunsch, einigen jener Jungen zu begegnen, die kürzlich zu großer Popularität gelangt waren, insbesondere Jewtuschenko. Er befand sich jedoch im Ausland (ich mußte etliche Monate warten, bis ich ihn schließlich in London traf), aber ich hörte viel über ihn und sprach mit mehreren seiner Freunde.

Das Jewtuschenko-Delirium

Die meisten älteren Kritiker klassifizierten Jewtuschenko als „vielversprechenden jungen Mann“, dessen Bewährung noch ausstehe. Er müsse erst „seinen Weg finden“. Hingegen kann es keinen Zweifel geben, daß er die Jugend in Delirien der Bewunderung versetzt hat. Tausende strömten auf den Majakowski-Platz, um ihn seine Gedichte rezitieren zu hören. Als er kürzlich in einer Versammlungshalle sprechen sollte, zerbrachen die Studenten die Fensterscheiben, um sich Einlaß zu verschaffen. In einer Provinzstadt erzählte mir eine Studentin, die ihren Urlaub in Moskau verbracht hatte, daß in einer Menschenmenge, die Jewtuschenko nach einer Veranstaltung umdrängte, seine Hand die ihre berührt hatte. Sie erzählte es mit Tränen der Rührung — ein treues Mitglied des Komsomol, aber Anhängerin der Meinung, daß die Jungen „für sich selbst denken“ sollten und daß Jewtuschenko die Stimme dieser Jungen sei.

Seit dem Herbst vorigen Jahres ist es offensichtlich, daß die Position, die sich Jewtuschenko durch solchen Beifall erworben hat, nunmehr durch offizielle Billigung legitimiert wurde. Sein Gedicht „Babij Jar“, welches das Bestehen eines sowjetischen Antisemitismus andeutet, wurde in der reaktionär gesinnten Zeitschrift „Literatura i Shiesn“ (von den Russen auf Grund eines Wortspiels als „Schriftstellers Hundeleben“ bezeichnet) heftig attackiert; daraufhin entließ man den Herausgeber, während Jewtuschenko seine Auslandsreisen fortsetzen durfte.

Gleich andern aus dem Kreis der jungen Autoren verwendet Jewtuschenko keinen Vatersnamen und trägt die elegante Variante der Halbstarken-Kleidung, jene Uniform der Elitetruppe innerhalb der Internationale der heutigen Jugend. Kein Romantiker des vorigen Jahrhunderts war sich der aristokratischen Pflichten des Genies kräftiger bewußt als Jewtuschenko es ist. Kein liberaler Autor des vorigen Jahrhunderts konnte die aufklärende Rolle der Dichtkunst kräftiger betonen als Jewtuschenko es tut. Und niemand könnte von einem jungen Mann mehr Verantwortungsbewußtsein verlangen als Jewtuschenko es zeigt.

nächster Teil: Am linken Ufer der Moskwa (II)
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