FORVM, No. 154
Oktober
1966

Der große Dialog

Waldemar von Knoeringen, Humanist, Sozialist, Bayer aus altem Adel, wird in diesem Monat 60 Jahre alt. Mitglied des Parteivorstandes der SPD, ehemaliger Parteivorsitzender in Bayern, seinerzeit Architekt einer insbesondere kulturell bedeutsam gewesenen Koalitionsregierung in Bayern, Inspirator der Bayerischen Politischen Akademie in Tutzingen, sowie der Georg-von-Vollmar-Schule der SPD auf Schloß Aspenstein in Kochel, gehört Knoeringen in der deutschen Sozialdemokratie zu jenen geistig bestimmten Kämpfern, die weit über Partei- und Landesgrenzen Respekt und Beachtung finden. An Stelle jeder besonderen Gratulation zu einem Lebensalter, welches ihm seine Freunde ohnehin nicht glauben, gratulieren wir lieber ihm und uns gemeinsam zu dem nachfolgenden Aufsatz.

Ich werfe einen Blick zurück auf meinen vierzigjährigen Weg in und mit der Sozialdemokratischen Partei. Wir waren Gläubige des Sozialismus. Wir, ein paar Jugendliche und Studenten, die sich in den Zwanzigerjahren der sozialdemokratischen Bewegung anschlossen. Der Erste Weltkrieg hatte die kontinuierliche Aufwärtsentwicklung der sozialdemokratischen Partei unterbrochen. Die Revolution 1918 und die krisengeladenen Zwanzigerjahre waren nicht jener „große Kladderadatsch“, von dem August Bebel so oft sprach und der den Zusammenbruch des Kapitalismus und die sozialrevolutionäre Umwandlung zur sozialistischen Gesellschaft einleiten sollte.

Aber das bedachten wir jungen Sozialisten damals noch nicht. Wir ereiferten uns über Marx und Lassalle, über Kautsky und Bernstein und waren überzeugt, daß die „Idee des Sozialismus“ siegen werde. Wir wollten keine Reformisten sein, darum war uns Bernstein verdächtig, und wir wollten keine Parteidiktatur, darum lehnten wir das hysterische Geschrei der Kommunisten ab. Um uns von ihnen zu unterscheiden, nannten wir uns demokratische Sozialisten. Und um den Inhalt und die Form dieses demokratischen Sozialismus gingen unsere leidenschaftlichen Diskussionen.

Die Grundkonzeption war uns klar: Die Ursache aller Krisen, aller Kriege unserer Zeit, das ist das kapitalistische System, die Ausbeutung der arbeitenden Menschen durch das Großkapital, seine Selbstentfremdung im Produktionsprozeß. Die Überwindung des Systems der Klassenherrschaft durch Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum ist der Schlüssel zu einer neuen sozialen und demokratischen Gesellschaft der Gleichen und Freien. Erst dann kann sich der Mensch von Vorurteilen und Hörigkeit befreien, erst dann kann auch das Bessere im Menschen zur vollen Entfaltung kommen, erst dann werden soziale Gerechtigkeit, kulturelle Freiheit und individuelle Menschenbildung möglich sein.

Das war das Ziel des Sozialismus. Das Mittel, ihn zu erringen, war die parlamentarische Demokratie. Da diese Demokratie durch die politische Umwälzung 1918 geschaffen war, kam es also nur darauf an, die politische Mehrheit zu gewinnen, um jenen Prozeß der ökonomischen und sozialen Umwälzung durchzuführen, den wir unter dem Begriff „Sozialisierung“ zusammenfaßten. Sozialisierung war also nicht einfach Verstaatlichung, es war Vergesellschaftung, Demokratisierung, Humanisierung in einem. Die klassenbewußte Arbeiterschaft unter Führung der Sozialdemokratie, das würde die politische und demokratische Kraft sein, die den gesellschaftlichen Fortschritt bewirkt.

Verlorene Schlacht um Demokratie

Es war ein großer Gedanke, dessen Verwirklichung im Zuge der Zeit zu liegen schien. So waren für uns die ökonomischen und politischen Krisen der Weimarer Republik in ihrer ersten Phase nur Übelstände, die man durch bessere Politik und Aktivität der sozialdemokratischen Partei überwinden würde. Die Widrigkeiten der täglichen Auseinandersetzung müßten eben hingenommen werden, die Erreichung der absoluten Mehrheit würde jedoch im Laufe der Jahre kommen. Dann erst konnte sozialistische Politik betrieben werden.

Die Demokratie war von Anfang an durch die wachsende Zahl ihrer Feinde bedroht. Um so mehr mußten wir sie verteidigen. Und so sahen wir uns verstrickt in einen Kampf um die Erhaltung der Verfassung von Weimar. Dieser Kampf nahm unsere ganze Kraft in Anspruch. Die Idee von der Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaft war dabei weit in den Hintergrund getreten. Im März 1933 war der legale Kampf um die Verteidigung der Weimarer Demokratie zu Ende.

Das Ausmaß der Niederlage konnten wir damals kaum fassen. Ich erinnere mich jener Tage, als ich, der Verhaftung in München entgangen, mit den Sozialisten Österreichs Kontakt bekam. Sie konnten nicht verstehen, was geschehen war. Nach ihrer Meinung hatte die österreichische Arbeiterklasse ein stärkeres sozialistisches Klassenbewußtsein, ein faschistischer Sieg sei bei ihnen nicht denkbar. So ging man über die Stunde hinweg.

Bald saßen wir gemeinsam im Untergrund und stellten uns die marternde Frage: Wie war das möglich? Wo war es, das Bewußtsein der Arbeiterklasse? Was ist der Faschismus? Ist er kleinbürgerliche Reaktion, Prätorianergarde der Kapitalistenklasse, demagogische Verführung des Volkes, Zwischenphase im Fortschritt auf die sozialistische europäische Revolution?

Wie konnte es geschehen, daß im Gefolge der Weltwirtschaftskrise des kapitalistischen Systems 1930 nicht der demokratische Sozialismus, sondern eine faschistische Ideologie gesiegt hatte? Hat die Politik der Sozialdemokratie versagt? War sie zu reformistisch, zu weich, zu demokratisch, zu wenig revolutionär im Sinne des Klassenkampfes?

Die Revolution kam nicht

Die Diskussionen waren hart. Sie mußten geführt werden unter den Bedingungen der Illegalität. Und wir flüchteten wieder in die Lektüre der sozialistischen Klassiker. Wir trösteten uns mit den Sätzen von Karl Marx aus seinem „Achtzehnten Brumaire“:

Proletarische Revolutionen unterbrechen sich fortwährend in ihrem Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta!

Otto Bauers Buch „Die illegale Partei“, 1939 aus seinem Nachlaß veröffentlicht, war der kühne Versuch, die Verwirrung, Zersplitterung und Ohnmacht der sozialistischen Arbeiterbewegung durch eine Analyse der Situation der illegalen Partei zu überwinden:

Der Sozialismus, durch die Siege des Faschismus in eine neue Welt versetzt, bedarf seiner Erneuerung; sie wird nicht ausgehen von gläubigen Seelen, die sich blind gehorchend fremder Führung unterwerfen, sondern nur von einer Gemeinschaft, die sich in freiem geistigem Ringen Ziel und Weg selbst bestimmt.

Der Krieg würde das Reifen der Revolution beschleunigen, die Bewegung der Massen müsse dann eine klare und zielbewußte sozialistische Partei an ihrer Spitze finden. Darauf hinzuarbeiten sei die Aufgabe der Sozialisten in der Illegalität.

Heute wissen wir es besser: diese Revolution kam nicht. Der Nationalsozialismus wurde nicht vom Aufstand revolutionärer Arbeitermassen überwunden. Nicht die in ihrem Lauf unterbrochene proletarische Revolution hat sich von neuem erhoben, nicht die von der sozialistischen Partei geführten Massen haben die Diktatur zerschlagen, nicht die Revolte der Generäle hat sie überwunden, sie fiel unter dem Bombenhagel und im Ansturm feindlicher Millionenarmeen.

Sicher: der Faschismus ist dahin, die sozialdemokratische Partei ist wiedererstanden, sie hat entscheidend mitgewirkt beim Neubau der Demokratie. Aber wie ist der Sozialismus seinen Weg weitergegangen? Die schweren Jahre nach 1945 ließen wenig Zeit für theoretische Erörterung.

Karl Renner, der freiheitliche Sozialist, in dem sich harte Erlebnisse, politische Praxis und theoretische Einsicht so einmalig verbanden, hat uns seine Überlegungen hinterlassen. In seinem „Erbe und Auftrag“ schreibt er 1948:

Ohne allen Zweifel stehen wir vor absolut Neuem. Man wende nicht ein: jeder Tag ist neu und hat sein besonderes Gesetz — eine unbestreitbare Wahrheit, die zum Unheil der Menschheit nur zu oft mißachtet wird. Der Bruch freilich, den die Menschheitsgeschichte durch die Abfolge dieser zwei Weltkriege erfahren hat, ist so vollständig, daß keine Überlieferung, und gelte sie für noch so heilig, ungeprüft übernommen werden, und keine einzige Tatsache dieser Art, die in unseren Tagen in Erscheinung tritt, unregistriert und ungewogen bleiben darf. Auch in der Theorie des Sozialismus bedarf es eines kritischen Neubaus, wie auf all den Trümmerstätten, die die Weltkriege hinterlassen haben ...

Und bei seiner Suche nach den Elementen des kritischen Neubaus stellt Renner fest, daß vieles, was der Genius Karl Marx’ seiner Umwelt kundgetan hat, durch die Jahrzehnte berichtigt und vieles gänzlich überholt ist. Zwei Grunderkenntnisse jedoch haben sich durch die gesellschaftlichen und politischen Tatsachen des abgelaufenen Jahrhunderts bewährt:

Der oberste Bestimmungsgrund alles Geschehens liegt in den Gesetzen der Ökonomie und die bewegende Kraft dieses Geschehens sind die auf der Unterlage der Ökonomie werdenden und sich wandelnden gesellschaftlichen Klassen und ihre Gegensätze.

Die Welt nach Marx

Und Renner stellt nun die radikale Frage: Hat diese überlieferte Marx’sche Erkenntnis den Ansturm des abgelaufenen Jahrhunderts, hat sie insbesondere den geschilderten Bruch der Menschheitsgeschichte überdauert und kann sie uns fürderhin als Wegweiser für den künftigen Kampf dienen? Die Antwort darauf zu geben, das sei die Aufgabe, die uns gestellt ist. Karl Renner hat seinen Beitrag dazu geleistet, aus seiner Sicht, aus der Erfahrungswelt vor zwanzig Jahren.

Mit Eifer studierten wir Renners Einsichten. Viele sind kühn und führen uns direkt in die Probleme unserer Tage, aber jenes überzeugende Bild des Sozialismus konnte er uns nicht geben. Gründend auf Marx, sieht er vor allem die Wandlung der ökonomischen Basis und versucht daraus die Richtung der Entwicklung abzuleiten. Bei aller Einsicht in die Strukturveränderungen im Kapitalismus, sieht er die „lebende und die kommende Generation der Arbeiterklasse“ als die Kraft an, die „im Kampfe gegen den bürgerlich-kapitalistischen Staat fortgeschritten ist zu dessen Eroberung und Neugestaltung“ und nun diesen Staat weiterbildet zur demokratischen Gemeinschaft alles dessen, was Menschenantlitz trägt.

Dem gläubigen Sozialisten der Zwanzigerjahre, der zum skeptischen Sozialdemokraten von heute geworden ist, kann diese Betrachtung nicht mehr genügen, denn gerade die Bewußtseinsbildung der Arbeiterklasse, die Beziehung von ökonomischem Unterbau und geistigem Überbau scheint so komplex, daß einfache Formeln nicht mehr überzeugen.

Der Versuch einer Modifizierung der Theorie von der kommenden Generation der Arbeiterklasse konnte die Leere nicht beseitigen, die den suchenden Sozialisten bei der Betrachtung der gesellschaftlichen Wirklichkeit befiel. Der Kapitalismus wandelte sich, die Klassengesellschaft verwandelte sich in die Gesellschaft der Vielfalt von Interessengruppen, die Arbeiterpartei wurde zur Volkspartei, die Richtungsgewerkschaft zur Einheitsgewerkschaft.

Vergesellschaftung der Produktionsmittel und Zentralisation der Macht in den Händen der Arbeiterklasse waren nicht mehr die Schlüssel in die Welt der sozialen Gerechtigkeit. Wir wehrten uns zuerst gegen diese Einsicht, aber wir mußten erkennen: zentrale Macht ist gefährlich, ob in den Händen von Industriemanagern oder in den Händen von Staatsbürokratien. Nicht Konzentration, sondern Kontrolle der Macht war nun das Problem geworden. Der Begriff der pluralistischen Gesellschaft kam auf. Die Demokratie bekam einen neuen Wert.

Der Kapitalismus brach nicht zusammen

Die Überwindung zyklischer Wirtschaftskrisen, die Verstärkung der Planungselemente, die Vollbeschäftigung, der wachsende Einfluß der öffentlichen Hand bei der Bewältigung der Gemeinschaftsaufgaben, die Tendenz zum Wohlfahrtsstaat, das alles vollzog sich im dynamischen Prozeß der gesellschaftlichen Veränderung. Es waren Elemente sozialistischen Denkens, die sich in die Gesellschaft hinein durchsetzten, ohne daß es einen erkennbaren Zusammenbruch des Kapitalismus und einen Sieg der sozialistischen Idee gegeben hätte.

Man frage heute verschiedene Vertreter sozialistischer Parteien, ob in Deutschland, England, Österreich, Frankreich, nach einer Definition des Sozialismus. Man wird die verschiedensten und meist sehr vage formulierten Antworten erhalten. Die meisten dieser Antworten werden sich auf die Beschreibung ethischer Postulate, wie Freiheit, Gerechtigkeit, Humanität, Klassenlosigkeit, Solidarität, Chancengleichheit, soziale Sicherheit, Demokratie, Menschenwürde usw., beschränken. Postulate, die zwar den humanistischen Kern des Sozialismus ausdrücken, aber keine spezifisch sozialistische Gesellschaftsideologie.

Nehmen wir noch die Terminologie des Kommunismus hinzu, der ja jeden Tag sein System der Parteidiktatur als „Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft“ anpreist, dann wird die Verwirrung vollkommen.

Die gläubigen Sozialisten von einst müssen die Tatsachen sehen: Sozialismus ist ein schillernder Begriff geworden, der als eine präzise Programmaussage nicht mehr zu gebrauchen ist.

Einen Beitrag zur Reform sozialistischen Denkens hat der in Amerika lebende Psychologe Erich Fromm geleistet. Er hat durch seine Betrachtungen über den modernen Menschen und seine Zukunft die Diskussion erneut auf den Menschen hingelenkt. Nach seiner Auffassung haben Marx und Engels „nur einen ersten Schritt getan, indem sie den Blick auf die Wechselwirkung zwischen Wirtschaft und Kultur lenkten“.

Nach Fromm hat Marx den komplexen Charakter der menschlichen Leidenschaften unterschätzt. „Er hat nicht genügend erkannt, daß die menschliche Natur selbst Bedürfnisse und Gesetze in sich trägt, die sich in beständiger Wechselwirkung mit den ökonomischen Bedingungen befinden, welche die geschichtliche Entwicklung gestalten.“

Marx konnte diese psychologischen Einsichten nicht haben, er hatte keine angemessene Vorstellung vom Charakter des Menschen. Die menschlichen Leidenschaften sind eine der stärksten Antriebskräfte der geschichtlichen Entwicklung. Aus einer sehr oberflächlichen, überoptimistischen Betrachtung der menschlichen Natur wuchs bei der Überbewertung der ökonomischen Komponente jene romantische Idealisierung der Arbeiterklasse und ihrer Bewußtseinsbildung, die ja dann auch Lenin korrigiert und für seine Theorie zurechtgestutzt hat.

Wir wissen heute, wie mächtig die irrationalen Kräfte im Menschen sind und wie unberechenbar ihr Wirken ist. Fromm hebt drei gefährliche marxistische Denkfehler hervor: die Vernachlässigung des moralischen Faktors im Menschen; die Fehlbeurteilung der menschlichen Qualitäten und damit der möglichen Überwindung der Selbstentfremdung; die Auffassung, daß die Sozialisierung die ausreichende Vorbedingung für die Umwandlung der kapitalistischen in eine sozialistisch-kooperative Gesellschaft sei.

Immer deutlicher trat die Erkenntnis hervor: Die Überschätzung der ökonomischen Kräfte und die Vernachlässigung der anthropologischen Komponente im Gesellschaftsbild des Sozialismus hat wesentlich zu den Irrtümern und Fehlhandlungen der sozialistischen Bewegung beigetragen. Jeder gesellschaftlichen Ordnung liegt eine Einschätzung der menschlichen Natur zugrunde. Das hat J. L. Talmon in seinen Untersuchungen über „Die Ursprünge der totalitären Demokratie“ überzeugend nachgewiesen.

Wiederentdeckung des Menschen

Damit ist auch der Sozialist nach seinem Urteil gefragt. Eine oft gehörte Antwort ist: „Was soll diese Frage, wir alle sind Menschen, wir kennen uns und daher wissen wir um den Menschen. Wir sind eine politische Gesinnungsgemeinschaft und keine philosophisch-anthropologische Forschungsgruppe.“ Wer so denkt, verfehlt alle Ziele. Die Wiederentdeckung des Menschen in unserer Zeit, die Erforschung seiner Möglichkeiten und seiner Grenzen, das Wissen um seine Natur, sind die Voraussetzungen für die Humanisierung des gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses, in dem wir begriffen sind, die Voraussetzungen für die Weiterentwicklung und die Vermehrung der Freiheit des Menschen, die ja immer das höchste Ziel der Sozialisten war.

Gerade das falsche Bild von den Möglichkeiten des Menschen, das sich der orthodoxe Marxismus machte, führte zur Utopie der kommunistischen Ideologie. Ihre widernatürliche Anwendung im sozialrevolutionären Prozeß brachte der Welt die Diktatur der Unmenschlichkeit.

Die Trennung des Kommunismus von der sozialdemokratischen Bewegung mag politisch-taktisch begründet werden, im Hintergrunde steht, den Handelnden vielleicht unbewußt, eine unterschiedliche Auffassung von der Humanität und der Wertung des Menschen.

Zwar gründeten auch die theoretischen Grundsatzprogramme der sozialdemokratischen Bewegung der vorfaschistischen Zeit auf dem dialektischen und historischen Materialismus, aber die politische Praxis wurde vom Zwang des Tages und von den humanistisch-ethischen Gehalten des Sozialismus bestimmt. In der Tagespolitik vor die Entscheidung gestellt, handelte man nicht nach den Leitsätzen der revolutionären Theorie, sondern nach den Prinzipien der sozialen Reform und des „konkreten Humanismus“.

Godesberg und Wien

Immer, seit den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, befand sich die sozialdemokratische Bewegung in einem theoretisch-praktischen Dualismus. Reformisten und Marxisten stritten um Weg und Ziel. Das ist zu Ende. Mit der Erklärung der Sozialistischen Internationale 1951, mit den Grundsatzprogrammen der deutschen Sozialdemokratie, Godesberg 1959, und der österreichischen Sozialistischen Partei, 1958, hat die sozialistische Bewegung in Europa die Konsequenzen aus den geschichtlichen Erfahrungen zu ziehen versucht.

Diese Programme sind ein großer Schritt vorwärts beim Abbau überlebter Vorstellungen, sie setzen gewisse Prinzipien einer sozialen Demokratie und Öffnen neue Wege zum politischen Handeln. Die klare Ablehnung des Kommunismus, die Überwindung der deterministischen Geschichtsbetrachtung und der Weltanschauungspartei, die Definition des Sozialismus als vollendete Demokratie, das Bemühen um ein neues Verhältnis zur Religion, das sind alles bedeutsame Fortschritte.

Die Vertreter alter Klassenkampftheorien haben sich heute in die fruchtlose Sektiererei zurückgezogen. Sie spielen vielleicht bei Studenten im Entwicklungsstand politischer Pubertät noch gelegentlich die Rolle von Wortführern. Das verfliegt aber, sobald sie mit der Realität der heutigen Gesellschaft in Berührung kommen. Wir haben das zu oft erlebt.

Aber auch die neuen Programme sind nur Wegweiser, die am Wege zurückbleiben. Wir müssen weiter. Und auf die Fragen, die täglich neu an uns gestellt werden, müssen wir neue Antworten suchen. Eine Bewegung, die weiter will, die sich orientieren will in der verwirrenden Landschaft unserer Zeit, muß in ständiger geistiger Spannung sein, bereit, ihre Erkenntnisse in Frage zu stellen und zu revidieren.

Tagespolitische Aktivität, regieren und opponieren, Gesetze machen und Gerechtigkeit fordern, das erhält seinen Sinn erst durch die enge Beziehung zu einer gesellschaftspolitischen Vorstellung. Macht erstreben, um Macht zu besitzen, sich vom Strom der Zeit treiben zu lassen, ist zu wenig. Skepsis gegen Theorien und Konzeptionen ist nötig, aber Pragmatismus ohne Konzeption führt ins Nichts.

Ein gesellschaftspolitisches Konzept kann nicht in der eisigen Höhe wissenschaftlicher Konstruktion, es muß aus dem ständigen dialektischen Prozeß von pragmatischem Handeln und theoretischer Klärung erwachsen. Diesen Prozeß bewußt zu fördern, zu leiten und seine Ergebnisse zu präzisieren, ist heute eine wesentliche Aufgabe der politischen Partei. Sie verlangt Stabsarbeit.

Wer das politische Leben der sozialistischen Parteien beobachtet, muß feststellen, daß ein systematisches Bemühen um eine gesellschaftspolitische Konzeption nur schwach entwickelt ist. Es ist zwar unterschiedlich in den einzelnen Ländern, eine Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg gibt es aber kaum.

Ein Beispiel: 1952 erschienen in England die „New Fabian Essays“, Arbeiten bedeutender englischer Sozialisten über eine „neue Analyse der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lage als Grundlage einer Neufassung der sozialistischen Prinzipien“. Wir finden darin sehr offene selbstkritische Betrachtungen über die sozialistische Idee und sehr realistische Analysen des gewandelten Kapitalismus, der Organisation der Industrie und der Erziehung. R. HS. Crossman schreibt bereits damals:

Es hat sich gezeigt, daß sowohl die evolutionäre als auch die revolutionäre Philosophie des Fortschritts falsch ist. Tatsächlich spricht vieles mehr für die christliche Lehre von der Erbsünde als für Rousseaus Phantasiebild eines sittlich hochstehenden Naturmenschen. Die materialistische Auffassung vom Fortschritt beruhte auf Annahmen über das Verhalten der Menschen, deren tatsächliche Unbegründetheit die psychologische Forschung erwiesen hat, und auf einer Theorie demokratischer Politik, die von den tatsächlichen Gegebenheiten der letzten dreißig Jahre umgestoßen wurde ...

Der demokratische Sozialist wird inspiriert von dem Glauben, daß nichts außer dem Willen des Menschen und seinem sozialen Gewissen die Menschheit von einem historischen Vorgang befreien kann, der, sich selbst überlassen, zu Sklaverei, Ausbeutung und Krieg führt ... Der Prüfstein des Sozialismus ist das Maß, in welchem die Institutionen des Volkes den sittlichen Maßstäben der Freiheit und Gerechtigkeit angepaßt werden — selbst, wenn dies die Senkung des Lebensstandards oder die Aufgabe eines Weltreichs kostet.

Diese Sätze treffen mitten in die Sozialismusdiskussion von heute. Sie sind vor vierzehn Jahren geschrieben. Sie sind damals ohne besondere Wirkung verhallt. Viele ähnliche Beispiele wären anzuführen.

Antennen für die Zukunft

Aber auch die neuen Grundsatzprogramme haben nur in beschränktem Maße Anlaß für eine Vertiefung der Diskussion gegeben. Wo gibt es heute in der sozialdemokratischen Bewegung systematische Erörterungen, geistige Auseinandersetzungen über die Natur des Menschen, über die daran anknüpfenden Probleme einer diesen Erkenntnissen angepaßten demokratischen Ordnung? Was geschieht, um in einem dialogischen Prozeß konkrete Formen einer Reform unserer demokratischen Institutionen zu erarbeiten? Wer folgt der schon unübersehbaren Entwicklung wissenschaftlicher gesellschaftspolitisch relevanter Erkenntnisse? Wer überträgt sie in den Raum politischer Entscheidung?

Unsere Gesellschaft ist ein großes Schiff, das über unbekannte Tiefen, durch gefährliche Zonen fährt. Jedes moderne Schiff hat heute seine Scheinwerfer und Radarstrahlen, die den Eisberg aus dem Dunkel heben. Was tun wir, um uns zu orientieren? Uns fehlen die Antennen in die Zukunft.

Mutiges Christentum

Aber die Sucher aus der sozialistischen Geisteswelt sind nicht allein. Die totale Veränderung unserer Lebensordnung hat auch andere Gesellschaftskräfte in Bewegung gebracht. Ein Beispiel dafür sind die Kirchen. Auch dort werden die Fragen nach der neuen Ordnung, nach dem Menschen, nach der Reform der Institutionen gestellt. Man nehme die Enzykliken „Mater et magistra“ und „Pacem in terris“ des Papstes Johannes XXIII. zur Hand. Wir finden Aussagen über die Sozialnatur des Menschen, über die sozial gerechte Organisation der industriellen Produktion und die Eigentumsbildung, mutiger und konsequenter als manche Erklärungen der Sozialdemokratie.

Die Weiterentwicklung der katholischen Sozialethik ist ein aufregender Vorgang. Wer z.B. das Buch von Arthur Rich, Professor für systematische Theologie an der Universität Zürich, über „Christliche Existenz in der industriellen Welt“ studiert, vor allem die Themen: Wirtschaft, Miteigentum, Mitbestimmung, der wird verblüfft sein über die mutigen, sachkundigen Vorschläge zur großen Reform unserer Sozial- und Betriebsordnung. Der Tenor seiner Arbeit ist die Überwindung der Objektstellung des industriellen Menschen in der Arbeitswelt, was nur möglich ist, wenn er in eine aktive Teilhaberschaft an den Verfügungsrechten in Betrieb und Wirtschaft hineinwachsen kann. Nicht weniger bedeutend sind die Veröffentlichungen der Evangelischen Kirche in Deutschland über die Eigentumsstreuung.

Nüchtern müssen wir jedoch sehen, daß auch in den Kirchen nicht alle Gläubigen von dem Geist des neuen Denkens erfaßt sind und daß es noch viel verstaubtes und überlebtes Gedankengut gibt. Aber es bilden sich Zellkerne neuer Ideen, denen der große Papst Johannes neuen Raum des Lebens geschaffen hat.

Die kritische Diskussion über neue Formen und Inhalte unserer sozialen und politischen Ordnung ist jedenfalls über die sozialdemokratische Bewegung hinausgewachsen. Dem Beobachter kann nicht entgehen, daß sich außerhalb der Politik geistige Strömungen bilden, die in ihrem Denkansatz und in der Anwendung sozialethischer Prinzipien auf unsere gegenwärtige Sozialordnung viel radikaler vorgehen, viel konsequenter, ja man möchte sagen: viel sozialistischer als die sozialdemokratischen Reformer.

Die Sozialdemokratie scheint völlig absorbiert durch ihre tagespolitische Verpflichtung. Ihre Führungsgruppen sind hineingespannt in das Getriebe von Verwaltung und parlamentarischer Arbeit. Die Diskussion wird beherrscht von den aktuellen Fragen der Tagespolitik und der Taktik. Der Blick auf die Macht, auf die Wählerzahlen, auf die Position im Verwaltungsstaat und das faktische Bemühen um die Übernahme von Regierungsfunktionen gehört zum Wesen der politischen Partei. Sie muß das tun, wenn sie Einfluß nehmen will auf das Geschehen. Aber sie muß sich auch eine möglichst klare Vorstellung von den Ordnungen und Institutionen einer Gesellschaft erarbeiten, die sie selbst erstrebt. Sie verliert sonst ihre innere Sicherheit, ihre Überzeugungs- und ihre Führungskraft.

Da sich die Voraussetzungen unserer gesellschaftlichen Existenz ständig verändern, ist die Arbeit an einem sozialdemokratischen Gesellschaftsbild eine permanente Aufgabe, die nur in engster Beziehung von praktischer Politik und theoretischer Forschung erfüllt werden kann. Hier liegt heute die Schwäche der Sozialdemokratie. Und das wiederum ist der Grund für das Fehlen der scharfen Konturen und der klaren Alternativen.

Man beobachte einmal das Geschehen in einer politischen Partei heutigen Typs. Die Verantwortung tragenden Männer sind völlig ausgefüllt, ja überlastet mit der Bewältigung der tagespolitischen Aufgaben. Kaum einer, der Zeit findet, sich in Ruhe dem gründlichen Studium eines gesellschaftlichen Problems oder der Erörterung eines theoretischen Konzepts zu widmen. Die Fülle der auf die Führungsgremien täglich hereinstürmenden aktuellen Fragen hält sie so in Atem, daß die Kraft gerade ausreicht, an der Kurbel pragmatischer Entscheidungen weiterzudrehen und die Taktik auf Wahlwerbung einzustellen.

Man wird mir entgegenhalten, daß sich die moderne Partei von der Ideologie gelöst habe, daß sich die Politik zunehmend versachlichen müsse und daß der freie Raum für politische Alternativen in einer technisierten Gesellschaft sehr eng geworden sei. Diese Betrachtungen sind irrig. Sie verkennen die Tatsache, daß gerade in der sich entwickelnden Industriekultur die bewußte politische Steuerung gesellschaftlicher Prozesse möglich geworden ist und daß dazu die klare, auf höchster Informiertheit und theoretischer Einsicht beruhende Willensbildung und Willensentscheidung erforderlich ist.

Wagnis der Öffnung

Wenn die Sozialdemokratie in diesem Sinne ihre führende Funktion erfüllen will, muß sie der gesellschaftskritischen Analyse und der geistigen Auseinandersetzung viel mehr Beachtung schenken. Dafür muß sie besondere Organe entwickeln. Sie braucht ein wissenschaftliches Informationszentrum, eine Beobachtungsstelle für Vorgänge im geistig-politischen Raum. Sie braucht die enge Berührung mit Ideenentwicklungen außerhalb ihrer Grenzen. Sie braucht die Öffnung für das Wagnis des freien suchenden, systematisch geführten Gesprächs mit anderen Gruppen in der Gesellschaft und mit der Wissenschaft.

So etwas kann nur neben der energiefressenden Tagespolitik durch besondere Vorbereitung und ungebunden durch Parteirichtlinien erfolgen.

An zwei Beispielen möchte ich das erläutern:

Im Januar 1958 fand auf Vorschlag der Katholischen Akademie in Bayern ein großes Gespräch „Christentum und demokratischer Sozialismus“ statt. Ausgewählte Vertreter des katholischen Glaubens und der sozialdemokratischen Partei nahmen daran teil. Diese vom Direktor der Akademie souverän geleitete dialogische Auseinandersetzung und das darüber veröffentlichte Protokoll trugen wesentlich zur Aufhellung der geistigen Grenzgebiete des katholischen Glaubens und der sozialdemokratischen Ideen bei. Gerade nach diesem gelungenen Gespräch empfinden wir den Mangel, daß sich Ähnliches seither nur selten ereignete und daß über die Darlegung eigener Standpunkte hinaus eine engere Zusammenarbeit bei der Klärung gesellschaftspolitischer Grundfragen, trotz gegenseitiger Bereitschaft, nicht möglich war.

Im April dieses Jahres fand auf der Insel Herrenchiemsee im Rahmen der Paulus-Gesellschaft ein neuer Dialog über christlichen und marxistischen Humanismus statt. Die Auseinandersetzung zwischen christlichen Theologen und marxistisch-kommunistischen Professoren und Naturwissenschaftlern führte an den Kern der Frage nach der Sozialnatur des Menschen. Zwei verschiedene Menschenbilder standen einander gegenüber. In dem Versuch des gegenseitigen Verstehens bewegte man sich auf das Feld zu, auf dem der demokratische humanistische Sozialismus schon ein halbes Jahrhundert ackert und gräbt. Dieses Feld hat Professor Rahner beschrieben. [*]

Für eine Theorie der Demokratie

In dem Spannungsraum von individueller Freiheit und planender Gestaltung hat sich ja jene Konzeption einer sozialen Demokratie entwickelt, die das Godesberger Programm ausdrückt. In dem großen Disput am Chiemsee war zwischen den christlichen und marxistischen Denkgebäuden die soziale Demokratie als Ausdruck einer Denkrichtung des sozial-demokratischen Humanismus nicht existent. Warum? Nicht weil eine Einladung übersehen wurde, sondern wohl deshalb, weil dem Programmsatz „Sozialismus ist vollendete Demokratie“ noch keine umfassende, aus den Erfahrungen unserer Zeit geformte Theorie der sozialen Demokratie gefolgt ist.

Das Überspringen der Existenz des freiheitlichen demokratischen Sozialismus zeigt sich bei fast allen Auseinandersetzungen mit dem Sozialismus. Auch in seinem beachtlichen Buch „Industriekuitur und Religion“ hat Clemens Brockmöller SJ sich nur mit dem marxistischen Sozialismus befaßt. Sozialismus, so sagt er, ist Kollektivismus, seine zentrale Moralthese ist die Überwindung aller Individualität. Auch für ihn ist der demokratische Sozialismus eben nicht da. Aus der These des Liberalismus und der Antithese des Kollektivismus könnte sich, so sieht er es, in einem dialektischen Denkprozeß als Synthese das herausbilden, „was die katholische Soziallehre fortschreitend als sittlich gutes Verhalten im modernen industriellen Wirtschaftsleben aus der Rücksicht auf die Natur des Menschen entwickelt hat ... Der Mensch ist in seinem innersten Kern weder Individuum noch Teil eines Kollektivs, sondern eine polare Spannungseinheit von Einzelwesen und Gemeinwesen“.

Hier in der Tat sind die großen Berührungspunkte zwischen moderner Soziallehre und sozialdemokratischer Gesellschaftsidee. So führt die Diskussion genau dorthin, wo die Sozialdemokratie heute steht: vor die Frage nach der Sozialnatur des Menschen, nach seinen Möglichkeiten und Grenzen, nach seiner Bildungsfähigkeit und dem Vermögen seiner mitverantwortlichen Teilnahme am demokratischen Leben. Hier erscheint sie wieder, die anthropologische Komponente neuer Gesellschaftspolitik. Und gerade darüber wissen wir wenig.

Die Bewältigung der politischen, menschlichen und sozialen Probleme der sich entwickelnden Industriegesellschaft und die Bewahrung menschlicher Freiheit in ihr verlangen den Ausbau und die Vertiefung der Wissenschaft vom Menschen und der Gesellschaft. Die ihr gewidmeten Anstrengungen müssen an Intensität dem entsprechen, was für die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik geleistet wird.

(Godesberger Programm)

Diese Sätze weisen in die Zukunft, sie setzen den anthropologischen Aspekt vor den sozialen und die Vertiefung des Wissens vom Menschen vor das politische Handeln. Brockmöller sagt:

Es zeigt sich immer deutlicher, daß die Verschiebung der Umweltverhältnisse des menschlichen Lebens nicht nur einfach hingenommen wird, sondern daß die geistige Bewältigung der Umwelt vom Menschen her und die Prägung der Lebensformen von einer neuen geistigen Vorstellungswelt an Umfang und Tiefe zunehmen.

Das Öffnet auch einen neuen Blick auf die soziale Demokratie und auf die soziale Gerechtigkeit. Alle ihre Normen, ihre Ordnungssysteme, ihre Institutionen — sie müssen vom konkreten Menschen her neu gedacht werden.

Der Sozialismus als jene große „säkulare Geistesströmung“, wie ihn Otto Bauer genannt hat, wird nur lebendig bleiben, wenn er seine Gesellschaftskonzeption auf das sich erweiternde Wissen von der Natur des Menschen gründet. Organisieren, verwalten, Straßen- und Untergrundbahnen bauen kann auch die aufgeklärte Diktatur. Humanität zum Fundament der gesellschaftlichen Ordnung machen, das wird das strebende Bemühen derer sein müssen, die sich in der Achtung vor der Würde des Menschen begegnen, die ihr Wissen über die menschliche Natur ernst nehmen und den Mut haben, radikal für die Durchsetzung von mehr Gerechtigkeit zu kämpfen.

Zusammenfassend

stellt sich aus diesen Betrachtungen dem suchenden demokratischen Sozialisten die Frage:

Was kann geschehen, um die geistig-politische Position der sozialdemokratischen Bewegung zu stärken, ihren Führungswillen zu rechtfertigen und ihre Politik wirksam auf den „konkreten Humanismus der Zukunft“ zu orientieren?

Die sozialdemokratischen Parteien in Europa sollten

  1. ihre Organe für den engen Kontakt zur wissenschaftlichen Forschung verstärken, eine gesellschaftspolitische Stabsarbeit ausbauen und die Integration der Wissenschaften vom Menschen überall mit Nachdruck fördern;
  2. die Grundlagenarbeit um eine Theorie der sozialen Demokratie durch die Einrichtung von Studiengruppen systematisch fördern;
  3. die innerparteiliche Diskussion über Grundsatzfragen der sozialen Demokratie durch eine besondere Bildungs- und Seminararbeit unterstützen (eine Gruppe jüngerer Münchner Sozialdemokraten hat eine Studie „Mobilisierung der Demokratie, ein Beitrag zur Demokratiereform“ vorgelegt und zur sachlichen Auseinandersetzung aufgerufen. [**] Diese Arbeit stellt das Demokratieproblem unter den anthropologischen Aspekt und setzt sich mit der Reform demokratischer Institutionen auseinander);
  4. sich öffnen für das unvoreingenommene freie Gespräch mit anderen Gruppen, mit der Wissenschaft, vor allem mit den Vertretern der christlichen Soziallehre. Dem großen Dialog um die Humanisierung und Demokratisierung unserer Gesellschaft auf der Grundlage gegenseitiger Achtung und des ehrlichen Bemühens um neue Erkenntnis kommt zukunftsentscheidende Bedeutung zu. Er wird zeigen, ob die freien Kräfte der Gesellschaft reif werden, eine Ordnung zu tragen, die der „konkreten Humanität“ gerecht werden kann;
  5. die geistige Auseinandersetzung mit den Ideen des Kommunismus objektiv weiterführen, unter Rücksicht auf die Wandlungen im Kommunismus selbst;
  6. europäische Sozialdemokraten aus verschiedenen Ländern und außerhalb der offiziellen Tagungen der Internationale zu besonderen Beratungen über den Standort des demokratischen Sozialismus zusammenführen.

Persönliche Bemerkung:

Ich möchte der Redaktion des „Neuen FORVM“ danken, daß sie ihre Spalten kritischen Beiträgen öffnet, die der weiteren Aktivierung des großen Dialogs um humane und freiheitliche Ordnung dienen sollen. Das „Neue FORVM“ könnte Brücke sein über Abgründe der Vergangenheit, es könnte jene einander näherbringen, die über alte Grenzen hinweg einander suchen zu gemeinsamem Tun.

Waldemar von Knoeringen

[**Das Neue FORVM wird einige dieser „Jungbayern“ in den nächsten Heften mit Aufsätzen vorstellen. Vgl. auch Günther Nenning: „Ein neuer Brandt — eine neue Utopie“, in: „Arbeiter-Zeitung“, 9. Juli 1966; ders.: „Es lohnt sich wieder, Sozialdemokrat zu sein“, ebendort, 6. Juli 1966.

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