FORVM, No. 122
Februar
1964

Die Sozialdemokraten waren Demokraten

I.

Das Wort „Schuld“ kann nur als subjektive Schuld verstanden werden. Es gibt aber bei Betrachtung der Februar-Ereignisse von 1934 weder eine subjektive, noch auch eine Gruppen-Schuld. Die tragischen, politischen Prozesse, die schließlich, durch einen Zufall ausgelöst, in militärischen Kämpfen ihren Ausdruck gefunden haben, sind in erster Linie Reflexe der sozialökonomischen Verhältnisse, wie sie in Österreich als Folge der „Friedensverträge“ konstituiert wurden.

Die Anpassung von Politik, Verwaltung und Wirtschaft an die neuen Bedingungen war völlig unzureichend, ein Umstand, der seinen Niederschlag in der Umwandlung von Ideen in Ideologie gefunden hat. Der Bürgerkrieg war der Index dafür, daß ein neuer Aggregatzustand in den Beziehungen der politischen Großgruppen erreicht worden war, der eine Versöhnung und eine Kooperation mit dem gegebenen Instrumentarium der Politik nicht mehr möglich machte. Die Akteure aber waren nur mehr Vollzugsorgane der nicht von ihnen geschaffenen Bedingungen. Daß es da und dort subjektiv Schuldige gab, ändert nichts an diesem Tatbestand.

Die Sozialdemokratische Partei war eine demokratische Partei, wenn wir Demokratie auch als eine Gesinnung verstehen, nach der nur über frei gewählte Vertretungsgremien regiert werden soll. Anderseits müssen wir doch einmal verstehen, daß es nicht die Demokratie gibt. Die perfekte Demokratie ist eine theoretische und pädagogische Vorstellung. Jede Demokratie muß in ihrem konkreten Milieu realisiert werden. Daher sollten wir die Gesinnung der Demokratie mit ihrer Übersetzung in die politische Wirklichkeit nicht gleichsetzen.

Die „autoritär gesinnte Rechte“ war vielschichtig, ganz abgesehen davon, daß das Wort „autoritär“ fragwürdig ist. Schließlich muß jede Herrschaft, auch jene von „sündenlosen“ Demokraten, autoritär ausgeübt werden.

Jedenfalls war die sogenannte „Rechte“ nicht homogen. Es ist „barbarisch“, alles, was nicht sozialdemokratisch war, als autoritär abzustempeln und auf diese Weise als undemokratisch zu disqualifizieren. War etwa Leopold Kunschak kein Demokrat? War Minister Dr. Dobretsberger kein Demokrat?

Was war übrigens der Faschismus? War er nicht auch Ausdruck von Hunger und Arbeitslosigkeit, Ausdruck des Prestigemankos der Halbintelligenz? War nicht jeder sein eigener Faschist angesichts der Tatsache, daß es kein verpflichtendes Programm gab, es sei denn, man nimmt die pubertären Phrasen bei Aufmärschen ernst genug, um sie auf die Ebene von Programmen zu heben?

Dollfuß war kein Faschist! Wohl aber bediente er sich der Hilfe einiger Gruppen, die sich selbst als faschistisch kennzeichneten. Derlei geschieht in der Politik immer wieder. Sind nicht auch heute ehrenwerte Demokraten bereit, sich einer Gruppe als Werkzeug zu bedienen, die man im vertrauten Gespräch gänzlich verachtet und nur als Instrument betrachtet? Wenn man es wagen darf, ein Verhältnis „undemokratisch“ zu nennen, dann auch den Versuch, mit zweierlei Maß zu messen: dem einen zu verübeln, was man selbst, mit anderen Formeln verdeckt, ohne Scham zu tun wagt.

II.

Die Männer des Februar 1934 waren Tapfere. Auf beiden Seiten. Es gehört sicher Mut und auch Intelligenz dazu, dem Gegner seine Ehre zu lassen. Wer irrt, ist deswegen kein Feigling. Beide Seiten beklagen heute, daß es kaum mehr so etwas wie einen letzten Einsatz gibt. Die Liquidation einer Politik aus dem Glauben an die Richtigkeit einer Idee wird nur beschleunigt, wenn man den Gegner persönlich diffamiert, weil er nicht feig „un-parteiisch“, sondern konsequent in der Bezeugung seiner Gesinnung war.

Im Austromarxismus sehe ich das erstmalige Bemühen, den Marxismus aus seiner Verkettung mit ökonomischen Interessen zu lösen und ihn als gesellschaftspolitisches Anliegen zu verstehen. Erst die Austromarxisten haben den Marxismus als All-Klassen-Politik verstanden und im Ansatz bereits die pluralistische Gesellschaft in ihr Denkgebäude aufgenommen — ein Beweis für meine Annahme, daß die Sozialdemokraten Demokraten nicht aus Not, sondern aus Gesinnung waren.

Die Ständestaats-Ideologie ist an sich keine „Ideologie“, wohl aber wurde aus den durchaus praktikablen berufsständischen Konzepten eine Ideologie, weil sich ihrer Interessenten bemächtigten.

Was heißt übrigens Austrofaschismus? Meint man darunter dem Sinn nach das gleiche wie unter Austromarxismus: die von Österreichern vollzogene Disziplinierung einer Grundidee im Interesse der Gesellschaft? Meint man aber, der Austrofaschismus sei durch das berufsständische Konzept gekennzeichnet, so muß ich darauf hinweisen, daß wir heute auf dem Weg sind, solche Konzepte zu realisieren. Was ist denn die Paritätische Kommission anderes als der sicherlich unpopuläre und daher heroische Versuch, gegensätzliche Interessen um der Gesellschaft willen zu koordinieren?

Ein Widersinn der ständestaatlichen Experimente war es, die sozialistischen Gewerkschaften auszuschalten und dadurch jene Gegenmacht zu liquidieren, die allein in der Lage gewesen wäre, die Versuche zu verhindern, die Arbeitnehmer in einer bedenklichen Weise auszubeuten.

In der Tatsache, daß es nach 1918 so gut wie keine persönlichen Beziehungen zwischen „links“ und „rechts“ gab, liegt wahrscheinlich die Tragik unserer Politik. Wer heute diese persönlichen Beziehungen liquidieren will oder es schon getan hat, konstituiert Bedingungen, die jenen des Februar 1934 entsprechen. Wenn es dann zum offenen Konflikt kommt, sind selbstverständlich die „Anderen“ schuld gewesen.

III.

Eine Wiederholung der Ereignisse vom Februar 1934 ist durchaus möglich, sind doch bereits heute Pesonen auf beiden Seiten tätig, um persönliche Disharmonien zu stabilisieren und Konflikte, wie sie der politische Alltag mit sich bringt, zu intensivieren. Freilich wird die Austragung von „Kämpfen“ heute andere Formen annehmen, gibt es doch auch das Instrument des administrativen Terrors auf der einen und des dosierten Ungehorsams auf der anderen Seite bis zum völligen Ausmarsch aus der Gesellschaft, den ein Teil der nihilistischen Presse so nachdrücklich empfiehlt.

Der Konflikt kann ausbrechen

  1. als Folge einer langanhaltenden Depression mit ihrer Sublimation von Interessen in „zündende“ Ideen.
  2. Wird die große Koalition liquidiert und der in die Opposition verwiesene Gegner mittels Staatsanwalt und Verwaltung terrorisiert (stets „unter Einhaltung der Gesetze“); wird dieser Gegner, weil er seine soziale Großgruppe repräsentiert, so weit provoziert, daß er schließlich gewillt ist, den Staat an sich, den er nur durch die Regierung repräsentiert sieht, zu bekämpfen — dann ist der offene Konflikt die Folge. In der ersten Etappe wird dann der Sieger und in der zweiten Etappe der Besiegte im „Recht“ gewesen sein.

Die beiden Regierungsparteien haben bisher bewiesen, daß sie demokratisch sein wollen. Die Sünden einer Partei sind nicht diese selbst, wenn sie offenkundig bemüht ist, Fehler abzustellen. Das Wort „echt“ kann ich nicht akzeptieren, da es kaum definiert werden kann. Die Demokratie in Österreich wird von Parteien ausgeübt, die mit keiner Opposition zu rechnen haben. Trotzdem — und das ist wesentlich — trotzdem haben beide Parteien im Prinzip die Spielregeln der Demokratie einzuhalten versucht, was ihre Gegner, die sich oft als „jenseits von Gut und Böse“ befindlich dünken, nicht immer getan haben.

Die politischen Parteien haben 1945 ein Verhalten gezeigt, das annehmen läßt, sie hätten aus dem Februar 1934 die folgenden Lehren gezogen:

  1. daß Gewalt kein Instrument der Politik ist;
  2. daß es dem Wesen der Demokratie gemäß ist, wenn andere politische Gruppen legitim bestehen und die Interessen ihrer Mitglieder vertreten;
  3. daß der Gegner gleichfalls Menschenantlitz trägt und nicht verteufelt werden darf.

Anderseits hat ein übler Wortradikalismus und ein eben so übler Romantizismus in den letzten zwölf Monaten ein Klima entstehen lassen, das ein Zusammenarbeiten auch in Grenzsituationen kaum mehr erwarten läßt. Welche Lehren sollten daher nunmehr, in einer Situation, die bedenklich an jene von 1932 erinnert, gezogen werden?

  1. Eine Partei ist nicht Selbstzweck, sondern hat dem Ganzen des Vaterlandes zu dienen. Wer anders denkt, ist ein Hochverräter.
  2. Ein Kompromiß ist nicht ein Zeichen von Schwäche, sondern von Einsicht und Stärke. Nur der Feige und der Dumme fliehen in den Methodenmonismus, in den Radikalismus des „Alles oder Nichts“.
  3. Die Simplifikation in der Beurteilung und in der Aburteilung des Gegners mag aus pädagogischen Gründen, für die einfachen Gemüter unter den Anhängern, wohl vertretbar sein, nicht aber für eine ernstzunehmende politische Diskussion. Der politisch Andersgesinnte ist kein „Feind“, er ist nicht die Personifikation des Bösen. Wer Demokrat sein will, muß dem Gegner das Recht auf eine andere Meinung zubilligen: schließlich leben Demokraten davon, daß es Andersgesinnte gibt.
  4. Jede politische Behauptung, ob sie nun als „Rechtsradikalismus“ oder als Versuch der totalen Sozialisierung formuliert sei, muß bewiesen werden.
  5. Auch in den Bereichen des Politischen muß das Mitmenschliche seine Position haben. Das gilt auch im Verhalten der Regierungsparteien gegenüber der FPÖ, die nicht immer fair behandelt wurde. Zumindest hätte es einer Unterscheidung der Gruppen in der nationalen Opposition bedurft. Wie unrecht hat man etwa Dr. Gredler getan!
  6. Schließlich sollte man einsehen, daß es bei einem Konflikt, der ähnlich wie jener im Februar 1934 ausgetragen wird, nur Besiegte geben kann. Jedenfalls sind alle Handlungen zu vermeiden, die zu Bedingungen führen können, bei deren Vorhandensein es nur eines kleinen und oft nichtigen Anlasses bedarf, um den offenen und blutigen Konflikt entstehen zu lassen.

Was dann kommt, ist aber nicht die Dritte Republik!

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