FORVM, No. 122
Februar
1964

Dollfuß war schuldiger

Jeder Satz, jedes Wort, das heute ein Österreicher über die Situation von 1934 äußert, ist gleichzeitig eine politische Stellungnahme zu den österreichischen Verhältnissen von 1964. Wie heikel, wie unheilvoll unsere Lage ist, verrät bereits der Titel eines der besten Aufsätze zur österreichischen Gegenwart, der vor kurzem von Janko von Musulin (meinem lieben Klassenkollegen vor 1934) in „Wort und Wahrheit“ erschienen ist: „Austria revisited — Die Zweite Republik in der Sackgasse der Ersten.“

I.

Es ist nicht nur für die Charakterbildung einer jüngeren Generation, sondern auch für die immer notwendige Selbstkritik des politischen Menschen sinnvoll und richtig, sich gelegentlich die Schuldfrage zu stellen. Angesichts so großer und komplexer Phänomene, die den Hintergrund des Bürgerkrieges von 1934 bilden — eines Bürgerkrieges, in dem sich so viele Miseren, Sünden (vor allem auch Unterlassungssünden), innere und äußere Schwierigkeiten der österreichischen Vergangenheit mindestens seit 1866 explosiv verdichten —, empfiehlt es sich jedoch, mehr von den (vielfältigen) Ursachen, von Kausalitäten statt von Fatalitäten und von Schuld und Schuldigen zu sprechen.

Die Parteien der Ersten Republik stehen von 1918 an in der Schocksituation nach einem Weltuntergang. Mit der Donaumonarchie (und ihren „Verwandten“, dem Reich des Zaren und des Sultans) zerbrach eine fünftausendjährige Welt-Ordnung (deren Kontinuität man sehr schön bei Karl Fürst Schwarzenberg: „Adler und Drache“ einsehen kann, in Bild und Text). Keine Partei, keine ansehnliche politische Gruppe vermochte in Österreich nach 1918 ein starkes Staatsbewußtsein zu schaffen. Keine Partei vermochte sich und ihre Anhänger in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einzuwurzeln. Deracinés, entwurzelte Menschen, unbehaust, sehen in allen Parteien auf diesen „Rumpfstaat“, diesen „Zwergstaat“, sehen über ihn hinweg.

Es ist geschichtlich kein Zufall, daß ein entwurzelter Mann aus Österreich, der „erfolgreichste Österreicher des 20. Jahrhunderts“, Adolf Hitler, schließlich aus dem „Menschenmaterial“ (ich verwende hier absichtlich dieses Wort, das ich verabscheue) aller Parteien in Österreich das Material für seinen Bürgerkrieg und seinen Weltkrieg rekrutieren konnte.

Ich glaube, daß alle besonnenen Österreicher heute sich darüber einigen können: keine der beiden Parteien des Februar 1934 trägt die Alleinschuld. Aber die „erste Regierungspartei“, die in den Regierungen am Vorabend des Februar 1934 die führende Rolle und Verantwortung übernahm, hat mit dieser Verantwortung auch ein höheres Maß von Schuld übernommen. Immer stärker wurde von Jahr zu Jahr die alte christlich-soziale Tradition zurückgedrängt, wurden ihre vornehmsten Vertreter ausgebootet oder kaltgestellt, immer mehr glitt man — nicht zuletzt durch den hochbegabten großen Autoritären, Seipel — in rechtsmilitante Versuchungen ab. Die Ausmaße der Schuld, der Mitschuld des Dollfuß-Regimes werden heute immer deutlicher sichtbar, zumal da die historische Forschung sich seiner stärker annimmt.

Auf sozialdemokratischer Seite liegt noch viel im Dunklen. Trotz einigen Einzeluntersuchungen steckt die „histoire sincère“, die kritische und selbstkritische Geschichte der österreichischen und deutschen Sozialdemokratie noch in den Kinderschuhen. Der deutsche und österreichische Sozialismus hat bis heute nichts hervorgebracht, was sich mit den reichhaltigen Forschungen junger und jüngerer deutscher und österreichischer Katholiken über „ihre“ Vergangenheit, über die parteipolitische und kirchenpolitische Situation des deutschen und österreichischen Katholizismus nach 1918 vergleichen läßt. Hier kann man nur an junge sozialistische Historiker den Appell richten: ans Werk! Es ist hohe Zeit — nicht zuletzt um einer sozialistischen Selbstfindung heute und Wegbereitung für morgen die Türen zu öffnen — endlich mit einer kritischen, von wissenschaftlichem und politischem Ethos und Eros beseelten Geschichte der Sozialdemokratie zu beginnen.

Die große, bedeutende und hochproblematische Gestalt Otto Bauers und einige seiner Mitarbeiter, Gegner und Freunde in dereigenen Partei rufen ja gerade nach einer neuen Erforschung und Präsentation.

Straff geführt, mit militanten und militärischen Kadern, mit einer harten Diktatur des „roten Rathauses“, das auf andersdenkende Minderheiten wenig oder gar keine Rücksichten nahm, bot die sozialdemokratische Partei Österreichs vor 1934 nicht nur für bürgerliche Kreise das Schreckbild einer „roten Diktatur“. Die sozialdemokratische „Machtübernahme“, die Erweiterung jener Herrschaft, die das „rote Rathaus“ in Wien in seinem Machtbereich ausübte, auf ganz Österreich: eben dies befürchteten weite Kreise.

Nicht geleugnet soll werden, daß wohl einige sozialdemokratische Politiker „Papiertiger“ waren, unkämpferisch, wenig befähigt und wenig gewillt — hier ihren deutschen Genossen vergleichbar —, um die Macht mit Einsatz aller Mittel zu kämpfen. Wahrscheinlich, und dies ist besonders tragisch, war die Kurve des diktatorischen, militanten, totalitären Elements in der österreichischen Sozialdemokratie (eine Kurve, die vielleicht um 1927/29 einen Höhepunkt erreichte) bereits stark im Absinken. Die zur politischen Zusammenarbeit, zur konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Gegner bereiten Elemente waren im Vordringen in dieser Partei. Desto größer war die Tragödie der österreichischen Sozialisten — und das Drama des Staates.

Die „autoritär gesinnte Rechte“ bestand aus sehr verschiedenen Männern, Gruppen, Kreisen, die sich nur selten selbst auf einige wenige gemeinsame Punkte einigen konnten. Man sollte mit dem alten parteipolitischen Slogan „Austrofaschismus“ heute sehr vorsichtig umgehen (genau so mit der „roten Katze“ natürlich!).

Wenn in christlichsozialen Kreisen „faschistische“ Tendenzen hochkamen, dann zumeist aus Angst und in Reaktion auf radikalere, „schlagkräftigere“ Elemente in der Heimwehr und im Nationalsozialismus, von denen man sich übertrumpft, überspielt, erpreßt fühlte — und gegen die man, in fatalem Irrtum, Hilfe suchte bei Mussolini, und erst über ihn beim Faschismus.

Es ist bedeutsam, gerade heute dies festzuhalten: für Dollfuß und nicht wenige christlichsoziale Österreicher seines Kurses galt Mussolini auf Grund seiner Persönlichkeit als eine Vertrauensgestalt, als ein Mann und Mensch, der befähigt und gewillt war, gegen die Nationalsozialisten kämpferisch aufzutreten. Erst hinter Mussolini — und möglichst diskret, möchte ich fast sagen, verborgen — erschien der „Faschismus“ selbst.

Ich habe nicht die Aufgabe, Mussolini zu verteidigen. Doch um das Bild, das sich viele christlichsoziale Österreicher und wohl auch Dollfuß selbst von Mussolini machten, verständlich werden zu lassen, möchte ich an die Schilderung erinnern, die Ernst Niekisch, bekanntlich ein Mann der deutschen nationalbolschewistischen Linken, „der rote Ernst Jünger“, von einer Begegnung mit Mussolini in seiner Autobiographie gibt; Mussolini lud Niekisch noch zu einer Zeit ein, als er bereits mit vollen Segeln in Hitlers Meere einscherte.

II.

Wenn wir alles Psychotische und Neurotische, alles Wirre und Verworrene, alles Enge und im schlechten Sinn Fanatische abstreichen: es gab damals, um 1934, in beiden großen Lagern politische Kämpfer, die von hohem politischem Ethos und Eros beseelt waren — und sich dies dann zum Teil auch wechselseitig bestätigten, als sie einander erstmals persönlich des näheren kennenlernten: in den Gefängnissen und Lagern Hitlers. Es gab damals wohl mehr politische Charaktere und Charakterköpfe als heute. Diese Tatsache sollte man unserer Jugend nicht vorenthalten.

Als positive, d.h. für die Zukunft konstruktive Züge in der Sozialdemokratie von 1934 möchte ich jene ansprechen, die damals bereits in Entwicklung waren, aber erst nach 1945 geschichtsmächtig in Erscheinung treten konnten: die Bemühungen, bei allem Festhalten am eigenen Wollen, Weltbild und Planen, doch zu einer echten Koexistenz, ja Zusammenarbeit mit dem politischen Gegner zu kommen.

Als große Leistungen der österreichischen Sozialdemokratie 1918-1934 bleiben gültig: der Wohnbau der Gemeinde Wien (in der Zeit des Ständestaats ließ sich der Prinz von Wales vom Bürgermeister Schmitz diese Wohnbauten zeigen); die Schulreform Glöckels; die Sanitätsverwaltung Tandlers; die große Bewegung der sozialistischen Volksbildung und Erziehung der Arbeitermassen.

Es gab, hier in Wien und in ganz Österreich, einen jungen Sozialismus, der es ernst nahm mit seiner Selbstverpflichtung: eine neue, bessere, gesündere, freiere Welt zu bauen. Es gab einen politischen Humanismus österreichischer sozialistischer Prägung, der heute ebenso sorgfältig studiert und vorgestellt werden sollte wie einige Schattenseiten des Roten Wien und der österreichischen Sozialdemokratie.

Zu den positiven Zügen dieses alten österreichischen Sozialismus möchte ich nicht zuletzt rechnen: das ernste geistige Ringen innerhalb der Partei um die politische Theorie, um Aufgabe, Wege und Ziele des Sozialismus in Österreich, Deutschland, Europa, der Einen Welt. Renner, beide Otto Bauer, die Familie Adler, Max Adler: dieser österreichische Sozialismus hat ein halbes Dutzend bedeutender politischer Denker hervorgebracht, mehr, als heute ganz Österreich besitzt.

Als positive Züge der damaligen Rechten (die immer eine Mehrzahl von „Rechten“ war) möchte ich einmal die in den Hintergrund gedrängten demokratischen, föderalistischen, freiheitlichen Traditionen und Männer der älteren christlichsozialen Partei und Bewegung ansprechen. Von Vorarlberg bis zum Burgenland, von Oberösterreich (das besonders starke christlichsoziale demokratische Elemente besaß) bis Wien, von Kärnten bis Tirol: Männer, die sich auch in den Jahren 1934 bis 1938 bemühten, den Staat als Rechtsstaat zu verwalten.

Wenn man keine Angst vor denunziatorischen Abstempelungen hat, wird man sogar in einigen Konzeptionen und Bemühungen rund um den Ständestaat und um die Projekte, einen auf Korporationen gebauten Staat zu schaffen, erstaunlich viel von dem sehen, was heute und morgen politische Strukturen bildet: den „Kammerstaat“, die „Bünde“ und „Verbände“, die großen Interessenvertretungen der Arbeiter, Angestellten, Bauern, Industriellen usw. Gar manches, was heute echt demokratisch, aber auch gar manches, was auch heute nur demokratisch frisiert ist, ließe sich bei genauerem Hinsehen zumindest rudimentär in den Jahren 1933 bis 1938 erkennen.

Als ein unproblematisch positives Element der „Rechten“ von 1934 möchte ich die ernsten und aufrichtigen Bemühungen ansprechen, gesunden österreichischen Patriotismus zu schaffen — durchaus jenseits fragwürdiger Vaterländereien — und mit aller Energie wirklich gegen Hitler und gegen den Nationalsozialismus zu kämpfen. Es gab damals im westlichen Europa, nicht zuletzt auch in England, Leute, die sich für patentierte Demokraten hielten und doch gerade auf diesen Willen herabsahen, gegen das Dritte Reich zu kämpfen, herabsahen auf diese „kleinen“ Österreicher „rechter“ Observanz.

III.

Ich hoffe, daß sich die Ereignisse von 1934 in keiner Form wiederholen: das ist für mich ein Akt des persönlichen, politischen Glaubens und Einsatzes. An sich halte ich unsere Österreicher für befähigt, auch in der Zukunft alles zu tun, was sie getan, und alles zu leisten, was sie geleistet haben, desgleichen fähig all dessen, was sie nicht getan und nicht geleistet haben, in allen unseren Vergangenheiten. Die ganz andersartige außenpolitische Situation dürfte am stärksten dazu beitragen, eine „Wiederholung“ des Jahres 1934 zu verhindern.

Zu welcher Gestalt werden sich die beiden Regierungsparteien mausern? Ihre Verpackung in Fettpolstern der Konsumzivilisation läßt — nicht nur bei etlichen Gesichtern — eine Bonhommie erscheinen, die ihre Menschenfreundlichkeit erst beweisen muß. Wir sind ein Entwicklungsland, gehören heute zu den kulturell unterentwickelten Ländern. Auch unsere Demokratie ist unterentwickelt, wohl aber auch entwicklungsfähig: in beiden Parteien. Für Österreich und für unsere Parteien wird viel davon abhängen, ob im politischen Nachwuchs und in den Führungsgruppen jemals die „offenen“, humanen Typen zum Zuge kommen werden, oder harte, ja auch bösartige Partei-Bosse, die im Grunde nichts wünschen, als sich selbst durchzusetzen: mit allen Mitteln, die sie heute, morgen und übermorgen an sich reißen können.

Die österreichische Innenpolitik hat, nach 1945, aus den Februar-Ereignissen Lehren gezogen: gerade durch jene Männer, die damals hüben und drüben mit dabei waren. Kritisch wird die Lage unter anderem dadurch, daß Generationen in die politische Arbeit und Verantwortung einrücken, für die der Februar 1934 und Österreich 1918 bis 1938 ferne, fremde Vergangenheit sind. Menschen, die vielleicht morgen mit dem Feuer spielen werden. Doch steht zu hoffen, daß auch im politischen Leben ein neuer Menschentyp zur Geltung kommt: Menschen, die an sich andere Formen des politischen Kampfes aktivieren; Menschen, die von Haus aus gewohnt sind, auf die Schwächen und Stärken des Gegners ebenso Rücksicht zu nehmen wie auf die Stärken und Schwächen im eigenen Lager. Für diese Menschen eines neuen Typs, geborene Demokraten, wird einst der Februar 1934 zu den ernsten Malen einer bewältigten Vergangenheit gehören.

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