FORVM, No. 137
Mai
1965

E. K. Winter — Mitschöpfer der Zweiten Republik

Der Mann, dem diese Zeilen gewidmet sind, ist, so scheint es, von unserer Gesellschaft bereits kurz nach seinem Tode im Jahre 1959 dem Schicksal der Vergessenheit überantwortet worden: Er hat dieser Gesellschaft mutiger und gründlicher widerstanden als jene, denen lobendes Angedenken zuteil wird.

Winter repräsentierte in seiner physischen und moralischen Existenz einen eigenen philosophischen Kosmos. Er hatte seine Überzeugungen und Erkenntnisse nicht nur intellektuell sich erkämpft, sondern bis zur letzten Konsequenz gelebt. Philosophischer Idealist und tiefgläubiger Katholik, verwirklichte er im persönlichen Bereich die Einheit von Wert und Wirklichkeit menschlichen Seins.

Ernst Karl Winter war — 1895 geboren — ein Kind des vergangenen Jahrhunderts, dessen geistige Kräfte nicht bloß seine Jugend, sondern sein ganzes Leben bestimmten. Noch als reifer Mann bekannte er sich zur österreichischen Romantik, deren Positionen er wissenschaftlich weiterentwickelte und politisch verteidigte.

Als begeisterter Monarchist und Großösterreicher erlebte Winter im Waffenrock der k.u.k. Armee den Untergang der alten Heimat.

Als Einjährig-Freiwilliger rückte er im Oktober 1914 zum Landesschützenregiment Nr. II in Bozen ein. Er hatte Nord- und Südtirol schon als Gymnasiast kreuz und quer durchwandert und fühlte sich diesem Land als Wahlheimat besonders verbunden. Er konnte sich „keinen idealeren Kriegsdienst vorstellen als die Verteidigung Südtirols gegen den erwarteten Angriff Italiens“. [1]

In diesem Regiment lernte er den um drei Jahre älteren Dollfuß kennen. Sie waren beinahe die einzigen, die aus Wien bzw. Niederösterreich stammten; der größte Teil der Einjährigen waren Lehrer aus den Alpen- und sudetendeutschen Gebieten. In Diskussionen mit diesen Kriegskameraden kamen Winter und Dollfuß einander nahe: sie standen gemeinsam gegen die vorherrschende Meinung „der durchaus artechten österreichischen Halbintellektuellen mit deutschnationalem Komplex“, [2] die auf den Sieg der Deutschen in Frankreich und die Niederlage der Österreicher in Galizien gerichtet war; sie verteidigten demgegenüber die Waffenehre der Österreicher. Dollfuß imponierte Winter durch seine geschickte Argumentation und sein Bekenntnis zu Österreich.

Winters Einstellung gegen den deutschnationalen, heidnischen Geist des aktiven österreichischen Offizierskorps, den Geist der Conrad, Bardolff und Glaise, [3] führte schließlich zu einer provozierten „Ehrenaffaire“. Winter weigerte sich als bewußter Duellgegner, eine Herausforderung anzunehmen und wurde mit Kasernenarrest bestraft. Die Befähigung für Beförderung zum Reserveoffizier wurde ihm aberkannt und seine Versetzung an die ostgalizische Dnjestr-Front verfügt. [4] Bis zum Ende des Krieges wurde ihm — trotz dem Duellverbot Kaiser Karls — die Offizierscharge verweigert.

Winters Eintreten für seine katholische Überzeugung imponierte Dollfuß. Die freundschaftlichen Gefühle, die Dollfuß und Winter zeitlebens füreinander hatten, stammten aus diesen Kampftagen am Isonzo. Die beiden sollten später ganz verschiedene politische Wege gehen, sie wurden zu Repräsentanten der zwei dem österreichischen Konservativismus innewohnenden Tendenzen: der autoritär-faschistischen und der demokratischen.

Der Zusammenbruch der Donaumonarchie wurde für Winter das große Trauma seines Lebens. Seine Tragik war es, daß er jeweils auf der „falschen Seite“ kämpfte, jeweils bei den Verlierern war, 1918, 1934, 1938. Daß sich seine politischen Voraussagen, nicht der Intuition, sondern wissenschaftlicher Forschung entstammend, regelmäßig erfüllten — mit klarem Blick sah er die Katastrophen des Bürgerkriegs wie der deutschen Besetzung kommen — mag diese Tragik gemildert haben. Winter, der persönlich immer scheiterte, behielt gegenüber all seinen erfolgreichen Gegnern schließlich recht.

Bindestrich statt Kaiser

Als Winter 1918 von der Front in das darbende, von der Revolution geschüttelte Wien zurückkehrte, lehnte er die Republik Deutschösterreich aus tiefster Seele ab. Diesen Staat, den niemand wollte, dessen erste offizielle Lebensäußerung die Selbstaufgabe an Deutschland war, verleugnete auch er, wenngleich nicht als Großdeutscher, sondern — mit verbissener Hartnäckigkeit — als Großösterreicher.

Ihn erschütterte die Leichtfertigkeit, mit welcher der Klerus und vor allem „die Mehrheit im österreichischen CV den neuen Verhältnissen auf der ganzen Linie Rechnung trug, den Doppeladler aus den Wappen der Verbindungen löschte und den Kaiser im Wahlspruch durch einen Bindestrich ersetzte“. [5]

Das Erlebnis des Anschlußwahnes unter den österreichischen Katholiken führte Winter zu scharfsinnigen Analysen der erkenntniskritischen Grundlagen des politischen Katholizismus. Seine weitere politische Tätigkeit ist ohne Kenntnis dieser wissenschaftlichen Arbeiten schwer verständlich. Die Rolle dieses Mannes in der Ersten Republik, seine Bedeutung als ideologischer Wegbereiter der Zweiten Republik begreift man erst vor dem Hintergrund seiner soziologischen Weltanschauung und ihrer metaphysischen Verwurzelung.

Ansatzpunkt für Winters soziologisches Denken ist die Lehre von den zwei Ständen der Gesellschaft, dem Stand der Laien — Fürsten und Väter — und dem Stand der Priester, die beide im Sakramentalen — Ordo und Ehe — begründet sind. In Weiterentwicklung der barock-romantischen Soziologie, die von Sir Robert Filmer über Wilhelm Schröder, Philipp Wilhelm Hörnigk, Carl Ludwig von Haller, Adam Müller, Karl von Vogelsang zu Anton Orel führt, ist auch Winters Lehre von der Gesellschaft paternal, personal und familial.

Sowohl dem Stand der Fürsten und Väter als auch dem Stand der Priester gibt Winter für deren jeweils eigenen Bereich volle Souveränität. Der Dualismus, der hier integral vertreten wird, ist keiner von Natur und Übernatur, von Causa prima und Causa secunda, wie in der Scholastik, sondern vielmehr „ein solcher von totaler Kultur, welche Religion und Ethik einschließt, und geoffenbarter, positiver Religion, welche nicht Kultur, sondern Seelenheil und Rettung fürs Jenseits bezweckt, daher nur die heilsnotwendige Religion und Ethik (Moral) in sich schließt“. [6] Durch die katholische Lehre vom Sakrament der Ehe, das sich die Gatten selbst spenden, ist für Winter die prinzipielle Eigengesetzlichkeit der auf Ehe, Familientum und Vatertum aufgebauten Kultur in ihrem Kern sichergestellt.

Mit Platon gegen Thomas

Der Lehre von den zwei Ständen entspricht erkenntnistheoretisch Winters Theorie des Methodendualismus. [7]

Das Objekt seiner ideologiekritischen Untersuchungen, an welchen er diesen Methodendualismus von Theologie und Soziologie entwickelte, war der Schulenstreit im modernen Katholizismus: auf der einen Seite der Romantiker Karl Vogelsang, konservativer Sozialpolitiker, auf der anderen Seite der nationalökonomische Theoretiker der Gesellschaft Jesu, Heinrich Pesch. In seinem ersten wissenschaftlichen Werk, über die Sozialmetaphysik der Scholastik, [8] bezeichnete Winter den politischen und sozialen Katholizismus als von der Scholastik bestimmt. Dieser innerkatholischen Geistesrichtung stellte er in einem zweiten wissenschaftlichen Werk, über das Soziologische bei Platon, [9] die platonisch-augustinische Tradition gegenüber.

Während die scholastische Methode für den kirchlichreligiösen Bereich nach dem Urteil der ihre eigene Sphäre souverän verwaltenden Kirche ihre Berechtigung habe, scheide sie für den nicht minder souveränen Bereich der weltlichen Kultur und Wissenschaft aus. [10] Die unzulässige „naive Verquickung von Religion und Wissenschaft“ behindere das Vorwärtsschreiten beider.

Im innerkatholischen Schulenstreit sieht Winter die Wiederkehr des die ganze abendländische Geistesgeschichte von der Antike her durchwaltenden Gegensatzes von „Platonismus“ und „Aristotelismus“, von „Augustinismus“ und „Thomismus“, von „Romantik“ und „Scholastik“. Jeder kritische Denker müsse sich methodologisch-erkenntnistheoretisch für eine dieser beiden philosophischen Schulen entscheiden. Winter traf diese Entscheidung zugunsten Platons, den er in der österreichischen Sozialromantik wiederentdeckte.

Wer Wissenschaft treibt, hat sich zu fragen, für welche Zwecke analytisches und synthetisches Denken, in welchen systematischen, erkenntniskritischen Gegensatz die genannten philosophie- und soziologiegeschichtlichen Gegensätze einschließbar sind, eigentlich verwendbar ist. Er wird finden, daß ersteres für das Nachformen eines gegebenen Systems, das ‚erläutert‘ werden will, dient, letzteres für die schöpferische Erzeugung einer Methode, deren Befähigung in Bewältigung von Wirklichkeit und Erfahrung ‚erweitert‘ werden soll. [11]

Der Zweck der Kirche, den theologisch-dogmatischen Grundgehalt einer positiven Religion aus apologetischen und pastoralen Gründen sicherzustellen, legt die analytische, somit scholastische Methode nahe. Die wissenschaftliche Methode im kritischen Sinne — Winter bezeichnet sie als die synthetisch-konstruktive — stellt die bisherigen Ergebnisse stets aufs neue in Frage und gelangt dadurch zu immer tieferen Erkenntnissen. Der eigentliche Sinn des kritischen Denkens, das wie das theologische Denken mit einer konstruktiven Grundsetzung beginnt, sei es, diese Hypothesis fortlaufend zu berichtigen.

Ist die scholastische Methode im kirchlichen, durch die Offenbarungshütung begrenzten Bereich berechtigt, so ist ihre Anwendung in den außerkirchlichen Domänen von weltlicher Kultur und Wissenschaft schon deshalb unstatthaft, weil sie den „Lebensnerv wissenschaftlichen Verfahrens, den ewigen Stachel, der Wissenschaft vorantreibt, unterbindet, verkehrt und in eine bloße Beweisführung für vorher gegebene religiöse Dogmen verwandelt“. Leider verleite die scholastische Methode, deren sich die Kirche bedient, nur allzu oft zum Übergriff auf die weltliche Sphäre der Wissenschaft, der sie die entscheidenden philosophischen Direktiven leihen will. Immer aber werde sie, bewußt oder unbewußt, wieviele Fachgebiete sie sich auch zu unterwerfen vermag, zum Dogma zurückkehren. [12]

Winters erkenntniskritische Spekulation entzündete sich am katholischen Schulenstreit zwischen Dominikanern, Franziskanern und den das suarezianische Kompromiß vertretenden Jesuiten. In ihrer Bedeutung überschreitet sie jedoch den innerkatholischen Rahmen und führt in den Bereich wissenschaftlicher Methodologie überhaupt. Dies wird in der Frage der „Reinen Tatsachenforschung“ klar, die das Postulat einer im Grunde unkritischen Wissenschaft darstellt. Winter, der sich hier als echter Neukantianer erweist, kritisiert die naive — „scholastische“ — Vorstellung, daß „man unvoreingenommen die Tatsachen selbst sprechen lassen soll“. Tatsachen können nur erhoben werden, wenn ein gedankliches System als heuristisches und klassifikatorisches Prinzip vorhanden ist. Eine von allen historischen „Werturteilen“ losgelöste Tatsachenforschung sei schon deshalb gedanklich nicht vollziehbar, weil jede historische Analyse ohne vorausgegangene historische Synthese unmöglich ist.

In einer großen Zahl von historischen Studien hat Winter seine „synthetisch-konstruktive“ Methode ganz bewußt angewandt, d.h. die geistigen Voraussetzungen seiner Schlußfolgerungen jeweils einbekannt. Die Ehrlichkeit, mit der er das Ziel und den Sinn seiner Forschung stets nannte, trug ihm die Mißgunst vieler Historiker ein. Sie vermuteten, auf wenig selbstkritische Weise, dort mangelnde Wissenschaftlichkeit, wo in Wahrheit „Voraussetzungsbewußtsein“ vorlag.

Die wissenschaftlichen Positionen Winters, seine Versuche, die Soziologie als eigene Wissenschaft mit eigener Methodik im Geiste Platons und Kants grundzulegen, wurden wesentlich durch Max Adler bestimmt, der die Brücke vom Marxismus zum Neukantianismus geschlagen hatte, ferner durch Othmar Spann und Hans Kelsen. Spanns metaphysische Ganzheitslehre, die sich formal als Spätprodukt konservativen Denkens ausgab, faktisch aber dem Faschismus den Weg bereitete, lehnte Winter als ihm wissenschaftlich und politisch wesensfremd ab. Die Reine Rechtslehre der Wiener Schule Kelsens hat Winter hingegen voll in sein eigenes System rezipiert und dadurch zugleich ein gutes Stück weitergedacht.

Das Kernstück der Reinen Rechtslehre ist die Lehre von der Grundnorm als hypothetischem oder fiktivem [13] Geltungsgrund allen Rechts. Kelsens entscheidende Erkenntnis, daß Rechtswissenschaft keine Sozialwissenschaft sei und daher der formalen Logik bedürfe, wurde von Winter voll anerkannt. Als eigene Wissenschaft müsse neben der Reinen Rechtslehre die Reine Soziologie entstehen.

Winters Gedankengang wird an der Naturrechtsmetaphysik klar. Diese will das positive Recht durch Unterwerfung unter ein Recht höherer Ordnung, das Naturrecht, vor asozialen Exzessen bewahren. Das Naturrecht führe jedoch, wie Winter im Sinne Kelsens erklärt, [14] nicht zur Verwirklichung der Gerechtigkeit in der Rechtsordnung, sondern zur Legalisierung der jeweils bestehenden Sozialordnung und zur Legitimierung des positiven Rechtes. Gerade diese naturrechtliche Beglaubigung einer konkreten Rechtsordnung dränge einen Staat zur Übersteigerung seiner Kompetenzen, im Gegensatz zur nüchternen positivistischen Selbstbescheidung, die den Doppelgänger und das Schattenbild des Naturrechts im Hintergrund nicht nötig habe.

Die Aufgabe, die Gesellschaft vor asozialen Exzessen in der Rechtsordnung zu bewahren, könne von der Naturrechtslehre, kraft innerer Logik, mit ihren gänzlich untauglichen Mitteln nicht vollbracht werden, desgleichen nicht von der Reinen Rechtslehre, welche damit schon per definitionem nichts zu tun hat. Winter wollte diese Aufgabe durch seine „transzendentale Sozialtheorie“ zur Geltung bringen. Diese Theorie geht von der „kategorialen Grundgestalt“ [15] des Sozialen und von der Idee des Staates aus.

Winters philosophisch-theologisches Bekenntnis bestimmte nicht nur seine wissenschaftliche Tätigkeit, sondern auch seine politische Funktion in Österreich. Er wollte nie Stubengelehrter und weltflüchtiger Wissenschaftler sein; seine Philosophie drängte ihn in die politische Arena, verpflichtete ihn zum Kampf für seine Idee in einer Gesellschaft und in einer historischen Situation, die vom Untergang in der nazideutschen Barbarei bedroht war. Im Kampf um seine österreichische Heimat, den er auf verloren scheinendem Posten führte, verbündete sich der katholisch-romantische Konservative mit der sozialdemokratischen Arbeiterschaft. Nicht zuletzt auf Grund seiner philosophisch-soziologischen Überzeugung erkannte Winter diese Arbeiterschaft als politisch konstruktive Kraft.

Verband Winter mit Dollfuß, dessen Politik er häufig und, nach dem Staatsstreich, sehr vehement kritisierte, eine echte Freundschaft, so war seine Einstellung zum Priester-Staatsmann Seipel, dessen Geist das christlichsoziale Lager der Ersten Republik bestimmte, eindeutig ablehnend. In Seipel sah Winter die Personifizierung der katholischen Scholastik, die Politik mit Seelsorge verquicke.

Contra Seipel

Seipel hatte viele und unbedingte Gegner in der Sozialdemokratie, voran Otto Bauer, der mit ihm in brillanten parlamentarischen Rededuellen kämpfte. Selbst Otto Bauers Reden verblassen jedoch neben Winters tiefschürfender Analyse des Priesterpolitikers. [16] Winter verstand Seipels religiöse Welt, zu der Bauer keinen Zugang hatte. Seine Kritik erfloß aus dem Methodendualismus: Seipel habe Politik um der Seelsorge willen getrieben, d.h. im Grunde Politik ohne politische Prinzipien zur Wahrung kirchlicher Interessen. Seipel habe sich an die jeweilige Situation unter Preisgabe staatspolitischer Grundsätze um des „Seelenheils“ willen angepaßt. Er habe das aus aristotelischem Geiste stammende thomistische Prinzip der „Akkomodation“ in der Sphäre der Politik angewandt.

Tatsächlich war Seipel Monarchist, solange es die Monarchie gab, sodann — wie Winter wohl richtig vermutet — Mitverfasser der Verzichtserklärung Kaiser Karls vom 11. November 1918, auf deren meisterhaft unklaren Wortlaut Republikaner wie Monarchisten sich mit gleichem Recht berufen konnten. Nach Ausrufung der Republik wurde Seipel zum feurigen Republikaner. Aus alledem schließt Winter, daß dieser Mann der Kirche, zutiefst verhaftet in scholastischen Schemata, dem Staat und der Gesellschaft jeglichen eigenen Wert absprach.

Ich gestehe für meine Person, daß gerade dieses erschütterndste Erlebnis meiner Jugend, dieses Schwachwerden der mit dem Hause Österreich seit Jahrhunderten aufs engste verbundenen, ihm alles verdankenden österreichischen Kirche, diese Kapitulation des österreichischen Katholizismus vor den Modeströmungen des Jahres 1918, die den verstorbenen Kaiser Karl einmal zu dem Ausruf veranlaßte: ‚O wie feig sind die Katholiken oft‘, meine ganze geistige Entwicklung wie nichts anderes bestimmt hat ... alles dies entsprang in meiner geistigen Entwicklung im Grunde der schweren Enttäuschung über die Wendigkeit, um nicht zu sagen: Charakterlosigkeit katholischer Menschen in den politischen Ereignissen der letzten zwei Jahrzehnte. [17]

In einigen Frühschriften, wie „Nibelungentreue-Nibelungenehre“ (1921) und „Austria erit in orbe ultima“ (1922), gab sich Winter als echter Orelianer betont antidemokratisch und antirepublikanisch. Sodann trat er, nach seinen wissenschaftlichen Lehrjahren, erst im Jahre 1927, in der „Österreichischen Aktion“, [18] politisch wieder an die Öffentlichkeit. Die Verfasser des Sammelbandes mit diesem Titel waren A. M. Knoll, A. Missong, W. Schmid, E. K. Winter und H. K. Zessner-Spitzenberg. Sie bekannten sich zur „katholisch-soziologischen Tradition, wie sie in Österreich zuletzt Karl v. Vogelsang verkörperte“.

Die Autoren wählten den Titel des Bandes in bewußter Anlehnung an die von Charles Maurras in Frankreich gegründete „Action française“, welche die französische Republik bekämpfte und das Legitimitätsprinzip, verkörpert im französischen Königstum, verfocht. Ernst Nolte hat in seinem Werk „Der Faschismus in seiner Epoche“ [19] sich um den Nachweis bemüht, daß die „Action française“ den italienischen Faschismus wie den deutschen Nazismus wesentlich inspiriert habe. Es sei deshalb festgestellt, daß der unleugbare Einfluß, den Maurras auf Winter und seine Freunde hatte, sich auf das Bekenntnis zum politischen Prinzip des Konservativismus beschränkte; es war ein Konservativismus, der zum Faschismus in unversöhnlichen Gegensatz trat.

Austria sacra

1926, ein Jahr vor der „Österreichischen Aktion“, veröffentlichte Winter „Die Heilige Straße“, [20] ein Büchlein, das als religions- und kulturgeschichtlicher Führer entlang der Pilgerstraße von Wien nach Mariazell gedacht war. Nach Inhalt wie Entstehungsgeschichte ist dieses Werk ein Dokument für Winters tiefe katholische Frömmigkeit. Winter, damals schon Vater mehrerer Kinder, verfügte als freischaffender Schriftsteller über kein regelmäßiges und sicheres Einkommen. Die Sorge um das tägliche Brot war drückend. Man bewohnte im 18. Wiener Gemeindebezirk eine viel zu enge Mieterschutzwohnung, träumte von einem Schrebergarten am Stadtrand. Eine bescheidene Erbschaft, die in dieser Zeit anfiel, hätte es der Familie ermöglicht, diesen lang gehegten Wunsch zu erfüllen. Im Familienkonsilium, in dem auch die Kinder Sitz und Stimme hatten, wurde nun beraten, ob das geerbte Geld für den Ankauf eines Schrebergartens samt kleinem Haus auf dem Schafberg verwendet werden sollte oder aber für einen höheren Zweck, für die Herausgabe jenes Werkes, das „der katholischen Jugend und dem katholischen Volk in Österreich“ gewidmet sein sollte. Man entschied sich für dieses und verband damit das Gelübde, das Reinerträgnis der Publikation den Marienheiligtümern von Mariazell und Maria Gugging zugehen zu lassen.

Die „Heilige Straße“ war viel mehr als eine beschauliche Darstellung der historischen und religiösen Denkmäler für fromme Wallfahrer; sie war auch ein politisches Manifest, das im Grunde eine ganze katholische Weltanschauung in sich begriff: „Ein Lebensbuch für katholische Österreicher, enthaltend eine Geschichte Österreichs in Grundzügen vom Standpunkt Maria Zells und der Heiligen Straße zum Beweis dafür, daß in erster Linie Religion, Autorität und Ehe die Völkerschicksale bestimmen.“

Die „Heilige Straße“ sollte mithelfen, das österreichische Problem zu lösen, das Interesse für die „Verwurzelung aller Politik in der Mystik“ zu wecken. Ohne solche Verwurzelung können weder Staat noch Familie gedeihen. Aus der Kenntnis der österreichischen Geschichte sollte nach Winters Wunsch ein soziales Aufbauprogramm erfließen, das mit Hilfe der Engel und Österreichs Heiligen die Zukunft retten sollte. [21]

Das in der „Heiligen Straße“ bereits formulierte Österreich-Bekenntnis Winters wurde in der „Österreichischen Aktion“ programmatisch weiter ausgearbeitet. Wer heute den sachlich und historisch in Wahrheit bereits entschiedenen Streit um die österreichische Nation verfolgt, wird mit Interesse zur Kenntnis nehmen, daß die Begründer der „Österreichischen Aktion“ als erste die nationale und kulturelle Eigenständigkeit Österreichs betonten. In der Tat sahen sie ihre Hauptaufgabe in der wissenschaftlichen Untermauerung der These von der nationalen Selbständigkeit Österreichs. Lange vor dem braunen Terror in Deutschland und zu einer Zeit, da der blinde Anschlußwahn in Österreich zum guten Ton gehörte, haben diese Männer die Staatsideologie des neuen Österreichs begründet. H. K. Zessner-Spitzenberg hat dafür als einer der ersten Österreicher bereits 1938 in Dachau mit dem Leben bezahlen müssen.

Auch Winter — und darin vollzog sich in seiner Person das „österreichische Schicksal“ — bezahlte für die „Österreichische Aktion“; die Professur an der Universität Wien wurde ihm durch den großdeutsch eingestellten Othmar Spann verweigert. Der Alma mater Rudolphina gereicht es auch nicht zur Ehre, daß sie ihm nahezu 25 Jahre später aus formalen Gründen den bloßen Professorentitel verweigerte.

Das Motto der „Österreichischen Aktion“ wurde später geradezu ein geflügeltes Wort: „Rechts stehen und links denken!“ Auf diese prägnante Formel läßt sich in der Tat Winters Konservativismus bringen. Er sagt von diesem, daß er „in der Tradition wurzle und doch den Bedürfnissen und Forderungen der Zeit, so links sie scheinbar sind, im Namen der Tradition Rechnung trägt“. [22]

Daß Konservativismus begrifflich nicht Verschwörung mit dunklen Mächten der Vergangenheit zur Hintanhaltung gesellschaftlichen Fortschritts bedeutet, macht Winter an einer anderen Stelle klar, wo er seine Haltung „als Ausdruck einer wissenschaftlichen Grundauffassung betrachtet, in der die Legalität unter allen Umständen mehr gilt als die Revolution, die politische Revolution auf alle Fälle verworfen wird, gerade wegen der ausschließlich in einem stabilen Staatswesen möglichen ‚sozialen Revolution‘, das heißt die Rechtskontinuität des Staates gerade um der sozialen Emanzipation des Proletariats willen bejaht wird“. [23]

nächster Teil: E. K. Winter — Mitschöpfer der Zweiten (...)

[1Ernst Karl Winter: Christentum und Zivilisation, Wien 1956, S. 373.

[2A.a.O., S. 372.

[3A.a.O., S. 376.

[4A.a.O., S. 374.

[5A.a.O., S. 378.

[6E. K. Winter: Die Sozialmetaphysik der Scholastik, Leipzig und Wien 1929, S. 168 ff.

[7Der Begriff des Methodendualismus wurde zuerst von A. M. Knoll geprägt, der in seinem Werk „Der Zins in der Scholastik“, Innsbruck 1933, die in diesem Begriff enthaltenen Grundgedanken religionssoziologisch herausarbeitete.

[8Vgl. Anm. 6.

[9E. K. Winter: Platon. Das Soziologische in der Ideenlehre, Wien 1930.

[10Die Sozialmetaphysik der Scholastik, S. 49.

[11A.a.O., S. 3.

[12A.a.O., S. 49.

[13Entgegen seiner bisherigen Theorie vertritt Kelsen nunmehr die Auffassung, daß es sich bei der Grundnorm nicht um eine Hypothese, sondern um eine Fiktion handelt. Vgl. Hans Kelsen: Die Funktion der Verfassung, FORVM, Dezember 1964.

[14Die Sozialmetaphysik der Scholastik, S. 51 ff.

[15Platon. Das Soziologische in der Ideenlehre, S. 67.

[16In Winters Nachlaß fanden sich verschiedene Monographien über Seipel. Der Europa Verlag in Wien, der die Neuherausgabe sämtlicher Werke Winters vorbereitet, wird auch Winters große Seipel-Biographie veröffentlichen.

[17E. K. Winter: Legitimismus contra Nationalsozialismus, Beihefte zu den „Wiener Politischen Blättern“, Nr. 1, S. 51.

[18„Die Österreichische Aktion“, Programmatische Studien von August M. Knoll, Alfred Missong, Wilhelm Schmid, Ernst Karl Winter, H. K. Zessner-Spitzenberg, Wien 1927.

[19Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963. Vgl. den Vorabdruck im FORVM, Mai 1963.

[20Ernst Karl Winter: Die Heilige Straße, Wien 1926.

[21A.a.O., S. 5 ff.

[22Die Österreichische Aktion, S. 9.

[23Ernst Karl Winter: Die Katastrophe des Austromarxismus, „Wiener Politische Blätter“, 20. Mai 1934, S. 5.

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