FORVM, No. 401-405
Juli
1987

Feuer am Dach der Republik

Am 15. Juli, vor 60 Jahren, erschoß Wiener Polizei ca. 90 Passanten und Demonstranten gegen das Urteil im Schattendorfer Prozeß, den der emeritierte Rechtsanwalt A. F. im Märzheft analysierte — hier berichtet er, als Augenzeuge, von den Unruhen, und belegt seine These: Es war eine Kraftprobe der christlich-sozialen Regierung gegen die Sozialdemokratie: Als die Justiz in Flammen stand.

Am Morgen des 15. Juli 1927 fällt schräg das bereits warme Sonnenlicht auf das Holzkreuz, das zwischen den Häusern Adrigan und Grafl an der Stelle steht, an der der Knabe Josef Grössing gefallen ist.

Vom Boden aufwärts hebt sich ein riesig werdender Schatten. Er überdacht auch den Blutkuchen, den der Invalide Csmarits auf der anderen Straßenseite hinterlassen hat. Dort steht das Gasthaus Tscharmann. Rundum die niedrigen Häuser von Schattendorf in der flachen burgenländischen Landschaft.

Der Schatten begibt sich auf seine Reise. Er ist auf dem Weg nach Wien, zunächst in die Simmering-Graz-Pauker-Werke. Er wächst unterwegs zu Felder und Ortschaften überdeckender Größe in stets sich dehnender Wucht. Die linke Schattenhand hält einen großen Edelholzgrammophontrichter mit der Aufschrift: „His Master’s Voice“.

Immer wieder sieht man die Silhouette des Hofrates Dr. Ganzwohl, der seinen Zwicker putzt, aufsetzt, wieder abnimmt, neuerlich putzt, wieder aufsetzt. Aus dem Grammophontrichter spricht der Knabe Josef Grössing: ojeje, — und fällt nach einigen Schritten entseelt zu Boden.

Im Schattenturm des Riesen bildet sich menschliche Gerechtigkeit. Sie heult bald aus dem Grammophontrichter in die Luft. Jetzt ist es schon die Luft über Wien. Erfaßt wird die Elektrizitätszentrale, wo sofort ohne Auftrag der Generalstreik ausgerufen wird. Es heult, es heult. Er ist angekommen, der Gerechtigkeitsriese. Sein Haupt wächst über der Stadt Wien beherrschend zu Verzweiflungswut auf. Das Recht, das Minimum an menschlichem Recht, ist tödlich getroffen.

Sie können nicht anders, die Arbeiter von Simmering-Graz-Pauker und anderswo. Aus den Fabriken strömen sie hervor. Sie wissen nicht, wohin sie gehen. Sie strömen gegen die Innere Stadt. Sie haben keinen Auftrag, aber sie können nicht anders. Sie müssen gehen. Das Schattendorf-Urteil hat sie alle ins Herz getroffen.

Am 15. Juli 1927 war ich noch nicht 17 Jahre alt. Was habe ich selbst gesehen?
Mich hatte die Nachricht vom Freispruch in Schattendorf ebenfalls erreicht. Ich ging von meinem Wohnhaus in höchster Erregung durch die Karl-Schweighofer-Straße bis zur Siebensterngasse. Dort war ich plötzlich von einer vorwärtsdrängenden Menge umgeben, die stumm und mit fast verzweifelten Gesichtern, ohne irgendwelche Waffen in den Händen, ganz einfach der Inneren Stadt zuströmten. Sıe war so dicht, daß man nur langsam vorwärts kam. Ich schaute auf die linke Seite der Siebensterngasse. Ich sah ein schmalbrüstiges Waffengeschäft, in dem Gewehre standen. Ein Mann trat mit einem geschulterten Gewehr aus dem Geschäft. Er war offensichtlich auch sehr erregt, aber wegen dieser Menschen. Die Leute gingen, ohne ihn zu beachten, langsam weiter. Es traten, noch bevor man in die Gegend des Volkstheaters kam, derartige Stauungen auf, daß mir klar wurde, ich werde hier nichts Entsprechendes sehen können. In Erinnerung ist mir ganz besonders die stumme Verzweiflung der Leute, die völlige Waffenlosigkeit und das Fehlen jeder Schutzbunduniform. Das dürfte so gegen Mittag gewesen sein.

Über die Ereignisse des 15. Juli 1927 schreibt Manès Sperber in seinem Buch „Alles Vergangene“:

... Unmöglich, daß in ihrer Stadt sich irgendjemand fände, der auf sie schießen würde, als ob sie Hasen wären. Wenn aber so etwas möglich war, dann hätte alles, alles ja sowieso keinen Sinn mehr.

Leider wird das Geschichtsbild der Ersten Republik auch bei der Darstellung des 15. Juli 1927 heute wieder verfälscht. Es wird in Aussendungen behauptet, die militante Sozialdemokratie hätte die Feuerwehrautos gehindert, mit Löscharbeiten am brennenden Justizpalast zu beginnen. Es gibt keine objektivere Beurteilung des 15. Juli 1927, als die Theodor Körners. Es ist die Originalkorrespondenz zwischen dem Präsidenten des „technischen“ Ausschusses des Vorstandes der Sozialdemokratie und dem politischen Vorstand, auch Otto Bauer, vorhanden. Körner, der der beste Zeuge dafür wäre, daß der Schutzbund nur den von einigen Rowdys im Justizpalast angerichteten Brand mitzulöschen half und nirgends mit der Waffe irgendeinen Angriff ausgeübt hat, hat folgendes mitgeteilt:

Am 15. Juli begannen die Auseinandersetzungen im 8. Bezirk und vor dem Parlament. Ab 10.30 Uhr. Berittene Polizisten haben Demonstranten verletzt mit gezogenem Säbel. Es hat sich auf sozialistischer Seite offenbar niemand zu etwas entschließen können. Es waren damals gewiß alle möglichen Leute dort, die mit der Partei nichts zu tun hatten, aber ganz sicher ist, daß die Schutzbündler und Parteigenossen ihre Pflicht erfüllten (soweit Schutzbündler überhaupt vorhanden waren) und schließlich Ruhe herstellten.

Diesem Körner hat dann der Vorstand Schuld gegeben und behauptet, daß der Schutzbund seinem Befehl nicht gehorcht habe. Dabei war Körner zur Rettung von Menschen und zur Löschung des Feuers ohnehin im Justizpalast!

Am 15. Juli 1927 ab 12.45 Uhr marschierten 600 Polizisten mit Bundesheergewehren (geladen mit Dum-Dum-ähnlichen Geschossen) von der Polizeidirektion (Schottenring) zum Schmerlingplatz ab. Sie sollten auf Befehl Schobers, des Polizeipräsidenten (in Verbindung mit Seipel und Hartleb), mit gezielten Salven den Platz räumen.

13 Uhr. Auf dem Schmerlingplatz sind etwa zweihunderttausend Personen versammelt, die um diese Zeit nur zuschauen, was geschieht. Die Feuerwehr hatte schon versucht, zum Justizpalast durchzukommen, der von irgendwem in Brand gesteckt worden war.

Theodor Körner führt im Justizpalast mit Schutzbündlern Hilfsaktionen durch, wobei Richtern, Anwälten und dem Justizpersonal so gut wie möglich geholfen wird.

Die erste Gruppe der bewaffneten Polizei, also lange vor 14 Uhr vor dem Rathaus bzw. auf dem Schmerlingplatz eingelangt, gibt, als Steinwürfe gegen sie erfolgen, Salve in Richtung Rathaus ab. Karl Seitz, der mit den Löschautos einen Weg bahnen will, wird von der Menge zurückgedrängt. Bis 14 Uhr vergeht noch einige Zeit. Um 14 Uhr bahnen sich Schutzbündler unter Führung von Julius Deutsch mit Feuerwehrautos den Weg zum Justizpalast. Die Löschaktion kann beginnen.

In diesem Augenblick schwenkt eine zweite Gruppe bewaffneter Polizisten, die auch schon länger dagewesen sein muß, in den Schmerlingplatz ein, geht in Kette gegen die Demonstranten vor und gibt gezielt die erste Salve ab. Es beginnt wilde Flucht. Die Polizei schießt weiter auf die Flüchtenden, die sie in den Rücken trifft. Ca. 90 Wiener werden so getötet. Die Polizei trifft auch die Feuerwehrautos, die unter der Leitung von Deutsch diesmal zum Justizpalast durchkommen und mit der Löschaktion beginnen. Die Polizisten waren erst vor ihrem Abmarsch vom Schottenring mit den Gewehren ausgerüstet worden, nachdem Seipel, Hartleb und Schober dies angeordnet hatten und Vaugoin infolgedessen die Gewehre der Polizei aushändigte.

Warum um 14 Uhr, als schon im wesentlichen Ruhe auf dem Schmerlingplatz herrschte, das plötzliche, gezielte Schießen? War das nicht eher ein politischer Angriff auf die Sozialdemokratie? Denn zu dieser Zeit war das Schießen auf die Wiener Bürger völlig sinnlos und überflüssig.

Was sagt das Parteiprogramm der Sozialdemokratie aus dem Jahr 1926? Von den Waffen darf — gemeint ist der Schutzbund — nur dann Gebrauch gemacht werden, wenn der bürgerliche Gegner seinerseits einen gewalttätigen Angriff auf die Demokratie macht. Dem Schutzbund ist sogar, nachdem die erste Riege der Polizisten, die um 12.30 Uhr vom Schottenring abmarschiert waren und beim Rathaus zunächst in die Luft geschossen hatten, strikt verboten worden, Schutzbundriegen, die es bewaffnet z.B. vor dem Vorwärtshaus in der Linken Wienzeile gegeben hat, herbeizuholen. Sie mußten unbewaffnet bleiben und sich von anderen Schutzbündlern nach Waffen durchsuchen lassen — obschon die Polizei bereits neunzig Menschen gezielt erschossen hatte. Wann also beginnt der Angriff auf die Demokratie? Wie viele Menschen müssen da von der Polizei erschossen werden, daß dem Parteiprogramm gemäß die Abwehr beginnen darf? Hätte es nicht genügt, wenn eine Riege Schutzbündler die Polizei gewarnt hätte: Wenn ihr das Schießen nicht sofort einstellt, dann schießen wir auch.

Ich glaube, die Geschichte Österreichs wäre dann nicht ganz so unglücklich verlaufen.

Bei den Schüssen der 2. Riege der Polizei handelte es sich um einen politischen Versuch, die Sozialdemokratie zu beseitigen. Dieser Versuch wäre sofort eingestellt worden, wenn man gesehen hätte, da kann nicht eventuell nur noch ein Generalstreik, sondern auch eine Gegenwehr kommen.

Allein die Minuten zwischen dem Abmarsch der Polizei und den Salven in die Rücken von neunzig Wienern waren von der sozialdemokratischen Führung offenbar gar nicht verstanden worden. 1975 schrieb Friedrich Heer: „Die deutsche (österreichische) Arbeiterbewegung hat unter Führung der Parteihierarchie zweimal weltgeschichtlich versagt — 1914, 1933/34“ Hiezu müßte man auch den 15. Juli 1927 in Österreich rechnen.

Was nützten nach dem 15. Juli 1927 dem so seltsam einmaligen Österreich die Härte des Prälaten Ignaz Seipel und später die Sucht des Dollfuß nach gänzlicher Beseitigung der Sozialdemokratie unter gleichzeitiger Hochzüchtung seiner eigenen Mörder?

Wie aus den Protokollen hervorgeht, sagte Seipel im Klub der Christlich-Sozialen:

Während dieser Tage haben wir den Eindruck bekommen, daß die Sozialdemokraten in sich zerfahren und schwach sind und in einem Zustande, wie er in den vergangenen Jahren nicht zu beobachten war. Daher konnten in kurzer Zeit diese Unruhen ohne Kompromiß beendet werden. Auch der ‚Streik‘ hat vom Standpunkt der Anhänger betrachtet sein Besonderes. Sonst werden Forderungen gestellt, und wenn sie nicht erfüllt werden, wird mit der Anwendung und Verschärfung der gewerkschaftlichen Mittel gedroht. Das hat es diesmal nicht gegeben.

Und:

In Regierungs- und Finanzkreisen ist die Meinung eine gute, weil die Unruhen rasch mit unseren legalen Mitteln überwunden wurden. Dagegen würde ein Hineinlassen der Soz.[ialdemokraten] in die Regierung eine Katastrophe bedeuten.

Schon 1931 konnte Heimwehrputschist Walter Pfriemer, gewohnt, bei Besuchen aus Graz in Wiener Ringstraßenhotels zu logieren, nachdem er sich nach dem Putschversuch zunächst ins Ausland in Sicherheit gebracht hatte — für sich offenbar abgesichert —, gefahrlos nach Österreich zurückkehren.

Er wurde in seinem Hochverratsprozeß mit sieben Mitangeklagten zur Gänze freigesprochen. Fünf der Geschworenen hoben nach den Freisprüchen die Hand zum Faschistengruß.

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