FORVM, No. 129
September
1964

Marxismus unterwegs zum Geist (II)

Über Position und Bedeutung Max Adlers
voriger Teil: Marxismus unterwegs zum Geist

Der von Marx und Engels eingeführte Gesichtspunkt erlaubt es, ideologischen Prätentionen auf die Spur zu kommen und durch den Nebel von Ideen zu den Interessen vorzudringen, die sich dieses Nebels erfreuen. Die moderne Ideologiekritik hat den von der materialistischen Geschichtsauffassung gelieferten Impuls übernommen und ihm inmitten ihres rein ideenkritischen und wissenssoziologischen Interesses eine bleibende Heimstatt gegeben. So deckt sich etwa die von der „Reinen Rechtslehre“ Kelsens geübte Kritik an Theorien und Hilfsfiguren der traditionellen Jurisprudenz, besonders dort, wo es um die Demaskierung von Eigentumsinteressen geht, weitgehend mit der marxistischen Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft. Nur daß sich die Ideologiekritik die Freiheit herausgenommen hat, den Marxismus selbst in ihre kritische Musterung einzubeziehen.

Degradierte Geschichte

Da sich die materialistische Geschichtsauffassung, diese „Grundtheorie des Marxismus“, wie sie Friedrich Engels genannt hat, der politischen Aktion des Proletariats im Marx’schen Sinn als Wegweisung anbietet und gemäß dem Postulat der Einheit von Theorie und Praxis mit der Erkenntnis zugleich eine Beeinflussung des Wollens herbeiführen zu können behauptet, ja in der Veränderung der Welt ihre eigentliche Aufgabe und Vollendung findet, muß eine Prüfung ihrer Ergebnisse auch die Frage berühren, inwieweit sie tatsächlich geeignet ist, über den unbestrittenen Erkenntniswert ihrer Problemstellung und der Herausarbeitung eines für alle politische Aktion unschätzbaren Formalobjektes hinaus eine zielführende Strategie und Taktik im Kampf um die Macht zu vermitteln und zu garantieren.

Gerade diese eigentliche Leistung, die ihr von ihren Vertretern als Bestätigung ihres historischen Auftrages zugemutet wurde, kann sie aber — ganz abgesehen von allen intellektuellen und sonstigen Unzulänglichkeiten der sie anwendenden Personen und der historischen Akteure — schon deshalb nicht erbringen, weil sie auf Grund der von Adler mit Recht eingeführten Vorbehalte und Modifikationen im Einzelfall keinen zuverlässigen Schluß zuläßt, sondern sich mit Hilfe der von Ernst Topitsch als „Leerformel“ bezeichneten Dialektik jedem beliebigen Wollen als apologetisches Instrument darbietet. [4] Schon Max Weber hat in dem zitierten Zusammenhang gegen die Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung ausgeführt:

Steht historisch fest, daß auf zwei in ökonomischer Hinsicht gleiche Situationen dennoch verschieden reagiert wurde — infolge der politischen und religiösen, klimatischen und der zahllosen anderen nicht ökonomischen Determinanten — dann degradiert man, um die Suprematie des Ökonomischen zu erhalten, alle diese Momente zu den historisch zufälligen ‚Bedingungen‘, unter denen die ökonomischen Motive als Ursachen wirken.

Dieselbe Schwierigkeit ergibt sich, wenn es sich um die Bestimmung der Reaktionen auf ein und dieselbe historische Situation handelt, auch hier kann die materialistische Geschichtsauffassung immer nur den Zusammenhang zwischen der tatsächlich erfolgten Reaktion und den ökonomischen Verhältnissen, nicht aber mit einem genügenden Gewißheitsgrad die Reaktion der Außenstehenden prognostizieren, noch auch das Verhalten der auf ihre Richtigkeit vertrauenden Kräfte in einer Weise beeinflussen, die dem Test einer rückblickenden Betrachtung standhält.

Damit soll keinem uferlosen Skeptizismus und historisch-politischen Agnostizismus das Wort geredet, sondern lediglich zum Ausdruck gebracht werden, daß es angesichts aller historischen Fehlschläge eine sträfliche Selbsttäuschung wäre, auch weiterhin zu meinen, durch die Kenntnis der materialistischen Geschichtsauffassung irgend eine Garantie dafür erworben zu haben, daß man das Ziel des politischen Wollens auch tatsächlich erreicht oder sich ihm doch auf zweckmäßigere Weise nähert als ohne diese Theorie.

Versagen am Faschismus

Gerade das Beispiel des Faschismus, an dem sich die marxistische Analyse wiederholt versucht hat, ist ein Anschauungsbeispiel dafür, daß die Formel vom Sein, welches das Bewußtsein bestimmt, keinen Determinationswert besitzt und auch nicht die erwartete rettende Kraft ausstrahlt. Der Mittelstand und die übrigen Zwischenschichten, die dem Nationalsozialismus in Deutschland eigentlich zum Siege verhalfen, hätten gemäß den Voraussetzungen des Kommunistischen Manifests ins Proletariat hinabfallen und dessen Kraft verstärken müssen; dies geschah nicht. Und die Vertreter der materialistischen Geschichtsauffassung konnten nur „erklären“, aber nicht verhindern, daß diese Mittelschichten entgegen ihren eigentlichen Interessen reagierten.

Noch auch war die Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung imstande, wenigstens die Abwehr der Fehlreaktionen des Mittelstandes zweckmäßig zu beeinflussen. Vielmehr hielten die Bolschewisten lange genug an der selbstmörderischen These fest, daß die faschistische Diktatur einer proletarischen Revolution die Wege ebnen werde. Und wie hat sich Max Adler selbst als historischer Materialist zum heraufziehenden, in Deutschland immer bedrohlicher werdenden Nationalsozialismus geäußert? Er schrieb 1932 in seinem „Lehrbuch der materialistischen Geschichtsauffassung“:

Der Sieg nationalsozialistischer Politik würde zwar z.B. mit Hilfe gerade von Massen irregeleiteter und indifferenter Proletarier und tatsächlich mit dem Proletariat bereits gleich interessierter, aber dies verkennender Beamten, Angestellten, Mittelständler, Intellektuellen etc. eine Herrschaft des Privilegs aufrichten, das in Wahrheit nur dem großen Kapital zugute käme; aber gerade die Enttäuschung und Empörung, welche das so geschaffene ‚dritte Reich‘ hervorrufen müßte, würde, wenn auch auf einem langen und furchtbaren Umweg, doch zur Revolutionierung der Massen führen und sie schließlich in den Weg des proletarischen Klassenkampfes einmünden lassen.

Es wäre zu billig und außerdem überflüssig, auf die enormen Fehlerquellen dieser Rechnung hinzuweisen und sie mit dem tatsächlichen Verlauf der Vergangenheit, aber auch der Gegenwart, zu konfrontieren. Worauf es allein ankommt, ist, zu erkennen, daß die materialistische Geschichtsauffassung zwar wertvolle Dienste leisten, ebensogut aber auch zu einem zweischneidigen Schwert werden kann, wenn man sich auf ihre Wunderwirkung verläßt.

Eine bedeutungsvolle Aushöhlung der materialistischen Geschichtsauffassung, die Max Adler in dem Aufsatz „Das Formalpsychische im historischen Materialismus“ vorgenommen und durch die Aufnahme dieses Aufsatzes in das Schlußkapitel des nachgelassenen Manuskripts für den 3. Band des „Lehrbuchs der materialistischen Geschichtsauffassung“ verendgültigt hat, ist die Unterscheidung zwischen dem formalen Charakter des Lebens, das in seiner Normmäßigkeit, in der Gesetzlichkeit des Logischen und des Wertes besteht, und dem aktualen Charakter, d.i. „die zweckbewußte Arbeit, welche allen Lebensinhalt in einem zur Allgemeingültigkeit strebenden, also immer größere Kreise der Nebenmenschen umfassenden Prozeß jener Gesetzlichkeit gemäß zu gestalten strebt“. Er fügt hinzu: „Aus diesen psychischen Elementen ergibt sich erst die Idee des Fortschritts, welche der Mensch zuletzt in der Geschichte bewußt und systematisch zu realisieren sucht, die sonst aber niemals ein Element der historischen Gesetzlichkeit hätte werden können.“

In weiterer Ausführung dieser Gedanken wendet Max Adler als Kantianer seine Überzeugung, daß das Sollen der Ethik „eine rätselhafte Anforderung ist, die über das Sein und Geschehen hinausgeht“, auf den Geschichtsprozeß an und gelangt so zu der die ökonomistische Gesamtkonzeption geradezu entwurzelnden Feststellung

... daß die Gesellschaft überhaupt Aufgaben hat, das erwächst ihr nicht aus den ökonomischen Verhältnissen ... Die ökonomischen Verhältnisse — um dieses Wort für die Gesamtheit der materiellen Lebensbedingungen zu nehmen — sind also keine mystischen Produktionsfaktoren des geistigen, das heißt geschichtlichen Lebens; sie erzeugen nichts, zerstören nichts, verändern nichts. Sie bestimmen nur, sie sind variable Determinanten an der formalen Konstanz des sozialen Lebens.

Der Produktionsprozeß wird in dieser Betrachtung zur „Maschine des sozialen Lebens“, während der Idee der Rang einer „Triebkraft“ zukommt, die sich wohl zu ihrer Realisierung der Maschine bedienen muß und insofern von ihr abhängig wird, ihr Tätigwerden aber allererst ermöglicht.

Die ökonomischen Verhältnisse des Produktionsprozesses spielen also die Rolle von Erweckern schlummernder Ideen, denn es genügt nicht, wie der junge Marx schrieb und Max Adler in diesem Zusammenhang zitiert, „daß der Gedanke sich zur Wirklichkeit drängt. Die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen.“ Damit hört die Geschichte des Produktionsprozesses auf, die Geschichte der Erzeugung von Ideen zu sein, vielmehr wird sie im Lichte der Adler’schen Einsicht zu einem fortschreitenden Realisierungsprozeß an sich gesamthistorischer Ideen und eines durchgängigen menschheitlichen Strebens.

Ist Max Adler mit der Verteidigung der prinzipiellen Andersartigkeit und Selbständigkeit des Sollens gegenüber dem Sein seinem Kant’schen Ausgangspunkt treu geblieben, so hat er den Kant’schen Dualismus doch aufgegeben, wenn es um die konkrete Betrachtung des Geschichtsprozesses und die Ableitung der politischen Aktion in ihm geht. Während die Neukantianer, wie Stammler, Rickert und Windelband, in der einen oder anderen Form die gesamte soziale Wirklichkeit und damit den Geschichtsprozeß aus der Sphäre der kausal zu erfassenden Naturerscheinungen herauslösen und einer eigenen, normativen Disziplin unterwerfen, die sich als bewußter Gegensatz zum Kausalprinzip versteht, ist bei Max Adler die prinzipiell festgehaltene Diskrepanz zwischen Sein und Sollen mit dem Eintritt in das konkrete historische Geschehen und in die daraus resultierende Aktion aufgehoben, damit aber auch das Recht des Ausspielens des individuellen gegen das soziale Sollen konsumiert.

Max Adler kommt es geradezu darauf an, Natur und Geschichte als einen einheitlichen, vom organischen Leben her teleologisch durchwalteten Erkenntnis- und Erklärungszusammenhang darzustellen, innerhalb dessen es wohl verschiedene Formen der Einwirkung, wie mechanischen Druck, Reiz und Motivation, gibt, grundsätzlich aber eine alles durchziehende Kausalität, die sich im Bewußtsein des Menschen durch das Begreifen des teleologischen Charakters des Gesamtprozesses zur Möglichkeit und Wirklichkeit der umwälzenden Praxis steigert.

Umgestülpte Dialektik

Wenn man nicht aus den Augen verliert, daß dieser Gesamtprozeß niemals ein selbstablaufender Naturprozeß, sondern ein Bewußtseinsvorgang ist, verliert die Adler’sche Vorstellung manches von der Befremdlichkeit, die sie im Rahmen eines streng materialistischen Systems hat. Denn dann sind auch die als Erklärungsprinzipien fungierenden Gesetze der Dialektik, wie Kampf und Einheit der Gegensätze und das Gesetz vom Umschlagen der Quantität in die Qualität nicht mehr Abläufe in einem selbständigen, erst spät zum Menschen gekommenen materiellen Sein, sondern erkenntniskritisch gefilterte Denkbestimmungen und Erklärungsschemata des sozialen Lebens. Aus der materialistischen Realdialektik, jener Kopie der Hegel’schen Metaphysik mit umgekehrten Vorzeichen, wird bei Max Adler eine bloße Formaldialektik zur Verständlichmachung eines Gesamtzusammenhanges, der ohne Zutun unseres denkenden Bewußtseins nicht zustande kommen könnte.

Für Max Adler ist wissenschaftliche mit kausaler Betrachtung identisch. Insofern ist er Kind und Erbe der naturwissenschaftlich orientierten Aufklärung, er überwindet aber die Einseitigkeit dieser Denkrichtung, indem er die im eigentlichen Sinne wertende und normative Betrachtung nicht leugnet, wohl aber aus dem Kreis wissenschaftlicher Erörterung ausscheidet, während die von ihm kritisierten Neukantianer die Geistes- oder Kulturwissenschaften eben für dieses Feld reklamieren wollen.

Hinter diesem wissenschaftstheoretischen Streit zwischen Max Adler und den Neukantianern verbirgt sich die Verschiedenheit eines nicht mehr wissenschaftlich instrumentierten Anliegens: während die Neukantianer das Schauspiel der Wertkonflikte in der Gesellschaft mit Gelassenheit beobachten und gewähren lassen, geht es Max Adler mit seinem Beharren auf der Zuständigkeit der kausalen, wissenschaftlichen Betrachtung für das Dasein der Naturdinge und für das soziale Leben gerade darum, den Geschichtsprozeß dem Banne der Subjektivität zu entreißen und das Werten und Sollen in dessen Rahmen als einen bloßen Transformationsprozeß des Erkannten in das Gesollte zu deuten.

Der kritische Ausgangspunkt und der religiöse Ausblick seiner Philosophie bewahren ihn davor, den gesamten Kosmos in sein wissenschaftliches System zu zwängen, wie es etwa Ernst Bloch getan hat. Aber mit umso größerem Nachdruck verteidigt er gegenüber dem Neokantianismus und dem im Zusammenhang dieser Denktradition stehenden Hans Kelsen die Einheit von Ideal und Notwendigkeit, von Wirklichkeit und Wert im Geschichtsprozeß. Was Kelsen als „tragischen Methodensynkretismus“ und vom Standpunkt der Werterkenntnis als bloßen „Zufall“ bezeichnet, nämlich das Zusammenfallen der Marx’schen Lehre „mit dem als kausal determiniert angenommenen Ergebnis einer naturnotwendigen Entwicklung“, macht für Max Adler das eigentliche Verdienst dieser Lehre aus. Er wollte sie als wissenschaftliche Grundlegung des Sozialismus und als moderne Soziologie schlechthin konstituieren, aus der sich die nationalökonomischen und politischen Folgerungen des Marxismus erst als Konsequenzen ergeben.

Die von Max Adler durchgeführte, in der Literatur teils als Marxisierung Kants, teils als Kantianisierung von Marx beurteilte Verschmelzung beider Denker erfolgt also in der Art, daß unter Wahrung der Kant’schen Erkenntnistheorie und ihrer Grundunterscheidungen das Marx’sche Geschichtsschema übernommen und die Entwicklung zum Sozialismus als kategorischem Imperativ der Geschichte außer Streit gestellt wird. Haben die neokantianischen Revisionisten an die Ethik Kants angeknüpft und sie als selbständigen Faktor gegen die historische Notwendigkeit eingesetzt, so hat Max Adler umgekehrt an die Erkenntnistheorie und die Ansätze einer Geschichtsteleologie bei Kant angeknüpft und den spezifischen Dualismus der Neokantianer in einem monistischen Gesamtplan aufgefangen.

Die Loslösung vom philosophischen Materialismus hat aus der metaphysischen Realdialektik eine Bestimmung und Auffassungsweise unseres Denkens gemacht, die sich nach Max Adler deshalb so vorzüglich für die Anwendung auf das soziale Leben eignet, weil uns in diesem der verbliebene Realantagonismus des Kampfes zwischen den Klassen als Inhalt des historischen Prozesses in aller Deutlichkeit entgegentritt und so die dialektische Natur des Denkens mit den Objekten des Denkens übereinstimmt.

Max Adler unterscheidet in seinem nachgelassenen Manuskript für den 3. Band seines „Lehrbuchs der materialistischen Geschichtsauffassung“ zwei Formen der Vergesellschaftung: eine solidarische und eine unsolidarische. Alle bisherige Geschichte ist nach den Worten des „Kommunistischen Manifests“, wenn man das von Max Adler selbst als „mehr oder minder sagenhaft“ charakterisierte „Zeitalter des Urkommunismus“ vernachlässigt, eine Geschichte von Klassenkämpfen. Da sich der historische Fortschritt nach den Grundsätzen der Marx’schen Lehre nur im Wege des Klassenkampfes realisieren läßt, ist es nicht überraschend, den Humanisten und Philanthropen Max Adler als begeisterten Anwalt des Klassenkampfes anzutreffen.

Wie falsch die bolschewistische Parallelsetzung von „idealistisch“ mit „bürgerlich“ und von „materialistisch“ mit „fortschrittlich“ ist, wird am Beispiel der beiden großen Austromarxisten Karl Renner und Max Adler sichtbar. Renner war in seinen philosophischen Auffassungen, wie sein „Weltbild der Moderne“ enthüllt, in einem vordialektischen Materialismus befangen und stellte sich die Entwicklung der Welt in der von Max Adler als „widersinnig“ bezeichneten Form der Entwicklung des Stofflichen zum Geistigen vor; gleichzeitig aber war er praktischer Revisionist und Anwalt der Klassenversöhnung. Max Adler hingegen war philosophischer Idealist, ja religiöser Denker, politisch aber stets auf der äußeren Linken der Partei beheimatet.

Renner verfocht schon im Laufe des Ersten Weltkrieges seine Theorie von der Durchstaatlichung des Sozialismus und prägte den motto-artigen Satz „Der Staat wird zum Hebel des Sozialismus werden“. Max Adler jedoch war schon damals mit prinzipiell marxistischen Argumenten ein Gegner jedes Burgfriedens und jeder Unterordnung internationaler proletarischer Belange unter die Ziele eines vom Imperialismus diktierten Krieges. Renner machte demgegenüber in seinen Weltkriegsaufsätzen „Marxismus, Krieg und Internationale“ geltend, daß das Proletariat berechtigt und gezwungen sei, mit der Bourgeoisie des eigenen Landes gemeinsame Sache zu machen, solange keinerlei organisierte und institutionalisierte Möglichkeiten bestünden, die Internationale der Idee wirksam werden zu lassen.

Die Internationale als bloßer Geist

Und im Grunde hat auch der sich unmutig von der Haltung der Mehrheitssozialdemokratie abwendende Max Adler die Berechtigung der Renner’schen Argumente, die ihm gerade als historisch denkenden Marxisten einleuchten mußten, anerkannt, wenngleich er sich mit den Tatsachen nicht abfand, geschweige denn, wie Renner, eine theoretische Rechtfertigung für sie lieferte. Er meinte vielmehr:

Die Internationale hat dann eigentlich auch gar nicht versagt, sondern der Krieg hat nur offenbar gemacht, daß sie überhaupt noch gar nicht bestanden hatte, daß sie noch keine andere Existenz führte als die einer bloßen Ideologie des Proletariats, als eines edlen Wunsches ohne irgendwelche Garantien der Erfüllung.

Diese Worte Max Adlers enthüllen das Dilemma, in dem sich viele Marxisten in dieser und ähnlichen Kampf- und Bewährungssituationen befanden: ihr Wille zum Sozialismus eilte oft den als unreif erkannten objektiven Bedingungen voraus.

Wo der Marxismus als Technik zur Eroberung der Macht und als Freibrief für die vorprellende Gestaltung der Geschichte durch Minderheiten verstanden wurde, wie im russischen Bolschewismus, setzten sich Marxisten denn auch über die Erfordernisse und den historischen Terminkalender ihres eigenen Systems hinweg.

Dem Dilemma zwischen Klassenkampf und Völkerkampf, zwischen Anerkennung der proletarischen Landesverteidigung und Abwehr des Sozialpatriotismus, zwischen dem als möglich und dem als wünschenswert Erkannten, schloß sich für Max Adler später das Dilemma seiner Einstellung zum russischen Bolschewismus an. Während er die Übertragung bolschewistischer Praktiken auf die übrigen Länder ablehnte und sich in Österreich gegen die Kommunisten und den Versuch der Errichtung einer Räterepublik exponierte („An unserer Bauernschaft scheitert der ganze Begriff der Räterepublik.“ — „Man kann nicht ökonomische und politische Unreife durch die Diktatur ersetzen“), schwankte er in seiner Beurteilung des russischen Bolschewismus erheblich. So bezeichnete er Lenin in einem Nekrolog als „Führer des Weltproletariats“. Er feierte ihn als „einen der gewaltigsten Vorkämpfer des marxistischen Sozialismus“ und würdigte seine Verdienste um die Wiederherstellung und Reinigung der Marx’schen Staatslehre. Anderseits mußte er gerade als Marxist wieder zu dem Schluß kommen, daß Lenin selbst in seiner politischen Praxis die richtig verstandene Theorie falsch angewendet habe.

Jedenfalls verstand er sich niemals dazu, den Bolschewisten zuliebe die ursozialistische Zielvorstellung des Kommunismus, als einer solidarischen Gesellschaft, aufzugeben. In seiner berühmten Rede auf dem Linzer Parteitag 1926, in der er seine spezifischen Auffassungen über Demokratie und Diktatur darlegte — wonach diese Begriffe keine echten Gegensätze bilden, da auch die bürgerliche Demokratie noch eine Form der Klassenherrschaft sei — trat Adler dafür ein, auf den Titel des Kommunismus im Sinne des Kommunistischen Manifests nicht zu verzichten. Der Verzicht lasse sich damit, daß die Bolschewiki schlechten Gebrauch von diesem Wort gemacht haben, nicht rechtfertigen. Wenn auch die, nicht zuletzt von Otto Bauer, ihm entgegengehaltene Auffassung, daß man die politische Terminologie nicht vom Sprachgebrauch der Massen loslösen könne, zu Recht über Max Adler gesiegt hat, so kam in seinen Vorschlägen doch der Wunsch des tiefgründigen Denkers und Systematikers zum Ausdruck, der auch für uns Heutige Beispielswert hat: der Wunsch, nicht vor den Gewohnheiten und den verbildeten Meinungen des Tages zu kapitulieren, sondern durch sie hindurch zur unverlierbaren Substanz des Sozialismus vorzudringen und zurückzukehren.

Max Adler hat den Marxismus als Schau der Gesamtgeschichte mit Hilfe einer problematischen Konstruktion retten wollen. Er hat in Wahrheit weniger, und damit mehr an Bleibendem geleistet: er hat den Marxismus zwar nicht in dem von ihm entworfenen Rahmen, aber als Betrachtungsart und Methode erhaltenswert gemacht. In diesem Sinn bleibt der glühende Wille Max Adlers zum Sozialismus auch dann gültig und verbindlich, wenn wir viele seiner Artikulationen als Belastungen oder als überflüssig empfinden.

Vieles von dem, was Max Adler, gegen Kelsens „Sozialismus und Staat“ polemisierend, in seinem Werk „Die Staatsauffassung des Marxismus“ ausführt, erscheint heute überholt und merkwürdig scholastisch. Er beharrte eigensinnig darauf, nur eine Zwangsorganisation mit dem Inhalt der Klassenunterdrückung als „Staat“ zu klassifizieren, und geriet darüber mit Kelsen, dem jede in einem bestimmten Erzeugungszusammenhang stehende Zwangsordnung mit beliebigem Inhalt Staat ist, in einen Gegensatz, der uns heute als ein dem Verständnis des Adler’schen Denkens nicht förderlicher Doktrinarismus erscheint, welcher überdies ungünstige realpolitische Auswirkungen hatte.

Wir Heutigen sind nach den Erfahrungen seit dem Tode Max Adlers auch nicht in der Lage, seinen Optimismus in bezug auf die menschlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten unbesehen zu übernehmen. Immerhin wurde Max Adler durch seinen religiösen Tiefblick vor den ärgsten Auswüchsen des rationalistischen Fortschrittsglaubens bewahrt; er meinte, es sei „moderner Wunderglauben, der um nichts besser, aber um vieles schlechter ist, als der alte, weil ihm dessen Gemütsinhalt völlig abgeht, zu meinen, daß mit den Mitteln der Wissenschaft und Technik sich der Charakter der Zufälligkeit und Sinnlosigkeit menschlichen Daseins im Grunde wird ändern lassen“.

Doch auch die Adler’sche Annahme, daß nach Wegfall der Klassengesellschaft die noch verbleibenden „rein personalen Störungen der Ordnung dann noch mehr zu sozialen Einzelfällen und Ausnahmen werden müssen als heute“ und daß die Kriminalität sich „bis zu einer Art sozialer Pathologie verringern wird“, schießt weit über die Erwartung, die sich eine sozialistische Gesellschaftspolitik heute vernünftigerweise setzen kann. Die komplexe Natur des Menschen und die Gewalt seiner negativen Antriebe wird bei Max Adler in rührender Weise unterschätzt.

„Neuer Mensch“ im Zwielicht

Max Adler stand in seiner teleologischen Gesamtkonzeption der Individualpsychologie Alfred Adlers nahe und teilt mit ihr den unbändigen Erziehungsoptimismus, gestützt auf den idealtypisch gefaßten sozialen Menschen, der im Sinne Max Adlers völlig seiner transzendentalen Bestimmung lebt. So berechtigt und zukunftsweisend diese Schau grundsätzlich ist, die Grenzen ihrer Verwirklichungsmöglichkeit sind nicht nur die Grenzen der bestehenden Gesellschaftsordnung, die durch ihre einseitige Ausrichtung auf Profit und grob-materielle Werte zweifellos viel zur Deformierung des Menschen beiträgt.

Diese Einschränkung nimmt dem Kampfruf Max Adlers „Neue Menschen“ nichts von seinem Gegenwartsbezug und Lebenswert. Auch die bescheideneren Ziele, die sich die sozialistische Gesellschaftspolitik von heute steckt, sind nicht durchsetzbar ohne die Formung eines neuen Menschen, der mit den Worten des Wiener Programms der SPÖ 1958 „die Selbstsucht der kapitalistischen Profitwirtschaft durch die neue Gesinnung der freien Arbeit“ ersetzt und „an Stelle des rücksichtslosen Kampfes für die eigenen persönlichen Vorteile“ die Aufgabe der menschlichen Gemeinschaft darin sieht, „wirtschaftlich schwächeren oder sozial bedrängten Mitmenschen ... den Frieden in Freiheit erreichen zu helfen“.

Der Appell zur Prägung eines bewußten Menschentyps, der höheren und menschheitlichen Zielen ergeben ist, sollte gerade in unserer Zeit nicht ungehört verhallen. Die Einreißung der Mauern zwischen den „zwei Nationen“, die im Österreich der Ersten Republik unser Volk bildeten, und die Auflösung der festgefügten Traditionen dieser beiden hat nicht zur wechselseitigen Bereicherung, sondern zum allgemeinen Abbau von Werten und zur nivellierten Gleichgültigkeit geführt ...

[4Ernst Topitsch: „Marxismus und Gnosis“ in: Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Neuwied 1961, S. 258 ff. — Sowie: Derselbe, Kelsen und die Ideologien, FORVM, Oktober 1961.

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