FORVM, No. 128
August
1964

Marxismus unterwegs zum Geist

Über Position und Bedeutung Max Adlers

Es gehört zu den traurigsten Kapiteln der an beklagenswerten Einzelheiten nicht armen Nachkriegsgeschichte des geistigen und politischen Österreich, daß das Werk großer österreichischer Denker und Gestalter, die durch die Ungunst der Zeitumstände in den Schatten gestellt wurden, unbetreut geblieben und praktisch vergessen worden ist.

Anstatt die durch Umstürze und Zusammenbrüche unseres Zeitalters verschütteten Schätze ans Licht zu heben, hat man diese in ihrer mißlichen Lage belassen und es der Initiative des einzelnen anheimgestellt, sie für sich neu zu entdecken und ihren Gegenwartsbezug zu erkennen. Die physische Ausrottung der Träger geistiger Strömungen oder ihre Zerstreuung in alle Winde, sowie die allgemeine Ungeistigkeit des Faschismus haben im nachklingenden Zusammenwirken mit dem Pragmatismus des österreichischen Gesamtstils seit 1945 dazu geführt, daß wertvolles Traditionsgut praktisch verwaist ist und brachliegt.

Austromarxismus nicht gefragt

Diese Feststellung gilt für esoterische, ihrer Natur nach auf einen erlesenen Kreis beschränkte geistige Konzentrate, wie den „Wiener Kreis“, der in aller Welt Schüler und Abkömmlinge besitzt, in Wien selbst aber keine lebendige und fruchtbare Fortsetzung gefunden hat, die als gruppenbildend und prägend zählen kann. Diese Feststellung gilt aber auch für ein so eminent politisches und auf Massenwirkung angelegtes Erbe wie den Austromarxismus.

Hier ist es nicht allein der Mangel an intellektuellen Kräften, welcher zum Versiegen eines einst so mächtigen und imponierenden Stromes führte. Vielmehr besteht auch bei maßgeblichen, zur Auswertung und Weiterentwicklung dieser Tradition an sich befähigten und berufenen Personen die Scheu, an die Wunden einer Vergangenheit zu rühren, die man so mühsam hinter sich gebracht, aber keineswegs bewältigt hat.

Der Zwang, unser Land nach der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus wiederaufzubauen, war so allgewaltig und drängend, daß er gar nicht die Gelegenheit aufkommen zu lassen schien, die praktisch erfolgte Änderung der politischen Linie und des geistigen Stils auch vor dem Forum der Parteivergangenheit theoretisch zu rechtfertigen. Pathetische Festtagsreden, die über die eigentlichen Schwierigkeiten des grundsätzlichen Verständnisses geschickt hinweghalfen durch Rückgriff auf den Wortschatz der austromarxistischen Phraseologie, boten sich als Ersatz für eine wirklich profunde und selbstkritische Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit an.

Es nimmt nicht Wunder, daß bei dieser, aus dem Selbsterhaltungstrieb einer unter veränderten Umständen neu etablierten Gruppe durchaus verständlichen Tendenz desto weniger das Bedürfnis bestand, die philosophischen und subtilen Elemente des austromarxistischen Traditionsgutes zu pflegen und zu fördern. Zu dem angesichts des politischen Erbes auftretenden Gefühl der Angst vor den Schatten der Vergangenheit gesellte sich das Bewußtsein der Hilflosigkeit und die nie artikulierte, aber unterschwellig wirksame Überzeugung, daß solche Spekulationen im Grunde genommen überflüssig, ja mit den Erfordernissen der Gegenwart nicht auf einen Nenner zu bringen seien.

So erscheint es nunmehr auch erklärlich, daß die einzige größere Arbeit über den tiefsinnigsten und philosophisch originellsten Denker des Austromarxismus nicht von einem Parteigänger, sondern von dem konservativen Publizisten Friedrich Weigend-Abendroth geliefert wurde. Er unterzog sich der Aufgabe der Darstellung von Max Adlers transzendentaler Grundlegung des Sozialismus sachkundig und in vorbildlicher geistiger Offenheit, wie es überhaupt für das fortgeschrittene katholische Denken unserer Zeit typisch geworden ist, der geistigen Welt des Widerparts oder des bei aller Gemeinsamkeit des Anliegens doch extra muros Verbleibenden mit Respekt und Einfühlung zu begegnen.

Wer es heute unternimmt, das vielfältige, in einem umfangreichen Schrifttum ausgebreitete Lebenswerk Max Adlers auf seinen bleibenden Ertrag und seinen Aussagewert für die Gegenwart zu prüfen, muß als Ansatzpunkt aller Überlegungen wohl jene Stelle im Adler’schen Ideengebäude wählen, die Adler selbst für fundamental gehalten hat und die sich bei einem Gesamtblick auf sein System geradezu aufdrängt: der Angelpunkt des Adler’schen Denkens ist die erkenntnistheoretische Begründung der Sozialwissenschaft und damit des Sozialismus.

Von Kant zum Sozialismus

Zum Unterschied vom marxistischen Sozialismus vulgärmaterialistischer oder dialektisch-bolschewistischer Prägung, zum Unterschied aber auch vom sentimentalen ethischen Empörungssozialismus und vom religiösen Sozialismus, der seine Appelle aus einem transzendenten Bereich ableitet, nimmt Max Adler weder von der Sachwelt der materiellen Bedingungen und Formen des Lebens selbst, noch von einem subjektiven menschlichen Gefühl seinen Ausgang. Er beginnt mit einer erkenntnistheoretischen, an Kant anknüpfenden Fragestellung nach den Bedingungen aller menschlichen Erfahrung. Die erkenntnistheoretische Grundfrage, die nicht, wie die Metaphysik, auf eine Erklärung oder Beschreibung des Wesens der Wirklichkeit abzielt, sondern lediglich das Zustandekommen unserer Erkenntnis von der Welt in den Griff bekommen will, beantwortet Adler im Sinne des erkenntniskritischen Idealismus Kants. Danach ist die uns bekannte Wirklichkeit durchaus Bewußtseinswirklichkeit, durch das Bewußtsein erzeugter und nur für das Bewußtsein bestehender Inhalt.

Die uns als fertige Einheit gegenübertretende Bewußtseinswirklichkeit löst Max Adler in völliger Übereinstimmung mit der Kant’schen Analyse der Erfahrung und „Kritik der reinen Vernunft“ in ihre abstrakt zu sondernden Bestandteile auf: in ein ungestaltetes Empfindungsmateriale, das als Bodensatz der Wirklichkeit, wenn auch einer innerhalb des Bewußtseins verbleibenden Wirklichkeit, anzunehmen ist, und in die Anschauungsformen von Raum und Zeit, in denen dieses Empfindungsmateriale von den Stammbegriffen unseres Verstandes, den Kategorien, geformt und verarbeitet und endlich kraft der synthetischen Einheit der Apperzeption a priori zur Geschlossenheit unseres Erfahrungsbildes von der Wirklichkeit verdichtet wird.

Durch die Rückführung der Erfahrung auf ein Apriori als ihre Bedingung ist für Max Adler als eigentliche Großtat der Kant’schen Philosophie die Überwindung und Vermittlung des in der Philosophiegeschichte auftretenden Gegensatzes von Empirismus und Rationalismus, von Realismus, und Idealismus, von Spiritualismus und Materialismus, aber auch von Monismus und Dualismus als gelungen zu betrachten.

Soweit ist Max Adler ein bloßer philosophischer Epigone Kants, eine wirkliche Bereicherung des erkenntniskritisch geschulten Denkens hat er unter dem von ihm selbst gewählten Motto „Mit Kant über Kant hinaus“ aber erst dadurch gebracht, daß er den in der Kant’schen Erkenntniskritik implicite vorhandenen, von den Fortbildern der Kant’schen Lehre jedoch praktisch vernachlässigten, ja systematisch abgedrängten Sozialbezug explicit und zum Verbindungsglied zu dem soziologischen und politischen Teil seines Denkens gemacht hat. Max Adler bleibt nämlich nicht bei der allen kritischen Idealisten gemeinsamen und geläufigen Feststellung des Bewußtseinscharakters aller Erfahrung stehen, sondern deckt den Sozialbezug dieser Feststellung auf, indem er klarlegt, daß der Erfahrungsinhalt notwendig einer unabzählbaren Vielheit übereinstimmender Denksubjekte gemeinsam ist und diese Gültigkeit für eine Vielzahl von Subjekten ebenfalls ein Apriori unserer Erfahrung darstellt, für das er den Ausdruck „Sozialapriori“ wählte.

Was das naive Bewußtsein des erkenntniskritisch unbelasteten Menschen für selbstverständlich und ausgemacht hält, nämlich die Existenz der Außenwelt auch außerhalb unseres Bewußtseins, ist im Lichte der Adler’schen Erkenntnis nur ein auf einem Mißverständnis beruhender Ausdruck der Überzeugung, daß der vom einzelnen erfaßte Erfahrungsinhalt auch von jedem anderen in übereinstimmender Weise erfaßt werden müsse. Nicht erst der soziale Trieb oder gar die praktischen Notwendigkeiten des menschlichen Zusammenlebens stellen die Verbindung des einen Menschen zum anderen her, sondern in der Möglichkeit und Anerkennung allgemeingültiger Erfahrung liegt bereits der Sozialbezug als eine Fähigkeit und Angewiesenheit a priori verborgen.

Die Welt existiert zwar nicht unabhängig vom Bewußtsein, wie das Gemüt des naiven Betrachters unterstellt, wohl aber unabhängig von der Subjektivität des eigenen Ich, das vielmehr nur die Form ist, in der sich „Bewußtsein überhaupt“ in der Welt der Phänomenalität manifestiert. Ein Hinabsteigen zum Einzelbewußtsein des Ich führt nach Max Adler zur Erkenntnis, daß dieses unablässig über sich hinausweist und wir-haft, d.h. auf eine Vielzahl von Subjekten bezogen ist.

So erlaubt die Betrachtung und Analyse Max Adlers die Überwindung eines geistesgeschichtlichen Gegensatzes, der nicht minder folgenreich war und ist als der Gegensatz zwischen den auf dem Boden der vorkritischen Philosophie stehenden metaphysischen Systemen: nämlich des Konfliktes zwischen Individualismus und Kollektivismus, welch letzterer in Österreich in der philosophischen Verbrämung der Lehre Othmar Spanns als „Universalismus“ dem Faschismus vorarbeitete.

Sieht sich der Individualismus gezwungen, die in der historischen Wirklichkeit auftretende Verbindung zwischen Menschen aus dem eisernen Muß der Abhängigkeit oder aus rationalen Erwägungen zu erklären, die sich etwa in Form eines Vertrages als Geburtsurkunde des Staates niederschlagen, so billigt der Kollektivismus umgekehrt dem Individuum nur in dem Maße Wert zu, als es an einer ihm vorgeordneten Ganzheit teil hat.

Vergesellschaftetes Bewußtsein

Max Adler geht im Gegensatz zum Universalismus des von ihm stets als philosophischer und politischer Antipode betrachteten, parallel mit ihm an der Universität Wien lehrenden Othmar Spann nicht von einer über den Köpfen der Menschen schwebenden Ganzheit aus, sondern sucht und findet keinen anderen Ausgangs- und Bezugspunkt als den Einzelmenschen und sein Bewußtsein. Allerdings strebt er, sobald er desselben habhaft geworden ist, über die monadologische Verständnislosigkeit des Individualismus hinaus, indem er diesen Einzelmenschen und sein Bewußtsein als vergesellschaftet und gemeinschaftsbezogen herausstellt.

Mit der Überwindung des Individualismus durch die Aufzeigung der transzendentalen Vergesellschaftung des Einzelbewußtseins ist zunächst auch die Gefahr des Abgleitens in den Solipsismus gebannt, die sich aus dem erkenntniskritischen Ansatz des Idealismus leicht ergeben kann, die Sozialnatur des Bewußtseins läßt jede Vereinzelung als eine abgetane Möglichkeit hinter sich. Die Übersubjektivität des Bewußtseins ist das gemeinsame Band unseres Wirklichkeitsverständnisses und die Basis des Verstehens als der auszeichnenden Möglichkeit der Begegnung von Mensch zu Mensch. Das Wort des Dichters, „Willst du dich selber erkennen, so sieh, wie die andern es treiben“, erhält durch Max Adler seine philosophische Vertiefung im Rahmen einer transzendentalen Weltschau, die im Gegensatz zu einer transzendenten die Grenzen der Erfahrung nicht überschreitet, aber zum Unterschied von einer dogmatisch-unkritischen die Bedingungen aller Erfahrung prüft.

Wird die erkenntnistheoretische Analyse des menschlichen Bewußtseins in seiner gesellschaftsbezogenen Ausprägung als Verbindungsstück zwischen der Philosophie und der Gesellschaftslehre Max Adlers erkannt und festgehalten, empfiehlt es sich, noch ein wenig bei dem schon skizzierten philosophischen Grundkonzept des kritischen Idealismus zu verweilen, das Max Adler als methodischen Standpunkt vertreten und gegen alle Angriffe von links und rechts, gegen proletarischen Materialismus und bürgerliche Metaphysik, verteidigt hat.

Max Adler verstand den kritischen Idealismus Kants nie als Aussage über das Wesen der Wirklichkeit, sondern nur als theoretische Konsequenz des in aller Erfahrung unbestreitbaren Zusammenhanges zwischen Bewußtsein und Erfahrungsinhalt. Materialismus und Spiritualismus, die sich als metaphysische Systeme beide mit dem Wesen der Weltsubstanz befassen und diese in der Materie, bzw. im Geist gefunden zu haben glauben, sind ihm beide unkritische und im Grunde müßige, weil ergebnislose Überschreitungen der Grenzen möglicher Erfahrung.

Max Adler setzt seinen eigenen Standpunkt nicht dem des Materialismus entgegen, mit dem er keine Fragestellung gemeinsam haben will, sondern dem erkenntnistheoretischen Realismus, der von einer vom Bewußtsein des Menschen unabhängigen, sich in ihm bloß widerspiegelnden Außenwelt ausgeht. Die im Gegensatzpaar Idealismus—Realismus zum Ausdruck gelangende Problemstellung bezieht sich auf das Verhältnis des menschlichen Bewußtseins zu der objektiven Wirklichkeit, was immer diese sein mag, und erfragt den Modus, durch den diese Wirklichkeit Erfahrungsinhalt wird, während die sich im Gegensatzpaar Materialismus—Idealismus manifestierende Problemstellung das Ansich der Wirklichkeit selbst zum Gegenstande hat.

Es zeigt sich jedoch bei näherem Zusehen, daß die erkenntnistheoretische und die ontologische Fragestellung praktisch nicht ganz so voneinander unabhängig sind, wie es die reinliche abstrakte Unterscheidung im Anschluß an Max Adler erscheinen lassen könnte. Der philosophische Materialismus, der das Denken als eine hochentwickelte Form des menschlichen Seins aus der Materie hervorgehen läßt, kann nur mit einem erkenntnistheoretischen Realismus zusammen bestehen, während umgekehrt der Spiritualismus, der die Wirklichkeit in Geist auflöst und aufgehen läßt, nicht nur ontologisch, sondern auch erkenntnistheoretisch dessen Vorrang im Erkenntnisprozeß vertreten muß.

Gegen Lenin und Thomas von Aquin

Nur der kritische Realismus im Sinne der Einteilung Max Adlers ist trotz seiner erkenntnistheoretischen Entscheidung zugunsten des Vorrangs der Außenwelt vor dem Bewußtsein ontologisch nach beiden metaphysischen Seiten hin offen: er kann seine Geschicke mit einer Philosophie verbinden, die wie die christliche Philosophia perennis vom ontologischen Vorrang des Geistes ausgeht, er kann sich aber auch dem Materialismus zuwenden, der nicht nur erkenntnistheoretisch eine Abbildtheorie, sondern auch ontologisch den Vorrang der Materie vor dem Bewußtsein als wahr ausgibt. Entsprechend dieser komplexen philosophischen Sachlage ergeben sich verschiedene Kampffronten und Gemeinschaften, je nachdem, welchen Gesichtspunkt man als entscheidendes Kriterium einführt.

Mißt man der erkenntnistheoretischen Fragestellung die größere Bedeutung zu, kämpfen dialektischer Materialismus und der kritische Realismus der katholischen Schulphilosophie gemeinsam gegen alle Formen des kritischen und unkritischen Idealismus. Diese Übereinstimmung im Hinblick auf den erkenntnistheoretischen Vorrang der Materie läßt das aufmerksame, in die geistige Architektur des Gegenbildes fast verliebte und doch von der Überlegenheit der eigenen ontologischen Weltschau durchdrungene Interesse verständlich erscheinen, mit dem gewisse katholische Theologen den Materialismus östlicher Lesart behandeln. [1]

Alle Spielarten des Idealismus aber rücken dann mit der christlichen Philosophie objektivistischer Prägung zusammen, wenn der ontologische Frontalangriff des philosophischen Materialismus dazu zwingt, bezüglich der Letztwirklichkeit der Dinge Farbe zu bekennen. Dann stellt es sich nämlich heraus, daß die Materialisten Lenin’scher Prägung von ihrem Standpunkt so unrecht nicht haben, wenn sie allen Schattierungen des „Idealismus“ zu Leibe rücken und jeden Schritt vom rechten Pfad der sich selbst bewegenden, allgenugsamen Materie, und sei es auch ein so kleiner und für Außenstehende unbedeutender wie der in den Positivismus, als Abweg verdammen, der nur „im Sumpf des Pfaffentums“ enden kann. Es wird dann deutlich, daß die Vertreter eines kritischen Realismus christlicher Prägung durch ihre Erkenntnistheorie die Welt nur gegen die Subjektivität des Menschen sicherstellen und sie nicht als Tat seines Bewußtseins gelten lassen wollen, hingegen keineswegs die Absicht haben, der Materie selbst das Gelingen der Übereinstimmung von Bewußtseinsbild und Außenwelt zuzutrauen; sie machen im Gegenteil den Geist Gottes als letzte Ursache der Wirklichkeit für deren Hervorgehen und für die prästabilierte Harmonie verantwortlich.

Die Welt als Bewußtsein

Ist auch die Welt im Sinne der thomistischen Philosophie vom menschlichen Bewußtsein unabhängig und prinzipiell ihrer objektiven Beschaffenheit nach erkennbar, so ist sie doch in keinem Augenblick außerhalb des göttlichen Bewußtseins oder unabhängig von ihm, so daß die Welt, bevor sie in das Bewußtsein des Menschen eindringen konnte, als Idee bzw. als vollendete Wirklichkeit im Geiste Gottes existierte und ihren Bestand vor und nach dem Auftreten des Menschen einer fortwirkenden Bewußtseinstätigkeit dieses höchsten Geistes verdankt.

Der Glaube des Descartes, der die Realität der Außenwelt mit dem Vertrauen auf die Täuschungsunfähigkeit des göttlichen Geistes begründete, erscheint unter diesem Aspekt auch vom Standpunkt der christlichen Philosophie nicht mehr so ganz absurd. Auch der kühnen Schlußfolgerung des Bischofs Berkeley, der nur Gott und das Ich als letzte Realinstanzen der Wirklichkeit übrigließ, kann man dann, unter dem Druck der durch die Alternativstellung des Materialismus geschaffenen Situation, nicht viel entgegenhalten.

Es läßt sich am Beispiel Max Adlers zeigen, daß der erkenntnistheoretische Idealismus durch die ontologische Fragestellung der philosophischen Parteien, deren ständigem Einfluß er sich nicht entziehen kann und deren als methodisch unzulässig zurückgewiesene Fragestellung ihm auf Schritt und Tritt begegnet, in eine metaphysische Position gedrängt werden kann. Zunächst könnte es scheinen, als ob die konsequente Beschränkung auf die Frage nach dem Wie unserer Erkenntnis von der Welt unter Außerachtlassung des Was der Welt an sich ihn vor den Nachstellungen der Metaphysiker schützen müßte. Doch schon die Selbsteinschätzung des eigenen Standpunktes als kritischen „Idealismus“ deutet an, daß sich diese erkenntniskritische Position auf jeden Fall dem philosophischen Idealismus spiritualistischer Prägung näher fühlt als einer materialistischen Philosophie.

Adler hat sich im Grunde durch seinen, wenn auch nur methodisch verstandenen, Ausgang vom Bewußtsein hinsichtlich der ontologischen Fragestellung gegen den Materialismus präjudiziert. Denn wer erkenntniskritisch am Vorrang des Bewußtseins festhält, kann dieses Bewußtsein nicht gut auf einer anderen Ebene als bloße Funktion der Materie betrachten. Er kann es sich höchstens im Sinne seiner methodischen Grundbeschränkung versagen, über seine erkenntniskritische Position hinauszugehen und sie — in einer prinzipiell offenbleibenden Richtung — durch eine Kosmologie zu ergänzen. Doch die Gleichgewichts- und Ruhelage des kritischen Idealismus ist jederzeit gefährdet und erweist sich auf die Dauer als gar oft unfähig, einem Hinausdrängen über das eigene Wirklichkeitsverständnis standzuhalten.

Zunächst sieht sich der kritische Idealismus gezwungen, den vom Materialismus angebotenen Grundgedanken der Ableitung allen Bewußtseins aus dem Sein als unsinnig zurückzuweisen. So sagt Max Adler in Frontstellung gegen den philosophischen Materialismus, daß der Gedanke einer Wirklichkeit unabhängig von unserem Erkennen „unbegründbar und widersinnig“ sei. Die Materialisten, die das Hervorgehen des Geistigen aus dem Stofflichen für möglich halten, vertrauen auf „das alte Wunder der generatio aequivoca des Lebens“. Der Materialismus „bemüht sich vergebens, aus dem geistlosen Klotz seiner Materie die Funken des Gedankens zu schlagen“. Im Vergleich dazu sei „die Hegel’sche Metaphysik nicht nur konsequenter, sondern im eigentlichen Sinn auch geistvoller“. Und endlich: die Erde habe zwar vor dem Menschen existiert, „aber nicht vor dem Bewußtsein“ — eine Formulierung, die die Versuchung einer ontologischen Ausmünzung fast unwiderstehlich macht.

Vorrang des Geistes

Durch die vehemente Leugnung der Möglichkeit des Hervorgehens des Geistigen aus dem Materiellen und das überlegene Festhalten an der eigenen Position wird die Tendenz spürbar, die kritische Aussage vom Vorrang des Bewußtseins gegen die ursprüngliche eigene Intention als substanzielle Aussage über die Wirklichkeit schlechthin zu verstehen. Diese Tendenz wird noch durch die Abwehrstellung gegen den metaphysischen Dualismus verstärkt, der die Kant’sche Unterscheidung zwischen der Welt der Erscheinungen und des „Ding an sich“ als reale Entgegensetzung deutet und sich dann gezwungen sieht, das Verhältnis zwischen Ding an sich und Erscheinung als kausale Einwirkung oder als eine geheimnisvolle Parallelität zu bestimmen.

Dieser Auffassung gegenüber betont Max Adler immer wieder, zuletzt in seinem „Rätsel der Gesellschaft“, daß das „Ding an sich“ keine Substanz, kein realistisch zu fassendes Etwas, sondern lediglich ein „Grenzbegriff“, eine „transzendentale Mahnung“ an die Grenzen unserer Erkenntnis sei. Im Kampf gegen die metaphysische und realistische Interpretation des „Ding an sich“ klingt in manchen Formulierungen das Bestreben an, die Notwendigkeit des Bewußtseins unter allen Umständen zu behaupten, obwohl sich Adler prinzipiell völlig darüber im klaren war, daß aus der Denkunmöglichkeit des Nichtbestandes des Bewußtseins nicht das notwendige Sein desselben folgt.

Enthalten die philosophischen Ausführungen Max Adlers bei der Abwehr der prinzipiellen Argumente der Materialisten und metaphysischen Dualisten nur indirekte Aufschlüsse für die Tendenz, den Weg in die Metaphysik entgegen der eigenen Ausgangsvoraussetzung dennoch zu beschreiten, so gibt es in den religionsphilosophischen Schriften Stellen, die direktes Zeugnis davon ablegen, daß Max Adler, wenn auch nie unter Preisgabe seiner erkenntnisreichen Grundposition, wohl aber unter Zuhilfenahme von ihr unberührter Hilfsmittel zum Metaphysiker geworden ist.

Dogmatismus des Unglaubens

Förderte die Auseinandersetzung mit dem Materialismus und dem metaphysischen Dualismus die Tendenz, durch Substanziierung des Bewußtseins zu einer Philosophie des absoluten Bewußtseins im Sinne eines metaphysischen idealistischen Systems zu gelangen, so eröffnete die religionsphilosophische Selbstverständigung und der im Zusammenhang mit ihr geführte Kampf gegen den „Dogmatismus des Unglaubens“ und die Anmaßungen des Naturalismus Max Adler den Weg in die Metaphysik und zur Religion.

Freilich bewahrt sich Max Adler als treuer Schüler Kants das Mißtrauen gegen alle historischen Religionen und deren mythische, den eigentlich religiösen Kern verhüllende Bestandteile. Er erblickt in allen konkreten Erscheinungsformen der Religionen bloße Annäherungen an eine von allem Beiwerk befreite Vernunftreligion. Er scheidet die Gegenstände der Religion aus dem Bereich des theoretisch Wißbaren aus und lehnt es auch ab, die Religion als Begründung der Ethik oder als Sanktionsmittel derselben heranzuziehen. Vielmehr gründet er die Moral in streng Kant’schem Sinn allein auf die pflichtgemäße Achtung vor dem mit allgemeingültigem, normativem Anspruch auftretenden Sittengesetz.

Doch Adler weist mit Recht darauf hin, daß unser Interesse an der Welt mit dem Wissen und dem ethischen Aspekt nicht erschöpft ist. In merkwürdiger Übereinstimmung mit dem großen protestantischen Theologen Schleiermacher lokalisiert er die Religion vielmehr im Gefühl, und zwar in einem der „schlechthinnigen Abhängigkeit“ bei Schleiermacher analogen Gefühl eines Abhängigkeitsverhältnisses, „in welchem der Mensch sich von einer ihm in jeder Hinsicht überlegenen Macht beherrscht und geführt sieht und deren furchtbare Herrlichkeit und erhabene Größe in seinem Inneren wie eine Offenbarung erlebt“.

Weiter aber ist die Religion für Max Adler die Überwindung der von Kant aufgezeigten und von uns tagtäglich erlebten „Antinomie der praktischen Vernunft“, d.h. des Widerspruchs zwischen unseren sittlichen Wertvorstellungen und dem Naturlauf. Die Gesetze der Natur und auch die Anforderungen der Ethik verhalten sich gänzlich gleichgültig gegenüber dem Schicksal des einzelnen. Es besteht zwischen unseren sittlichen Vorstellungen von Wert und von durch ihn verdientem Glück einerseits und dem tatsächlich ablaufenden Geschehen anderseits kein befriedigender, unser praktisches Bedürfnis nach Harmonie erfüllender Zusammenhang. Da nun aber das menschliche Dasein ohne die Voraussetzung einer solchen letzten Versöhnung und Sinnhaftigkeit unerträglich wäre, ist der Mensch gezwungen, in den Postulaten der praktischen Vernunft, wie Gott und Unsterblichkeit, Bürgschaften dieses seines eingewurzelten Strebens zu wollen.

Aus diesen Elementen konstituiert sich für Max Adler der Sinn der Religion, für die er die folgende Begriffsbestimmung gegeben hat: „Religion ist eben kein Wissen von der Welt, keine Welterkenntnis und kann nie eine solche werden, wohl aber Weltanschauung und Welterlebnis, die aus einem viel tieferen Grunde aufsteigen als die Oberflächenerscheinung unseres Wissens, nämlich aus dem Einheitsstreben unseres vernünftigen Wollens.“

Glauben als Denkform

Die Möglichkeit des Glaubens als eigener Zugangsart zur Wirklichkeit ist für Max Adler gleich den Formen unserer reinen Vernunft und der sozialen Bezogenheit unseres Bewußtseins als apriorische Subjektivität angelegt, die kein willkürliches Meinen oder Annehmen, sondern eine Bewußtseinsform darstellt, in welcher die als Gegenstände des Wissens fragwürdige Hypothesen bildenden Postulate lebendige Kraft gewinnen.

Der alte Gegensatz von Glauben und Wissen erscheint dadurch behoben und jeder Versuch, eine künstliche Übereinstimmung herbeizuführen, ist auf dem Boden der Kantschen und Adler’schen Philosophie überflüssig und geht am Wesen der Sache vorbei. So heißt es bei Max Adler: „Der Glaube hat erst dort seinen Platz, wo ich nichts mehr wissen kann, aber auch nichts mehr zu wissen brauche, weil es hier gar nicht mehr auf ein Wissen, sondern auf ein Wollen ankommt.“

Mit vollendeter Deutlichkeit kommt das Verhältnis von Glauben und Wissen bei Max Adler im folgenden Satz zum Ausdruck: „Von der Wissenschaft führt nun einmal weder ein Weg zu Gott noch gegen ihn, weil sie auf ihrem Felde Gott überhaupt nicht trifft.“

Gegenüber dem Naturalismus, der Realität und Naturdasein identifiziert, macht Max Adler die „innere Selbständigkeit des religiösen Lebens“ und die „unabhängige Bedeutung der Religion“ geltend, indem er unter Berufung auf seine Bewußseinsphilosophie Realität grundsätzlich nur als „Gesetzmäßigkeit des Bewußtseins“ gelten läßt und demnach so viele Realitäten unseres Lebens anerkennt, als es Arten des Bewußtseins gibt. In dieser Schau wird das menschliche Bewußtsein, das die uns umgebende Naturwelt in Wahrheit nach seinen Gesetzlichkeiten erzeugt hat, auch zum Schöpfer der Religion und des Gottesbegriffes.

Der Gottesbegriff wird denn auch bei Max Adler zunächst jedes transzendenten Charakters beraubt und dem immanenten Streben des Menschen und der Menschheit einverleibt und gleich der historischen Entwicklung mit sozialem Inhalt erfüllt. Das Streben nach der Vereinigung mit Gott löst sich in dem Streben nach immer besserer Gestaltung der menschlichen Welt auf, ja die Idee Gottes entfaltet ihre Wirksamkeit als Leitbild und konstituierendes Prinzip dieses Glücks- und Fortschrittsstrebens. Das verheißene Gottesreich wird so zum Menschenreich:

Gott bezeichnet auf diesem Standpunkt kein vom Menschen getrenntes Wesen mehr, er ist keine außerweltliche, ihm fremde Macht, er ist überhaupt nichts Außerpersönliches mehr, sondern gar nichts als eine besondere Richtung unseres Bewußtseins, in die wir uns notwendig gerichtet finden, sobald wir uns auf den Blickpunkt der Einheit der Weltauffassung einstellen.

Mit dieser Einordnung der Religion in die Gesetzlichkeit eines allumfassenden Bewußtseins scheint zunächst der Weg zur Metaphysik als Überschreitung der Grenzen unserer Erfahrung, als Entkommen aus dem Reich bloßer Phänomenalität abgeschnitten. Doch die schon im Zusammenhang mit dem theoretischen Teil der Bewußtseinsphilosophie Max Adlers aufgezeigte Tendenz, den eigenen Voraussetzungen zum Trotz in eine metaphysische Position zu geraten, macht sich unter dem Vorzeichen und Antrieb des religiösen Bedürfnisses, wenn auch in umgekehrter Richtung, geltend. Handelte es sich bei der Abwehr des Materialismus darum, die grundlegende Gegebenheit des Bewußtseins abzusichern und damit den bloß methodischen Charakter der Voraussetzung in eine Aussage über das Sein der Dinge umzuwandeln, die die Annahme eines „Ding an sich“ überflüssig macht und es ins Bewußtsein hineinnimmt, so ergibt sich aus der Dynamik des alle Grenzen sprengenden religiösen Gefühls eine inhaltliche Deutung des „Ding an sich“, zu dem eben dieses religiöse Gefühl die Brücke schlagen soll, die die Vernunft mit ihren Mitteln nicht herzustellen vermag.

Zentralthema Religion

Erst damit ist wirklich der Weg in ein Reich jenseits der Phänomenalität frei: erst die Inbeziehungsetzung zu einer gänzlich außerhalb unseres Bewußtseins liegenden, aber auf geheimnisvolle Weise in sie Eingang findenden Realität macht „Religion“ im Sinne des der Wortbedeutung etymologisch zugrunde liegenden Gedankens der Rückverbundenheit aus.

Stellt sich die Versuchung, durch Substanzierung und Verabsolutierung des Bewußtseins eine idealistische metaphysische Position zu beziehen, als bloßes Produkt einer ungewollten Zwangslage und Bedrängnis, als Fluchtpunkt eines sich in Verteidigungsstellung befindlichen kritischen Idealismus dar, so ist es beim religiösen Bedürfnis nicht ein von gegnerischer Seite kommender Zwang, der den Weg in die Metaphysik weist, sondern die Macht der eigenen Innerlichkeit selbst.

Sind die Aussagen Max Adlers, die Hinweise auf einen solchen Weg zur Metaphysik und echten Religion enthalten, an seinem Gesamtwerk gemessen auch spärlich, so weisen ihn doch gerade diese einem kritischen Vorbehalt abgerungenen und einer selbst auferlegten Disziplin zum Trotz erkämpften Grenzüberschreitungen als religiösen Denker aus, der sich die Freiheit herausnahm, mit den Vorurteilen des Naturalismus und Intellektualismus zu brechen.

Läßt schon die Bestimmung der Religion als Ahnung einer überempirischen Ordnung die echt religiöse Deutung der Beziehung auf eine außerhalb der eigenen Gesetzlichkeit liegende Größe offen, so wird der die Sphäre des Erkennens verlassenden Kategorie der „Erlebung“ ganz ausdrücklich die Fähigkeit zugestanden, „uns einen Ausblick aus der bloßen Phänomenalität auf das Ding an sich“ zu eröffnen, „der nicht leicht zu finden, aber dann nicht mehr zu verfehlen ist, und durch den wir nun von der inneren, insbesondere praktischen Erfahrung aus weiter in die Bestimmung dieses Grenzbegriffes vorzudringen vermögen, als dies von der bloß äußeren, der theoretischen Erfahrung möglich wäre“.

Nicht die gewöhnliche innere Erfahrung aber ist schon „Erlebung“: „Die innere Erfahrung führt uns zwar nicht auf das Ding an sich, aber sie führt auf dasjenige, worin wir desselben in einer anderen Art als Erkenntnis sicher inne werden, auf die Erlebung.“ Und zur Verteidigung des Begriffs des „Mysteriums“, den der Naturalismus mit logischer Unmöglichkeit gleichsetzen will, führt Max Adler aus:

Er macht nur dem Denken freie Bahn, daß es ebensowenig wie unter den Fesseln der Dogmatik unter jener angeblichen Wissenschaftlichkeit leide, indem er den Komplex unserer Erkenntnis sich nicht in die grundlos optimistische Vorstellung eines Feldes verlaufen läßt, in dem sie mit der Zeit immer weiter dringen wird, sondern hart an jene Grenze führt, die irgend einmal gezogen wird, an das Unerkennbare, aber in uns Wirkende und daher als Realität Erlebte.

Was nun aber den Inhalt dieser „urtatsächlichen Gewißheit“ der Erlebung bildet, entzieht sich für Max Adler der Aussage, handelt es sich doch um die schlechthin „andere Qualität aller Erfahrung“, um die „Lebendigkeit, durch welche überhaupt Erkenntnis ist“. Hält man sich jedoch vor Augen, daß die Religion nach Max Adler auch die Funktion hat, eine Entscheidung der Antinomien der reinen Vernunft zu treffen, „die der bloß theoretischen Stellungnahme nicht möglich war“, und erinnert man sich ferner, daß die vierte der Kant’schen Antinomien die Existenz eines schlechthin notwendigen Wesens betrifft, die in der Gottesvorstellung verankert ist — so wird die Spekulation nicht mehr allzu kühn erscheinen, die von Adler als das „eigentlich Metaphysische der Erfahrung, ihr Absolutes und Letztes“ beschriebene Erlebung für die Erlebung eines schlechthin notwendigen, lebensspendenden und wertschöpferischen geistigen Prinzips zu halten. So daß dann zuletzt das von den Schlacken der Phänomenalität befreite menschliche Bewußtsein, das „Bewußtsein überhaupt“, einem geistigen Rest und Überschuß der Wirklichkeit, eben dem aus dem Grenzbegriff zur Grenzerfahrung gewordenen „Ding an sich“ gegenüberstünde.

Wider den Materialismus

Wie dem auch sei: soviel steht jedenfalls fest, daß Max Adler ein entschiedener Gegner des philosophischen Materialismus war. Mit dem mechanistisch-kausalen Entwicklungsbegriff verwarf er den alten naturwissenschaftlichen Materialismus. Mit seiner Ablehnung der Möglichkeit eines Widerspruchs oder einer realen Negativität im Sein selbst verwarf er den dialektischen Materialismus, welcher eben jene von Max Adler für absurd gehaltene reale Gegensätzlichkeit und Negativität im materiellen Sein als einzige Erklärung für das Phänomen der Entwicklung und des Auftretens irreduzibler Qualitätsunterschiede anzubieten hat.

Nach Max Adler fällt der Religion die Aufgabe zu, Fragen zu lösen, „die sich immer wieder am Abschluß der Erfahrungserkenntnis zu einem begriffenen Ganzen einstellen, sofern man nicht mit bewußter Resignation im Relativen verbleiben will“. Indem Adler der Religion diese Aufgabe der Vervollständigung der Wirklichkeitsschau zuweist, bewegt er sich in Richtung auf die Religionsphilosophie Othmar Spanns. [2] Dieser unterscheidet zwischen Evolutionismus und Entfaltungsprinzip, zwischen der Erklärung aller höheren Qualitäten aus bloßer Entwicklung und der religiösen Annahme der Ausgliederung eines qualitativ Vorgegebenen. Gemeinsam mit seinem wissenschaftlichen Antipoden erscheint Max Adler als ein Bekenner des letzteren Prinzips.

Doch kehren wir von den Grenzen aller Erfahrung zum transzendental vergesellschafteten Menschen zurück und wenden wir uns dem Schauplatz seines Tätigwerdens, der Geschichte, zu. Max Adler zitiert in seinem „Lehrbuch der materialistischen Geschichtsauffassung“ den Satz von Friedrich Engels „Mit dem Menschen treten wir in die Geschichte“. Damit steckt er das Anwendungsgebiet jener Methode und Lehre ab, die er in seinem großen, nunmehr vollständig vorliegenden geschichtsphilosophischen Hauptwerk darstellte und von allen Mißdeutungen befreien wollte.

Geschichte als geistiger Prozeß

Es zeigt sich jedoch schon beim Eingehen auf die Grundbegriffe dieser von Max Adler einer Läuterung zugeführten materialistischen Geschichtsauffassung, daß deren Loslösung vom Gesamtzusammenhang mit dem philosophischen Materialismus eine Operation von weittragender Bedeutung ist. So ist Max Adler bei der Erörterung des fundamentalen Lehrsatzes dieser Geschichtsauffassung — daß nämlich das Sein das Bewußtsein bestimme — gezwungen, dem Wortlaut dieses Marx’schen Kernsatzes Gewalt anzutun. Was Max Adler als bloße stilistische Verbesserung des Marx’schen Satzes „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt“ verstanden sehen will, nämlich seine eigene Formulierung „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr gesellschaftliches Sein, sondern umgekehrt dieses, das ihr Bewußtsein bestimmt“, raubt dem Marx’schen Satze in Wahrheit das Pathos der Gesamtwirklichkeitsschau, in deren Zusammenhang er besonders für den dialektischen Materialisten Engels, aber auch für Marx stand.

Fällt der philosophische Gegensatz zwischen Materie und Geist, zwischen Sein und Denken weg, steht vielmehr die gesamte erfahrbare Wirklichkeit unter dem Vorzeichen eines alle Inhalte erst ermöglichenden Bewußtseins, so verliert sich auch der schroffe qualitative Gegensatz von materiellen Grundlagen und geistigen Erscheinungen innerhalb des historischen Prozesses. Der Mensch hört dann auf, innerhalb des historischen Geschehens von etwas ihm qualitativ Fremdartigem bestimmt zu sein.

Da nach Max Adler auch die Produktivkräfte als „die vom Menschen für ihre Zwecke bewußt in Dienst genommenen Naturkräfte“ grundsätzlich geistige Kräfte sind und das Sein des Menschen insgesamt ein geistiges ist, ist das von der materialistischen Geschichtsauffassung aufgezeigte Abhängigkeitsverhältnis eines, in dem eine bestimmte, von der Betrachtung herausgehobene Seite des geistigen Seins auf andere Erscheinungsformen des geistigen Seins wirkt. Dem „Irrtum der ökonomischen Versachlichung“ stellt Max Adler die „Vergeistigung der ökonomischen Verhältnisse“ entgegen.

Mit dieser Interpretation verliert auch das in seiner Einfachheit faszinierende Bild vom Unter- und Überbau viel von seinem einprägsamen Erklärungswert. Wenn auch nicht geleugnet werden soll, daß es bei Marx und Engels Ansätze für eine Interpretation im Sinne Max Adlers gibt, [3] so beruhte doch die Anziehungskraft ihrer Geschichtsauffassung, speziell in ihrer agitatorischen Verwertung für die Zwecke der proletarischen Massenaktion, darauf, daß die „geistigen“ Elemente, die Max Adler erstens philosophisch anders versteht als Marx und zweitens schon im Unterbau als konstituierende Elemente einführt, bei der Betrachtung des Unterbaus unterschlagen und in toto dem Überbau eingegliedert wurden.

Doch dieses materialistisch-historische Verständnis der Marx’schen Geschichtsauffassung, das sich etwa auf seinen Satz im „Elend der Philosophie“, daß die Handmühle eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten ergibt, berufen kann, ist nicht bloß als ein Mißverständnis des Marx popularisierenden Vulgärmarxismus abzutun, spricht doch ein Beurteiler vom Range Max Webers in seinem berühmten Aufsatz „Die Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis“ von der materialistischen Geschichtsauffassung „in dem alten genial-primitiven Sinne etwa des kommunistischen Manifests“ und hat doch Rudolf Stammler in seinem gründlichen Werk „Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung“ eben die von Max Adler verworfene Annahme einer „sozialen Materie“ als eine für die materialistische Geschichtsauffassung typische Kategorie erklärt.

„Materiell“ heißt „wirklich“

Doch nicht genug damit, daß Max Adler den bei Marx mit einem bestimmten philosophischen und historisch den Produktivkräften verhafteten Inhalt versehenen Begriff „materiell“ auf den viel weniger spezifischen Begriff „wirklich“ reduziert, bzw. erweitert, muß sich die materialistische Geschichtsauffassung unter dem Titel der Reinigung von Grundmißverständnissen noch eine Reihe weiterer folgenschwerer Einschränkungen gefallen lassen. So dürfen nach Max Adler ökonomische Verhältnisse nicht mit ökonomischen Interessen gleichgesetzt werden. Sind die ökonomischen Interessen etwas mehr oder minder deutlich Bewußtes und motivationsmäßig Festgelegtes, so stellen die ökonomischen Verhältnisse den „Lebensraum der Gesellschaft“ dar. Bestimmtsein durch die ökonomischen Verhältnisse ist also nicht gleichbedeutend mit Motiviertsein durch ökonomische und materielle Motive.

Läßt sich in dieser Feststellung noch eine berechtigte Zurückweisung eines in den Marxismus hineingetragenen bürgerlichen Mißverständnisses erblicken, so ist die weitere Modifikation, daß ökonomische Bestimmtheit nicht notwendig rational ist, das heißt, nicht notwendig ein geeignetes Mittel zur Erreichung des auslösenden ökonomischen Zweckes in die Hand gibt, vom Standpunkt des Marxismus schon problematischer.

Weiters ist die ökonomische Grundlegung nach Max Adler nicht — wie es etwa die Wendung Friedrich Engels’ in seiner Grabrede für Marx, „daß die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. betreiben können“ nahelegt — notwendig zeitlich zu verstehen, sondern ist durch die ebenfalls von Engels stammende Überlegung zu korrigieren, daß die materiellen Verhältnisse bloß das „in letzter Linie Entscheidende“ sind.

Wirtschaft und Ideen

Zu dieser Theorie der Wechselwirkung und dem Adlerschen Hinweis darauf, daß die ökonomischen Verhältnisse oft bloß in einem mittelbaren, funktionalen Zusammenhang mit den Vorstellungen und Ideen stehen, diese also nicht erzeugen, sondern bloß durch Mittelglieder bedingen, kommt zu guter Letzt noch die für die Interpretation eines bestimmten historischen Bewußtseinszusammenhanges nicht unwesentliche Einsicht, daß die von der materialistischen Geschichtsauffassung gelehrte ökonomische Bedingtheit nicht nur eine Abhängigkeit von den vorhandenen ökonomischen Verhältnissen beinhaltet, „sondern auch von den vergangenen ..., deren ideologischer Überbau noch lange bestehen bleibt, wo die ökonomische Grundlage schon im Schwinden ist“.

Diese Lehre vom Nachwirken der ideologischen Reste eines abgetragenen Unterbaus in die neue Gssellschaft hinein — die als klassische Rechtfertigung der von Stalin durchgeführten und theoretisch verteidigten Fortsetzung des Klassenkampfes inmitten der schon etablierten Diktatur des Proletariats dienen könnte — erhöht die Schwierigkeiten bei der Beurteilung eines konkret zu untersuchenden Falles, erweitert aber gleichzeitig die Möglichkeiten der taktischen Manipulation, indem sie zur Begründung einer Maßnahme die Möglichkeit des Rückgriffs auf schon überwundene Entwicklungsperioden einräumt und so die durch das Bild von Über- und Unterbau nahegelegte räumliche und zeitliche Zusammengehörigkeit und Parallelität zerstört.

Der Erkenntniswert der materialistischen Geschichtsauffassung reduziert sich unter Berücksichtigung all dieser Einschränkungen und Deutungen auf die Behauptung, daß alle Lebensäußerungen der Menschen und im besonderen die geistigen Vorstellungen, die allzuoft für das Letzte und Wesentliche gehalten werden, untrennbar verbunden sind mit dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß und niemals isoliert von dieser ihrer folgenschweren Einbettung betrachtet werden dürfen. Diese Einsicht stellt nun allerdings wirklich den bleibenden und unverlierbaren Beitrag zum Fortschritt der geschichtlichen Betrachtung und der politischen Gestaltung dar, den Marx und Engels mit ihrer niemals zusammenhängend dargestellten, aber ihr Gesamtwerk durchziehenden und in einer Reihe glänzender Einzeldarstellungen angewendeten materialistischen Geschichtsauffassung geleistet haben.

nächster Teil: Marxismus unterwegs zum Geist (II)

Einem der originellsten Philosophen Österreichs, Univ.-Prof. Dr. Max Adler, wird demnächst das unösterreichische Schicksal zuteil, wiederum auf dem heimischen Büchermarkt zu erscheinen. Der Wiener Europa-Verlag gibt Adlers „Lehrbuch der materialistischen Geschichtsauffassung“ in drei Bänden neu heraus. Wir drucken hier die prinzipielle Einleitung, die Dr. Norbert Leser für die Neuausgabe verfaßte, und verweisen, wie auch er im obigen Text, des weiteren auf die Arbeit von Dr. Friedrich Weigend-Abendroth: Max Adlers transzendentale Grundlagen des Sozialismus. Als Beitrag zur Methodenfrage des Sozialismus verstanden (Dissertation, Wien 1959). Auch dieses Werk wird im Europa-Verlag zur Publikation vorbereitet.

[1Als prominentestes Beispiel darf das Werk des Jesuitenpaters Gustav A. Wetter: Der dialektische Materialismus, Seine Geschichte und sein System in der Sowjetunion, 5. Auflage Wien 1960, gelten.

[2Vgl. dessen „Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage“, Wien 1947.

[3Vgl. Günther Nenning: „Zur Semasiologie der ökonomisch-soziologischen Geschichtsauffassung bei Karl Marx. Dissertation zur Erlangung der staatswissenschaftlichen Doktorwürde an der Universität Graz, November 1960.“

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