FORVM, No. 183/I
März
1969

Olah in uns

Der Prozeß gegen Franz Olah wird zu einem Schlüsselprozeß der Zweiten Republik. Aus einem Strafverfahren gegen einen gestürzten Spitzenpolitiker wird eine Untersuchung der Sitten und Unsitten der österreichischen Demokratie. Wichtiger als die Frage, ob Olah im Sinne des Strafgesetzes schuldig ist oder nicht, ist nunmehr bereits die Frage, welches Urteil über die Praxis der österreichischen Demokratie gefällt wird.

Es ist erstaunlich, in welchem Umfang die Geschichte der Zweiten Republik sich im Olah-Prozeß spiegelt: die Auseinandersetzung mit den Kommunisten wird im geheimnisvollen „Sonderprojekt“ wieder lebendig; die Praxis mancher Politiker (nicht nur Olahs) wird deutlich, sich in so viele Funktionen zu verstricken, bis sie nicht mehr überblicken können, in wessen Interesse sie wessen Millionen hin und her schieben; die Unsitte wird sichtbar, die vor allem (aber nicht nur) in der Koalitionsära blühte, daß Politiker alles auf der allerobersten Ebene aushandeln wollen, in kleinstem Kreis und unter Ausschluß der Öffentlichkeit (und damit auch unter Ausschluß der öffentlichen Kontrolle).

Der „Fall Olah“ ist keine Ausnahme. Das muß zuallererst die Regierungspartei zur Kenntnis nehmen, die an ihren Müllner u.a. denken soll und es nicht riskieren darf, Olah im Wahlkampf als Argument gegen die Opposition zu verwenden.

Der „Fall Olah“ zeigt die Automatik der Regel, daß jede unkontrollierte Macht entartet; daß in der Demokratie politische Macht nicht nur demokratisch legitimiert, sondern auch ständig überprüft und kritisch überwacht werden muß; daß in der Demokratie jeder Autoritätsträger für alle in seinem Kompetenzbereich getroffenen Handlungen und Unterlassungen verantwortlich ist, daß er für alles Rechenschaft legen muß.

Die heilige Kuh ÖGB

Diese Regel gilt auch für den Österreichischen Gewerkschaftsbund, der allzulange von demokratischer Kritik verschont blieb und eines der großen Tabus der österreichischen Innenpolitik war. Auch wilde Sozialistenfresser sprachen in der Vergangenheit oft und verzückt von der vorbildlichen staatspolitischen Haltung des ÖGB. Und die Haltung des ÖGB war tatsächlich, das muß auch im Lichte des Olah-Prozesses festgestellt werden, vorbildlich. Der ÖGB war nach 1945 ein wesentlicher Integrierungsfaktor für die österreichische Demokratie, eine Klammer, welche die beiden „Lager“, die früheren Bürgerkriegsgegner, im Interesse der österreichischen Demokratie zusammenhalten half.

Aber in der Demokratie bekommt es auf Dauer keiner gesellschaftlichen Institution, und wäre es die verdienstvollste, wenn sie in einem Klima unkritischer Anerkennung existiert. Ein gewisses, gesundes Maß an Mißtrauen ist gegenüber allen gesellschaftlichen Einrichtungen sehr wohl am Platz weil allen gesellschaftlichen Einrichtungen die Tendenz zur Oligarchie, die Tendenz zur Verselbständigung bestimmter Eigeninteressen, die Tendenz zum Verlust der Selbstkontrolle innewohnt. Warum hätte der Gewerkschaftsbund von dieser Gesetzmäßigkeit ausgenommen sein sollen? Mehr Kritik, bei aller Anerkennung der Verdienste, hätte dem ÖGB nur gutgetan.

Es hat dem Gewerkschaftsbund nicht gutgetan, daß sein Apparat auf dem Prinzip Vertrauen und nicht auf dem Prinzip Kontrolle aufgebaut war. Das Prinzip Vertrauen war so lange ausreichend, solange Johann Böhm, eine der großen Vaterfiguren der Österreichischen Demokratie, an der Spitze des ÖGB stand. Unter Böhm funktionierte das Prinzip Vertrauen noch, nach Böhm plötzlich nicht mehr. Vaterfiguren werfen die größten Probleme immer erst nach ihrem Abgang auf.

In das personelle Vakuum nach Böhms Abgang stieß Franz Olah, der seit 1950, seit dem kommunistischen Putsch (mit umstrittenem Putschcharakter), von seiner Partei groß „aufgebaut“ worden war. Die Generation Benya, Klenner, Staribacher war zunächst viel zu schwach, um eine Alleinherrschaft Olahs im ÖGB zu verhindern.

Und Olah herrschte einige Jahre im ÖGB ohne Kontrolle. Erst allmählich wurden die potentiellen Konkurrenten stärker. Als es Olah nicht gelang, als Nachfolger Maisels Obmann der sozialistischen Gewerkschaftsfraktion zu werden, hatte er den Höhepunkt seiner Macht bereits überschritten. Diese relativ kurze Zeit der faktischen Alleinherrschaft Olahs war ein Modellfall dafür, daß es sich auch eine überall geschätzte und gelobte, allgemein tabuierte Einrichtung wie der ÖGB nicht leisten kann, auf wirksame Kontrollmechanismen zu verzichten. Nur so ist es verständlich, daß alles das passieren konnte, was heute — wahrscheinlich nur auszugsweise — Gegenstand eines Strafverfahrens ist.

Was sind das für Zustände, daß die schlimmsten journalistischen Erzeugnisse, die es derzeit in Österreich gibt, mit den Beiträgen der Gewerkschaftsmitglieder finanziert worden sind! Da beklagt man sich über die üble Qualität dieser Presseerzeugnisse — und hat sie selbst finanziert, aber nicht mit eigenem Geld, nein, mit anvertrautem Geld! Jedes Mitglied des ÖGB soll sich die Frage stellen, ob es deshalb Beiträge zahlt, damit rassistische und faschistische Untertöne in Österreich verbreitet werden; damit Millionenbeiträge jederzeit zur Verfügung stehen, um einen Zeitungsstil zu fördern, der dem politischen Ethos der demokratischen Linken (gibt es so etwas noch in Österreich?) zutiefst widersprechen muß. Wie soll ein Gewerkschaftsmitglied jetzt noch wissen, ob er nicht im Augenblick mit seinen Beiträgen gerade ein viertes, fünftes oder sechstes Boulevardblatt finanziert? Oder ob er nicht vielleicht gerade mithilft, die Freiheitliche Partei am Leben zu erhalten?

Olah ist nur ein Symptom

Damit führt der „Fall Olah“ aber von der gewerkschaftlichen Problematik weg und wird zu einem Symptom für die Gesamtsituation unserer Demokratie. Man hat es sich in Österreich angewöhnt (oder, besser, man hat es sich niemals abgewöhnt), in Kategorien wie „Hausmacht“, „Klientel“ und ähnlichen feudalen Begriffen zu denken. Wie muß es um das Rekrutierungssystem unserer Demokratie bestellt sein, wenn der Einfluß eines Politikers von seiner lehensherrlichen Macht über Hintersassen abhängt? Man wird angesichts der entlarvenden Tatsachen, die vor Gericht zur Sprache kommen, den Verdacht nicht los, daß die Mächtigen in unserer Demokratie vergessen haben, wem sie ihre Macht verdanken, in wessen Namen sie diese Macht ausüben und wem sie verantwortlich sind.

Daß der Gewerkschaftsbund politische Parteien finanziell unterstützt, kann niemand anstößig finden, der von der Notwendigkeit der Existenz politischer Parteien weiß. Solange der überparteiliche Gewerkschaftsbund sein Füllhorn nicht einseitig ausleert, ist diese Subventionierung durchaus im Einklang mit den Grundideen der Gewerkschaftsbewegung. Es geht aber angesichts des Olah-Prozesses nicht um die Tatsache, daß der Gewerkschaftsbund — neben kirchlichen, kulturellen und sozialen Gruppierungen — auch die politischen Parteien subventioniert hat. Es geht um das verschämte Halbdunkel, in dem diese Transaktionen abgewickelt worden sind. Es geht darum, daß hier wieder einmal entscheidende Fakten — und was ist in der konkreten Politik entscheidender als die Frage, wer wen wofür bezahlt? — der öffentlichen Kontrolle entzogen worden sind.

Das Halbdunkel ist Licht genug

Bis jetzt hat man in Österreich eine Lösung des Problems der Parteienfinanzierung noch nicht ernsthaft versucht. Ein so heißes Eisen, ein so offenes Problem wird niemals ganz befriedigend gelöst werden können. Aber wenn es den Parteien (und hier vor allem der SPÖ) recht war, von den Beiträgen der Gewerkschaftsmitglieder subventioniert zu werden, warum soll es den Parteien (und hier wiederum vor allem der SPÖ) dann nicht recht sein, von Steuergeldern finanziert zu werden? Ist der Grund für diese Abneigung der, daß man sich vor der relativen Transparenz einer solchen Finanzierung fürchtet, daß man hier nur ja jeder Kontrolle ausweichen will?

Natürlich ist es für eine konservative Partei einfacher, sich von privaten Firmen und anderen Interessenten bezahlen zu lassen. Natürlich ist es für eine sozialistische Partei einfacher, dafür die Gewerkschaften einzuschalten. Es ist einfacher, aber es ist nicht demokratischer — denn es mindert dem demokratischen Souverän, dem Volk, dem unbekannten Wähler, eines der ihm ohnehin nur so spärlich zur Verfügung stehenden, tatsächlichen Rechte: es mindert seine Möglichkeit, ein wenig das Gestrüpp von Interessen, Geld und Parteien zu durchleuchten.

Wenn es den Parteien mit der Demokratie ernst ist, dann muß der Olah-Prozeß der Anlaß dafür sein, das Problem der Parteienfinanzierung anzugehen. Es ist selbstverständlich, daß man bei einer Regelung dieses Problemkreises von der notwendigen Funktion der politischen Parteien in der modernen Demokratie ausgehen muß. Es ist aber auch selbstverständlich, daß das letzte Ziel immer die Verwirklichung des demokratischen Grundpostulates sein muß: den Wählern mehr Rechte gegenüber den Gewählten zu geben, die Gewählten abhängiger von den Wählern zu machen — und das heißt die Gewählten einer verstärkten Kontrolle unterwerfen.

Franz Olah war kein Zufall. Seine große Popularität, seine unleugbare persönliche Autorität, die er gerade unter den sozialistischen Stammwählern genoß, sein ganzer, darauf bauender politischer Stil trugen zweifellos cäsaristische Züge. Aber in der Demokratie genügt es nicht, Symptome festzustellen und zu bekämpfen. Die tieferen Ursachen sind nicht bei Olah zu finden.

Der extrem repräsentative Charakter unserer Demokratie, vor allem (aber nicht nur) in der Koalitionsära, verstärkte bei den Wählern das Gefühl faktischer Machtlosigkeit. Das Bewußtsein, daß sich für die meisten Österreicher Demokratie darauf beschränkt, in regelmäßigen Abständen eine Wahlzelle zu betreten und eine anonyme Liste anzukreuzen, ließ den Wunsch nach mehr Demokratie und mehr Persönlichkeit entstehen. Beides schien Olah zu bieten: Er besaß so etwas wie einen „direkten Draht“ zu den Wählern, er schien alle lästigen Zwischeninstanzen überspringen und die Demokratie direkter machen zu können. Franz Olah war die personifizierte Sehnsucht des unbekannten Wählers nach einer direkteren Demokratie, nach mehr Demokratie.

Schlußfolgerung: mehr Demokratie!

Mit dem Sturz Olahs hat sich an dieser Ausgangssituation nichts geändert: nach wie vor leidet unsere Demokratie an einem konstanten Übergewicht der repräsentativen Elemente gegenüber den plebiszitären Elementen. Das Ende der Koalition hat dieses Mißverhältnis nicht beseitigen, nur weniger spürbar machen können. Es bleibt der Wunsch des entrechteten demokratischen Souveräns nach mehr Demokratie.

Kein Scherbengericht

Der Olah-Prozeß darf nicht zum Scherbengericht über einen einzelnen, gefallenen Politiker werden, nach dessen Veruteilung oder Freispruch man zur Tagesordnung übergehen kann. Würde man den Olah-Prozeß so mißverstehen, dann würde man ihn zu einem großen Scherbengericht über die österreichische Demokratie machen. Wie müßte es um die Demokratie bestellt sein, die in die ungewöhnlich glückliche Situation kommt, an Hand eines Einzelfalles ihre ganzen Fehler vorgerechnet zu bekommen, und die diesen Glücksfall einer kritischen Bestandaufnahme nicht besser zu nützen weiß, als daraus Munition für den nächsten Wahlkampf zu beziehen und im übrigen an den entscheidenden Fragen vorbeizudämmern!

Der Zustand unserer Demokratie, in den uns der Prozeß gegen Franz Olah einen tiefen Einblick gewährt, ist noch kein Grund, um an dieser Demokratie zu verzweifeln. Grund zum Verzweifeln hätten wir erst dann, wenn wir nicht imstande sind, aus dieser Bestandsaufnahme wesentliche Konsequenzen zu ziehen.

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