FORVM, No. 122
Februar
1964

Rechtsbruch geht zu Lasten der Regierung

I.

Wie die Erfahrung der Geschichte und theoretische Überlegungen lehren, findet man kaum jemals eine Alleinschuld von der nämlichen Art vor. Ebensowenig wird man hier von einer Hauptschuld oder größeren Schuld sprechen können, sofern man den Blick auf die Erscheinungswelt, das objektive Element des Geschehens heftet; das subjektive Element, die Intentionen, die guten Absichten, sind in solchen Fällen zuverlässig nicht zu ermitteln.

Beide Parteien verrieten die Neigung, den Knäuel gewaltsam zu durchhauen. Gewaltdrohung und Gewalttätigkeit trifft man diesseits und jenseits des Grabens an. Das Maß der Schuld verteilt sich aber nur relativ gleichmäßig; denn allemal trägt diejenige Partei die größere Verantwortung, die an der Macht ist, d.h., die über die Organe und die Funktionen der sogenannten Staatsgewalten verfügt. Moralisch hat sie als erste die Hand zu reichen; sie ist sittlich verpflichtet, großzügiger zu sein. Rechtlich verantwortet sie alle Überschreitungen der Rechtsordnung.

Die Antwort hängt davon ab, was genau unter dem Eigenschaftswort „demokratisch“ verstanden wird. Wird es im engeren, strengeren Sinn verstanden, der einzig und allein die rechtsstaatliche Erscheinungsform der Demokratie leitet? Dann meint sie: demokratischen Rechtsstaat oder rechtsstaatliche Demokratie, wie die nämliche Herrschaftsform einerseits begriffen wird von Johannes Althusius, in den demokratischen Theorien der spanischen Moralphilosophie, bis zurück zur römischen und attischen Demokratie; wie sie anderseits begriffen wird von der angelsächsischen Rechtswelt (no democracy without the rule of law). Wird hingegen die Demokratie im modern-kontinentalen, und das ist im radikalen, jakobinischen (Jean Jacques Rousseau) Verstand aufgefaßt, dann war die Sozialdemokratische Partei ohne Einschränkungen in Praxis und in Theorie als revolutionäre Partei eine demokratische Partei. Sonst wird man ihr, im erstverstandenen Sinn, sofern sie sich zur totalen rechtlichen Ungebundenheit der Volkssouveränität bekennt, wie Jean Jacques Rousseau, der Jakobinismus und die übrigen Erscheinungsformen des Radikaldemokratismus es lehren, nur bedingt das Eigenschaftswort „demokratisch“ zusprechen können. In Klammern sei angemerkt, daß heute „demokratisch“ im erstgemeinten Sinn auszulegen ist, wenn man Art. 1 der österr. Bundesverfassung (B-VG) mit Art. 1 und Art. 8 des österr. Staatsvertrages liest (A. J. Merk!).

Auch hier kommt es darauf an, was man genau unter „faschistisch““ versteht. Zunächst würde ich sagen, daß man es mit einer ausgesprochen autoritären Gruppierung zu tun hatte, die vom katholischen Machtstaat-Gedanken ausgegangen war. Viele Jahrzehnte glaubte man innerhalb des katholischen Raumes nicht weniger als am anderen Ufer an den Vorrang der Macht, an den Vorrang der Mittel, die alleweil vom Zweck geheiligt werden; glaubte man an die Staatsräson, die den Primat vor der Rechtsräson genösse. Viele Jahrzehnte bekannte man sich im katholischen Raum nur so lange zum Rechtsstaat, wie er dem eigenen Interesse entsprach, war jedoch allzusehr geneigt, ihn sofort über Bord zu werfen, wenn er nicht mehr taugliche Mittel zur Erreichung des Zweckes bereitstellte.

Eines der Hauptkennzeichen des Faschismus ist das bedingungslose Machtstaat-Denken, wofür die Macht alles, das Recht nichts (nichts als bloßes Mittel!) ist.

Allein, dies ist noch nicht die differentia specifica des Faschismus. Schon etwas näher gelangt man an das Wesen des Faschismus, wenn man sein Konzept vom Ständestaat in den Blick nimmt. Der faschistische Ständestaat erweist sich darin, daß er die allgemeine Volksrepräsentanz, das Parlament, entweder abschafft oder bloß als Kulisse aufstellt und an Stelle der Volksvertretung als ausschließliche Erscheinungsform der Repräsentanz die Ständevertretung gelten und an der Staatsgewalt teilnehmen läßt. In diesem Sinne war die autoritär gesinnte Rechte eine überwiegend faschistische Gruppierung; große demokratische Gestalten wie etwa Reither, Kunschak und E. K. Winter verhindern, daß man die autoritär gesinnte Rechte als gänzlich faschistische Gruppe bezeichnen darf.

II.

Freilich, wie in jedem Irrtum eine Falte der Wahrheit ruht, so kann man jeder geschichtlichen Lage, jeder Entwicklung und jedem Ereignis positive Seiten abgewinnen. Daß Menschen bereit sind, wegen ihrer Überzeugung, Gesinnung und Weltanschauung zu kämpfen, hat dann etwas für unsere Geschichte zu bedeuten, wenn Kampf heißt: selbstloses Opfer, Verzicht auf Vorteile, Hingabe zum wirklichen oder vermeintlichen Gemeinwohl.

Für gewöhnlich birgt jede Überzeugungsgemeinschaft, jeder Weltanschauungsbund und jede Gesinnungsgenossenschaft am Anfang Unduldsamkeit, Intoleranz, Radikalismus und Fanatismus. Doch muß der Idealismus, soll er von seinem Kern nicht abfallen, bestimmte Schranken beobachten; die aufgezählten Begleiterscheinungen des Idealismus können nicht jene Grenzen überschreiten, jenseits deren Mißachtung des Andersgesinnten, grobe Verletzung seiner Interessen, Vernichtung des zum Gegner erklärten Andersdenkenden herrschen.

Der Idealismus hält nur so lange dem eigenen Wesen die Treue, als er nicht einzig und allein auf leidenschaftlichen Haß baut, vielmehr der Bereitschaft frönt, den Anderen als Partner zu schonen, das heißt, ihn vor dem Äußersten zu bewahren.

Der wirkliche Idealismus waltet nur dann und dort, wenn und wo zumindest Ansätze zur Toleranz durchscheinen; damit, „daß Menschen mit höchstem und letztem Einsatz für ihre Ideale zu kämpfen sich bereit finden“, wird noch nicht ein bündiges, in seiner Verbindlichkeit auf Dauer angelegtes Vorbild des Verhaltens errichtet. (Vgl. Günther Nenning in der „Furche“ vom 18. Jänner 1964, S. 3.)

Zunächst nehme ich wahr an positiven Zügen der Sozialdemokratie: eine innere Geschlossenheit und Schlüssigkeit, die Theorie und Praxis miteinander verknüpfen, wie man sie im übrigen nur selten antrifft.

Dann erkenne ich, daß sie, ihren radikalen Zügen zum Trotz, die gemäßigten Köpfe nicht ausgesondert, sie vielmehr aufgenommen und als Regulatoren hat schalten und walten lassen; dies in einer Weise, daß das Maß nie ganz verlorengegangen ist. Nur so war der Wandel zu einer im besten Sinne des Wortverstandes gemäßigten Partei möglich.

Schließlich: sie hat den reißenden Strom der extremen Linken (Kommunismus) ein für allemal aufgefangen, einer kommunistischen Revolution wie in Ungarn vorgebeugt; sie hat verhindert, daß in Österreich die kommunistische Partei großen Einfluß gewinnt.

Absicht und Ziel der Rechten waren großartig: die Rechte hatte aus dem Staat eine sittliche Anstalt herstellen, überhaupt Ethik und Moral heben, den Glauben an Gott in der Form des katholischen Christentums verbreiten und vertiefen wollen. Obendrein hatte sie in bester Absicht den Teufel mit dem Beelzebub vertreiben, nämlich den deutschen Nationalsozialismus mit einem österreichischen Faschismus auffangen und wettmachen wollen.

Allein, die Mittel waren verwerflich. Weil aber gemäß dem Grundsatz des Rechtsstaates niemals ein Ziel das Mittel zu heiligen vermag, vielmehr die Beschränkung auf die unter dem Gesichtspunkt der Rechtmäßigkeit zulässigen Mittel bei der Verfolgung eines an sich und in sich guten Zwecks den Ausschlag gibt: deshalb kann unter dem Gesichtspunkt der Herrschaft des Rechts das Verhalten der Rechten nicht gutgeheißen werden.

Was besonders die Ständestaats-Ideologie angeht, so ist sie wegen ihrer Exklusivität, Totalität und Radikalität abzulehnen (vgl. oben). Hingegen ist der Gedanke des Ständestaats, der heute in Form des Verbändestaats wiederkehrt, so lange zu preisen, wie die Ständevertretung (Verbänderat) als Gegengewicht zu einem starken Parlament (Volksvertretung) entworfen wird (Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S. 259). Jugoslawien ist in der Gegenwart in dieser Richtung am weitesten gegangen (Produzentenrat); es hat die originellsten Lösungen vorgeführt.

Die sogenannte Ständestaats-Ideologie ist als Mittel der Machtverteilung um der Mäßigung der Staatsgewalt willen, also als Teillösung, preiswürdig; sie ist als All-Lösung zu verwerfen.

III.

Eine Wiederholung des Februar 1934 halte ich für unmöglich. Beide Parteien sind durch und durch staatlich geworden; sie sind ganz und gar mit dem Staatsgefüge verwoben. Zudem ist diejenige Partei, die ihrer geschichtlichen Funktion nach von der Opposition herkommt, im Besitz gerade derjenigen Staatsorgane und Staatsfunktionen, die Schlüssel zur sogenannten Staatsmacht sind: Justiz, Inneres, Verkehr (und Post), Wirtschaft (Verstaatlichte Industrie), Daseinsvorsorge und Fürsorge — und schließlich als Tüpfelchen auf dem I: die auswärtigen Angelegenheiten.

Beide Parteien sind im Grundgefüge echte, das heißt rechtsstaatlich-demokratische Parteien, wiewohl bisweilen Neigungen zum Machtstaat-Denken von ehedem und zur Mißachtung des unbedingten normativen Primats der Verfassung wie Geringschätzung der Forderungen des Rechtsstaates durchbrechen.

Den Ausschlag gibt, daß beide Parteien sich vorbehaltlos zum unvergänglichen Wert der Menschenwürde, zur unveräußerlichen Freiheit jedes Einzelmenschen (Person), überhaupt zu den Menschenrechten und zu den Grundfreiheiten bekennen; daß beide Parteien darauf angelegt sind, ohne Rücksicht auf Klassen- und Standesunterschiede, das Gesamtwohl der Staatsgemeinschaft (res publica) anzustreben, infolgedessen Volksparteien sind; daß beide Parteien versichern, sich der Herrschaft der Verfassung zu unterwerfen und den Rechtsstaat als Grundnorm des politischen Lebens zu achten.

Einzelaktionen, Einzelfälle, gelegentliche Äußerungen, die in andere Richtung weisen, kommen freilich vor, erregen Ärgernis, erzeugen Unbehagen, sind aber doch bloß Ausnahmen.

Bis zum Abschluß des österreichischen Staatsvertrages und bis zum Abzug der Besatzungsmächte im Jahre 1955 kann man die Frage, ob Lehren gezogen wurden, vorbehaltlos und eindeutig bejahen. Im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik haben in Österreich als allgemeine politische Faustregel die amicitia politica, die amicitia concivium und die concordia geherrscht.

Wo die ambiance amicale erloschen ist, oder allgemach erlischt, zu erlöschen droht, dort lauert die Gefahr, daß die res publica auseinanderbricht. Mit Sorge muß solch eine Entwicklung im zweiten Jahrzehnt der Zweiten Republik Österreich wahrgenommen werden. Je besser es uns geht, je freier wir uns fühlen, desto weiter scheinen wir uns zu entfernen von den Lehren, die die Februar-Ereignisse uns auf den Weg gegeben haben.

Ich bedauere es vor allem, daß im Wortschatz der SPÖ, namentlich im Wortschatz ihres Obmannes, Vizekanzler DDr. Bruno Pittermann, so häufig das Wort „Haß“ zu vernehmen ist. Muß das sein? Die radikalen Redewendungen, die der Parteivorsitzende der SPÖ mit so viel Leidenschaft hartnäckig gebraucht, passen wie die Faust aufs Auge unserer Republik Österreich. Wir müssen uns beherrschen, wir dürfen nicht aus unseren Herzen Mördergruben machen. Wir müssen uns endlich darauf einrichten, daß wir ausnahmslos alle für alle Zeit in ein und demselben Haus wohnen, unserem Haus. Wenn wir in einem fort Stimmungen des Zwistes, der Zwietracht (discordia) erzeugen und eifrig, unentwegt die Flamme des Haders nähren, auf daß sie ja nicht niedergehen möchte: dann beschwören wir selbst und bewußt das Unerträgliche herauf, woran jegliches Gemeinsame zerschellt.

Ist einmal in unser Bewußtsein eingedrungen, daß nicht Mittel der Gewalt, nicht die Stimmung des Klassenkampfes und des Parteienhasses die Luft sind, die uns bekommt, sondern daß ausschließlich die Mittel des Rechts als der Menschenwürde angemessen und der Freiheit der Person förderlich gelten: dann ist der Kern der Lehren freigelegt, die die Februar-Ereignisse uns übereignet haben.

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