FORVM, No. 122
Februar
1964

Sie wurden auch Opfer Stalins

Zuerst eine „Vorwarnung“ für Ihre Leser, soweit diese eine solche Warnung vor meiner Person benötigen. Ich bin einer der Jüngeren der älteren Generation, die am 12. Februar 1934 bereits politisch aktiv tätig gewesen ist. Meinen 18. Geburtstag habe ich im Gefängnis „gefeiert“ (Jahrgang 1916). Ich bin daher „Partei“.

I.

Die Feststellung der geschichtlichen Wahrheit über die Februar-Ereignisse 1934 steht der geschichtlichen Aufgabe unserer Zeit (Versöhnung) nicht entgegen. Echte Versöhnung wird durch echte Tatsachenfeststellung gefördert.

Sie stellen präzise Fragen und dürfen präzise Antworten erwarten. Ich will versuchen, sie zu geben.

Die maßgebenden Männer der Regierung Dollfuß wollten die Beseitigung der Demokratie. Die Sozialdemokraten wollten die Erhaltung der Demokratie.

Die Sozialdemokraten haben politische Fehler begangen. Ihre Gegner haben vorsätzlich die demokratische Regierungsform in Österreich beseitigt. (Vgl. die vergeblichen Verständigungsbemühungen Renners, Körners und Helmers bzw. die Friedensangebote an den „Ständestaat“, die Otto Bauer um die Jahreswende 1933/34 in der „Arbeiter-Zeitung“ veröffentlichte. Vgl. auch die Rede Kunschaks im Wiener Gemeinderat am 9. Februar 1934.)

Der folgenschwerste Fehler der Sozialdemokraten war, daß ihre Führung den unvermeidlich gewordenen Kampf um die Verteidigung der Demokratie nicht schon im März 1933 führte (15. März 1933). So hatte Dollfuß die Möglichkeit, ein Jahr lang Stück für Stück die demokratischen Rechte und die verfassungsmäßigen Einrichtungen, die sie sichern sollten, zu beseitigen (Pressefreiheit, Verfassungsgerichtshof usw.).

Die sozialdemokratische Führung hoffte immer noch auf ein Kompromiß mit ihren Gegnern. Das war achtenswert, aber aussichtslos. Die Gruppe Fey-Dollfuß hat Anfang 1934 vorsätzlich den Bürgerkrieg provoziert, in dem die Schutzbündler die letzten Verteidiger der Demokratie in Österreich wurden.

Die historische Wahrheit ist: An den tragischen Februar-Ereignissen 1934 traf die führenden Männer der Regierung Dollfuß das Alleinverschulden. Politische Fehler der sozialdemokratischen Führer haben dazu beigetragen, daß sich Dollfuß und Fey in ihrem Lager durchsetzen konnten.

Soweit die „subjektive Tatseite“.

In den meisten Fällen wird gewiß dem politischen Gegner von damals heute niemand mehr die Lauterkeit seines politischen Wollens absprechen. Vor allem mit Toten, mit im Kampf Gefallenen, rechtet man nicht mehr. Die „Soldaten“ der Februarkämpfe auf der „anderen Seite“ konnten für sich geltend machen:

Es gab die scheinbare Zwangslage Österreichs, sich außen- und innenpolitisch zwischen dem Nationalsozialismus im Norden und dem italienischen Faschismus im Süden entscheiden zu müssen.

Und da war der ganze Zeitgeist der Zwischenkriegszeit. Ich schrieb einmal in anderem Zusammenhang darüber: [*]

Was auf solche Weise rechts und links zum Ausdruck kam, war die Tatsache, daß alle Parteien, die sozialdemokratische ebenso wie die christlichsoziale und später die nationalsozialistische, sich als Weltanschauungsparteien fühlten und es als Recht und Pflicht ansahen, ihr Reich auf Erden dauernd zu etablieren.

Der Aktivismus der militanten Parteianhänger, insbesondere der Jugend, wurde durch eine absonderliche Mischung von chiliastisch-messianischem Zukunftsglauben und dem Versprechen, daß die Erringung der verheißenen Ziele im unmittelbaren politischen Tageskampf möglich sei, zur Siedehitze gesteigert. Wie fundamental muß die Umwertung aller Werte durch die Katastrophe des Krieges von 1914 bis 1918 gewesen sein, wenn uralte Menschheitsträume, deren Reich niemals von dieser Welt war, zum Gegenstand tagespolitischer Auseinandersetzungen zwischen den Parteien werden konnten!

Die autoritär gesinnte Rechte stand spätestens seit 1933 unter der Führung von Gruppen und Personen, die sich von faschistischem Gedankengut leiten ließen. Viele demokratisch gesinnte Österreicher folgten dieser Führung, weil sie keine andere Alternative zur Abwehr des Nationalsozialismus zu sehen glaubten. Entscheidend aber war eines: die maßgebenden Teile der damals regierenden Klassen nicht nur in Österreich (Großbürgertum, Industrie, und zwar inländische und ausländische) haben die Demokratie, die sie innerlich nie akzeptiert hatten, auch äußerlich abgeschrieben und bekannten sich zu gewaltsamen Herrschaftsmethoden. Es hatte sich die Auffassung durchgesetzt, daß man auch der würgenden internationalen Wirtschaftskrise anders nicht mehr begegnen könne. Auch das autoritäre Regime in Österreich bekannte sich zu diesen Grundsätzen. 1938 ist dieses Regime dann trotz den Bemühungen mancher seiner Führer zusammengebrochen, ohne die Kraft zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu finden, weil es selbst vom faschistischen Geist durchsetzt gewesen ist.

II.

Die deutsche Demokratie hat 1933 kampflos vor Hitler kapituliert.

Die bewaffnete, wenn auch hoffnungslose Verteidigung der Demokratie durch die Schutzbündler hat dem Ansehen Österreichs in der Welt unschätzbaren Nutzen gebracht.

Die Erinnerung an den mutigen Kampf der Schutzbündler im Februar 1934 war eine der großen geistigen Kraftreserven für den Widerstand gegen Hitler 1938-1945 und für die erfolgreiche Zusammenarbeit der großen politischen Lager, die den Wiederaufbau Österreichs nach 1945 ermöglichte.

Der Austromarxismus bildet eine bedeutende Episode nicht nur der österreichischen, sondern der europäischen Geistes- und Ideengeschichte. Er bildet heute noch einen unentbehrlichen geistigen Fundus, aus dem eine der beiden großen Staatsparteien schöpft.

Das kommunale Aufbauwerk, das die Sozialdemokratie in der ersten Republik in Wien leistete, wurde international beispielgebend.

Eine negative Seite des Austromarxismus war die von manchen seiner Repräsentanten entwickelte Überwertung geschichtlich zwangsläufiger Entwicklung und der Widerspruch zwischen Worten und Taten in der praktischen Politik. Beides hat zur unglücklichen politischen Entwicklung in Österreich zwischen 1918 und 1934 beigetragen.

An der österreichischen Ständestaats-Ideologie waren positiv:

Der österreichische Patriotismus und die Ablehnung des Rassenantisemitismus.

III.

Ich halte eine Wiederholung der Ereignisse vom Februar 1934 in gleicher oder abgewandelter Form nicht für möglich. Die weltpolitische Lage hat sich in den vergangenen 30 Jahren grundlegend geändert.

Zum Unterschied von der Ersten Republik gibt es in der Zweiten Republik keine ernsthafte Alternative zur demokratischen Staatsform.

Die beiden Regierungsparteien sind demokratische Parteien, weil sie sich trotz dem Führungsanspruch, den sie geltend machen, als Teil des Ganzen (pars) fühlen und keinen totalen Herrschaftsanspruch mehr für sich fordern.

Die politischen Parteien, die Politiker und die Wähler haben aus den Februar-Ereignissen die Lehre gezogen, daß man die demokratischen Spielregeln einhalten muß, auch wenn man selbst nicht immer der gewinnende Teil sein kann. Dennoch hat das Ganze von der Einhaltung dieser Spielregeln den Nutzen.

Und das wichtigste: wir haben gelernt, daß man miteinander reden muß. Es gibt keine politische Situation, in der man den Versuch aufgeben darf, mit der „anderen Seite“ zu reden.

P. S. — Ich bin optimistisch, daß Art und Inhalt der Feiern zur 30jährigen Wiederkehr der Februartage 1934 zeigen werden, daß alle Seiten gelernt haben. Es werden im Ergebnis auch Tage des gemeinsamen Gedenkens an einen im Ergebnis gemeinsamen Abschnitt österreichischer Geschichte sein.

Ich möchte an dieser Stelle noch erzählen, was mich in diesen Tagen des Erinnerns vielleicht am meisten erschüttert hat. Die „Neue Zeit“, Graz, berichtete am 21. Dezember 1963 vom 80. Geburtstag von Frau Wilhelmine Stanek, Witwe des Februarkämpfers Josef Stanek, der von einem Standgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war, und Mutter des Februarkämpfers Josef Stanek jr., der als Schutzbündler in die Sowjetunion flüchtete und dort bei den Säuberungen durch stalinistischen Terror sein Leben verloren hat ...

Fast tausend Schutzbündler hofften nach 1934, in der Sowjetunion politisches Asyl zu finden. Wie viele von ihnen sind zurückgekehrt?

Die Schutzbündler haben in den eisigen Februartagen 1934 nicht nur das Hotel „Schiff“ in Linz, das Ottakringer Arbeiterheim und den Karl-Marx-Hof verteidigt; Schutzbündler waren es, die als erste Österreicher zu Opfern des Stalinismus wurden — noch bevor Hitlers Konzentrationslager Februarkämpfer beider Seiten aufnahmen.

Denken wir auch daran in diesen Tagen, und zwar gemeinsam! Wir sehen, es gibt genug Gemeinsames, dessen wir uns erinnern können.

[*Christian Broda: Um den Stil der Zweiten Republik, FORVM V/59; desgl. in: Demokratie, Recht, Gesellschaft. Europa-Verlag 1962, S. 29.

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