FORVM, No. 284/285
August
1977

Stolpern übers Atom

SPÖ im Dilemma

Wir könnten in Österreich mit der Kernkraft ruhig noch eine ganze Zeit lang zuwarten und uns anders behelfen. Ob wir die zwei im „Energieplan“ vorgesehenen Kernkraftwerke haben oder nicht, ist eigentlich egal; ihr Anteil an der Versorgung kann, weil er so gering ist, jedenfalls irgendwie ersetzt werden.

Wir haben uns mit unnötiger Entschiedenheit in ein Schlamassel begeben. Wir haben unösterreichisch gehandelt. Wir haben uns ohne Not die Atomfrage eingewirtschaftet.

Und damit ein erstklassiges Thema für Wahldemagogie.

In Schweden haben sich über der Kernkraftwerksfrage die konservativen Parteien geeinigt und die Pro-KKW-Sozialdemokratie geschlagen. In Österreich ist die FPÖ bereits gegen KKW, die ÖVP blickt interessiert auf die hier ausgestreckte bürgerliche Hand. Kreisky ist sehr schwer zu schlagen, muß da nicht alles probiert werden? Die konservativen Parteien sind natürliche Verbündete der Kapitalinteressen, also auch der KKW-Interessen; aber hinter den Wahlen kann man vom Nein wieder abrücken, siehe Schweden. Der Sturz Palmes, der Sturz Kreiskys ist ein bißchen zusätzliche Schlamperei im Umgang mit der Wahrheit schon wert.

In allen westlichen Industriestaaten erzielt die Umweltschutzbewegung wichtige Erfolge. Unterwegs ist ein eigentümliches Amalgam aus Ultralinken, die in offener Feldschlacht gegen Kernkraftwerke operieren, und Ultrakonservativen, die leidenschaftlich für Naturschutz sind, weil ihnen Arbeitsplätze und ähnliche sozialstaatliche Scherze ohnehin wurst sind; in der Atomfrage finden sich „Fanatiker“ und grundvernünftige Leute (wie Paul Blau in diesem Heft). In der Bundesrepublik haben Richter Recht gesprochen, als wären sie eine ApO-Zelle im ansonst ehrsamen Gewerbe, und haben einen KKW-Bau aufgehalten; eine Mutprobe, die Jungs werden, wenn sie so weitertun, sicher nie Oberlandesgerichtsräte oder wie das dort heißt.

In Frankreich hat bei jüngsten Wahlen die zersplitterte Heerschar der Umweltschutzgruppen Prozenterfolge erzielt, die manchenorts die Größe unserer FPÖ übertreffen. Jedenfalls würden sie mehr als genügen, um ein österreichisches Wahlergebnis grundstürzend zu verändern. Mit dem unnötigen Zwentendorf auf dem Hals verfügt die österreichische Sozialdemokratie derzeit um einen Mühlstein mehr, und sie ist in letzter Zeit mit solchen schwer zu beseitigenden Mineralien ohnehin gesegnet.

In der Kernkraftfrage blüht in der Partei die demokratische Meinungsvielfalt aufs trefflichste. Kronprinz Androsch profiliert sich pro KKW, Kronprinz Gratz profiliert sich gegen, Vater Kreisky zögert gekonnt, mit Blick auf die schwedischen und französischen Wahlergebnisse. Benya braucht nicht gewählt zu werden und ist heftig pro KKW, gewiß aus ernster Sorge um Arbeitsplätze und „Sozialpartnerschaft“.

Die Kronen-Zeitung, Printmediengigant des Landes, ist immer deutlicher contra KKW. Es ist dies das erste Issue, bei dem Kronen-Zeitung und ÖGB offen verschiedener Meinung sind. (Im Hintergrund steht ein weiterer großer Meinungsgegensatz zwischen den beiden: die Kronen-Zeitung will aus dem Printmedienbereich, wo ihre aufgehäuften Kapitalien nicht mehr nutzbringend anzulegen sind, in den elektronischen Bereich; war sie dem ÖGB im Printmedienbereich, wo dieser keinen Fuß hat, hochwillkommen, so ist dies im Rundfunk, wo die rosarote Seite ohnehin schon direkt drin ist, genau umgekehrt.)

Ein österreichischer Ausweg zeichnet sich ab: hat man sich unnötig rasch für den Bau von Zwentendorf entschieden, muß man nicht mit der gleichen Unnötigkeit schon vor oder gar im Wahljahr 1979 mit dem Bau fertig werden.

Der Gegensatz zwischen Benya und Kreisky, in welchem die Medien mit Wonne herumstochern, reduziert sich vermutlich auf eine Frage des Timings: Benya will rasch fertig bauen, dann haben’s die Leut’ bis zu den Wahlen eh vergessen; Kreisky will hinauszögern bis hinter die Wahlen. (Ähnlich war es in der „Rundfunkreform“: Benya wollte Bacher gleich feuern, Kreisky ließ sich Zeit; wer recht hatte, ist bei fortdauerndem Medienschlamassel schwer zu entscheiden.)

Zwentendorf, ein Siebenmilliardenprojek, das mit weiteren zwei, drei Milliarden schwanger geht („externes Brennelementbecken“, „Endlagerung in Kristallin, vor allem Granit“: F. Janitschek in diesem Heft), kann kaum Bauruine bleiben. Das wäre ein Fressen für den Wahlkampf, noch viel nahrhafter als UNO-City, „Bauring“, Allgemeines Krankenhaus zusammengenommen.

Zwentendorf muß also irgendwie in Betrieb gehen atomar, sei’s auch nach den Wahlen, oder umgerüstet auf konventionellen Brennstoff (was auch nicht mehr kosten soll als die Milliarden für Zwischen- und Endlagerung).

Kobra gegen Umweltfreunde:
Mit Bundesheerkampfanzug und rotem Barett stand das „Kommando Kobra“ der niederösterreichischen Gendarmerie am 12. Juni 1977 hinter dem Zaun des ersten österreichischen Atomkraftwerks Zwentendorf bereit, um ein eventuelles Eindringen der Demonstranten zu verhindern.

Alles, was an der Anti-KKW-Bewegung halbwegs Hand und Fuß hat, ist zu unterstützen, wenn man von einem ungemischt sozialistischen Standpunkt ausgeht. Jeder Druck zugunsten Umwelt und gegen Atomkraft ist Druck in die richtige Richtung. Heraus aus der gegenwärtigen Konfusion kommen die Sozialdemokraten nur an Hand einer Theorie und Praxis, die sozialistische Perspektive hat, d.h. links tendiert, aber nicht links vom Möglichen:

  • In der kurzen Perspektive stehen die Arbeitsplätze im Vordergrund. Der Zusammenhang zwischen Energiewachstum, Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung ist keineswegs naturgesetzlich und unaufhebbar. Kurzfristig ist aber eine Umrüstung in Energie und Produktion nicht möglich (statt unnötigem Zeug nur das, was wirklich notwendig ist für den einzelnen und für die Gesellschaft). Daher muß man sich mit einem provisorischen Minimum an Kernkraft wahrscheinlich abfinden.
  • In der längeren Perspektive ist es genau umgekehrt. Sozialismus kann mit Kapitalismus nicht das Resultat gemeinsam haben, daß Mensch und Umwelt dauerhaft kaputt gemacht werden.

Die erschreckende Differenz in den Perspektiven hat der Sozialist nicht nur in der Atomfrage vor sich. In der kurzen Perspektive geschieht all das (weil kräftemäßig nicht verhinderbar), was in der längeren Perspektive nicht geschehen soll und darf — ein allgemeines Dilemma, mit dem sozialdemokratische Theorie und Praxis fertig werden muß.

Die kapitalistische „Industriegesellschaft“ produziert den kurzen Segen des ökonomischen, sozialen, demokratischen Fortschritts um den Preis des langen Fluches der Zerstörung von Mensch und Natur. Am kurzen Segen wirkt die Arbeiterbewegung mit, in unausweichlicher Komplizenschaft. Dem langen Fluch verfällt sie dementsprechend und muß ihn doch wieder abschütteln, wenn sie ihren historischen Auftrag erfüllen soll.

Industrialisierung, Wirtschaftswachstum, Energie- und Rohstoffvergeudung, koloniale und neokoloniale Ausbeutung und noch einiges mehr sind unheilig verschlungen und verfilzt mit Vollbeschäftigung, Sozialstaat, „Wohlstand für alle“ — und das kann nicht an einem beliebigen Punkt einfach abgestoppt werden zugunsten noch so richtiger demokratischer, sozialistischer, humaner, umweltschützerischer Grundsätze. Es gibt jenen Punkt auf der Entwicklungslinie, wo ein Umsprung möglich wird auf Abbau von Konsumidiotismus, dementsprechenden Produktionsveränderungen, Energiesparen, „soft technology“ statt der menschen- und naturfressenden Barbarei der großen Industrie — aber dieser Punkt wird festgesetzt nicht vom Träumen, sondern von der ökonomischen und politischen Machbarkeit.

Träumen von einer schöneren Welt ist deswegen nicht unnötig, sondern im Gegenteil lebenswichtig, Kämpfen für eine Welt gemäß solchen Träumen erst recht. Der Umsprung in der Entwicklungslinie kommt nicht schon, wenn er ökonomisch und politisch möglich wird, sondern erst nach langem präzisem Vorausträumen, Durchkämpfen.

Gerade in der Atomfrage geht es um jeden Millimeter, den die Linke an wirklicher Bewegung fertigbringt in Richtung Nachdenken, Vorausdenken in der hierzu höchst unwilligen authentischen Arbeiterbewegung.

5.500 marschieren am 12. Juni nach Zwentendorf

PS.

Unterdessen hat Anton Benya das KKW Zwentendorf besucht, mit Schutzhelm, gesamtem ÖGB-Bundesvorstand, und Befriedigung über dort angetroffene Sicherheit geäußert. Er legte sich anschließend auf unverzügliche Inbetriebnahme eisern (die Reaktorhülle baut der staatliche Stahlgigant VÖEST) fest — mit ein bis zwei Hintertürln: Sicherheit müßte gewährleistet sein; und natürlich werde kein Bundesland die Endlagerungsstätte bei sich akzeptieren. Kreisky gab Benya nach, vernünftig wie immer; er sprach sich prinzipiell für Kernkraft aus. „Prinzipiell“ heißt beim Politiker: „Was ich machen werde, weiß ich noch nicht.“

Zunächst schupfte Kreisky das rauchende KKW-Bomberl ins Parlament; dort, in der hohen Volksvertretung, müsse die Entscheidung fallen. Er hat sich damit eine erstklassige Beobachtungsstation geschaffen: entwickeln sich im Parlament schwedische Verhältnisse, koalieren sich in dieser Frage die bürgerlichen Parteien ÖVP, FPÖ, um Stimmen zu gewinnen und den unschlagbaren Kreisky endlich zu schlagen — dann wird der Unschlagbare nicht so blöd sein und ihnen den Palme machen. Er wird vor den Wahlen blitzschnell eine Anti-KKW-Volte schlagen und dennoch Freund Benya sagen können: ich war an deiner Seite, solange es ging, aber jetzt geht’s nicht mehr. Übergetitelt: Sachentscheidungen.

PPS.

Wie Sachentscheidungen in den Medien aussehen, zeigte die Berichterstattung über die Anti-KKW-Demonstration in Zwentendorf. 5.500 Leute waren dort, sehr gemischt aus Links-Progressiven und Rechts-Konservativen (erstere überwiegend). Kurier, welcher für KKW ist, reduzierte die Zahl auf 4.000 und ernannte alle Demonstranten zu Ultralinken. Kronen-Zeitung, welche gegen KKW ist, genehmigte die Zahl von 5.500 Demonstranten und schrieb: es waren keineswegs nur böse Linke, sondern Leute aus allen, auch besseren Kreisen, sogar aus Wald- und Weinviertel. Wäre die Kronen-Zeitung auf die Roten (Partei, aber auch ÖGB) nicht böse, weil diese ihr keinen Privatsender erlauben, dann würde auch das größte Blatt des Landes nicht gegen die Kernkraft schießen, um die Roten zu ärgern, sondern für KKW, um seinen roten Freunden hilfreich zu sein. So arbeitet die Hegelsche List der Vernunft, wenn auch bei uns.

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