FORVM, No. 85
Januar
1961

Über das Geheimnis der öffentlichen Meinung

Eine sehr gute, sehr tiefe Bemerkung über das geheimnisvolle Phänomen, das man die öffentliche Meinung nennt, steht bei dem Historiker Leopold von Ranke. Sie lautet:

Nicht erst heutzutage hat die öffentliche Meinung Einfluß in der Welt bekommen — in allen Jahrhunderten des neueren Europa hat sie ein wichtiges Lebenselement ausgemacht. Wer möchte sagen, woher sie entspringt, wie sie sich bildet? Wir dürfen sie als das eigentümlichste Produkt unserer Gemeinschaftlichkeit betrachten, als den nächsten Ausdruck der inneren Bewegungen und Umwandelungen des allgemeinen Lebens. Aus geheimen Quellen steigt sie auf und nährt sie sich. Ohne vieler Gründe zu bedürfen, durch unwillkürliche Überzeugung bemächtigt sie sich der Geister.

Das sind Worte, die Licht verbreiten. Und ich finde, daß schon auf der Schule über das Ding und Problem „Öffentliche Meinung“ gesprochen werden sollte. Was mich betrifft: in meiner Jugendzeit gab’s das noch nicht. Erst später, im Ausland, habe ich diese Großmacht kennengelernt, aber dann auch richtig und gründlich. Das mag aus der kleinen Geschichte hervorgehen, die ich jetzt erzählen will.

Nationen und ihre Dienstboten

Während des letzten Krieges lebte ich in der Schweiz. Im Herbst 1942 oder im Frühjahr 1943 — jedenfalls zu einer Zeit, da der schreckliche Zweite Weltkrieg in vollem, mörderischem Gang war — rief mich eines Tages der deutsche Generalkonsul in Zürich an und bat mich, mit ihm und einem Bekannten von ihm aus Deutschland, der gerade nach Zürich gekommen war, zu Mittag zu essen. Als ich das Restaurant betrat, wo wir uns verabredet hatten, stand der Konsul auf und kam mir entgegen. „Mein heutiger Gast“, sagte er zu mir, „ist ein Geheimrat aus dem Auswärtigen Amt in Berlin. Er ist nach Zürich gekommen, um sich in der Welt außerhalb unserer Grenzen mal ein bißchen umzusehen. Er möchte gern mit einem Landsmann zusammenkommen, der weder Pg. noch ein Deutschenfresser ist. Bitte sprechen Sie offen. Suaviter in modo, fortiter in re.“

Dann machte mich mein Gastgeber mit dem Herrn aus Berlin bekannt, und wir nahmen Platz. Herr X. — ich weiß nicht mehr, wie der Mann geheißen hat — schien mir ein rechter Deutscher zu sein. Wir waren noch beim Suppelöffeln, als er mir auch schon sein bekümmertes Herz ausschüttete: die Stimmung, nein, die Stimmung, die in der Schweiz herrsche, die sei ja fürchterlich; und er sei betroffen, er sei aufs äußerste betroffen über diese gänzlich unerwartete Deutschfeindlichkeit.

An dieser aufgeregten Rede wunderte mich nur eins, nämlich, daß Herr X. sich derartig wunderte. Das sagte ich ihm auch. Abgesehen von vielen anderen Vorkommnissen, habe die Regierung Hitler im Verlauf ihrer militärischen Aktionen mehrere kleine Staaten angegriffen und besetzt, z.B. Belgien, Holland, Dänemark und Norwegen. Die Schweiz sei ebenfalls ein kleines Land und mache sich Sorgen um ihre Sicherheit. Denn kein Land der Welt wünsche erobert und von einem andern Land eingesteckt zu werden.

Herr X. wollte diese Erklärung nicht gelten lassen. Er könne sie gar nicht verstehen, sagte er. In Deutschland führe kein Mensch etwas Böses gegen die Schweiz im Schilde. An der schlechten Stimmung sei die Berner Regierung schuld und hauptsächlich die Schweizer Presse mit ihren maßlos antideutschen Artikeln, die das Schweizer Volk in eine beklagenswerte Verstimmung gegen Deutschland trieben.

Die von Herrn X. vertretene Ansicht — und deshalb habe ich diese kleine Geschichte erzählt — war natürlich grundfalsch. Mit Ausnahme einiger weniger Organe schrieb die Schweizer Presse genau das, was die Schweizer dachten und fühlten, nicht umgekehrt. Auch die Berner Regierung handelte durchaus so, wie es dem Verlangen des Volks, das sie gewählt hatte, entsprach. Fast jeder Schweizer hatte damals das Gefühl, daß sein Land und damit auch seine Familie und er selbst bedroht wären, und die Schweizer Zeitungen hätten gar nicht anders schreiben können als sie geschrieben haben.

Über diese Wechselwirkung zwischen öffentlicher Meinung und Regierung äußerte einmal einer meiner Schweizer Freunde gesprächsweise: „Unsere Bundesräte — in Deutschland würde man „Minister“ sagen — sind unsere Dienstboten.“ Für meine deutschen Ohren klang das sehr drastisch; dennoch empfand ich, daß an der Formulierung etwas stimmte. Und ein andrer meiner Schweizer Freunde, der Lyriker und bedeutende Kunstkritiker Max Eichenberger, beschwerte sich einmal über Thomas Mann, der in der wohlmeinenden Absicht, etwas Freundliches über die Schweiz zu sagen, sie als ein „gut regiertes Land“ bezeichnet hatte. Eichenberger schüttelte den Kopf, als er das las, und meinte, diese Bemerkung zeige wieder einmal, daß der deutsche Romandichter noch nicht einmal die Anfangsgründe der Demokratie begriffen habe: die Schweiz sei kein gut regiertes Land, sondern die Schweiz sei ein Land, das sich gut regiere.

Diese minutiöse Unterscheidung wird manchen ebensosehr verwundern, wie der Vergleich von Ministern mit Dienstboten manchen erschreckt haben wird. Tatsächlich handelt es sich aber in beiden Fällen um urdemokratische Formulierungen. Ein Paragraph in der „Erklärung der Menschenrechte“ vom 3. September 1791 lautet:

Alle Menschen sind von Natur frei und unabhängig. Jede Regierungsgewalt gehört allein dem Volke, die Behörden sind weiter nichts als die Bevollmächtigten und Diener desselben und ihm zu jeder Zeit verantwortlich.

Die Menschenrechte — oder, wie es in diesem großartigen Dokument der Französischen Revolution heißt: die „ewigen, unveräußerlichen Rechte der Menschen auf Grund ihrer über der Tierwelt stehenden Natur“ — sind eine Konsequenz jener Rechtsauffassung, die man das Naturrecht nennt. Im 17. und 18. Jahrhundert waren beinahe alle großen deutschen Denker Vertreter der Naturrechtsschule: Pufendorf, Thomasius, Leibniz, Christian Wolff und Immanuel Kant; in England waren es Hobbes und Locke, in Holland Spinoza, in Frankreich Rousseau. Im 19. Jahrhundert hat sich das geändert; und was Deutschland betrifft, möchte ich sagen: leider geändert. Ich zitiere aus einem ausgezeichneten Vortrag, den der Heidelberger Professor Alexander Rüstow vor einigen Monaten in Bern über die Frage „Menschenrechte oder Menschenpflichten?“ gehalten hat:

„Während eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Menschen- und Bürgerrechte in allen abendländischen Kulturstaaten mehr oder weniger international war, trat in Deutschland eine Sonderentwicklung ein. Im Gefolge der Romantik, und dann in sonderbarer Weise unterstützt durch materialistische, positivistische Strömungen ganz andern Charakters, entwickelte sich in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine schroffe Absage an das Naturrecht, eine Absage, die mit Leidenschaft, mit Ressentiment, geradezu mit Haß vollzogen wurde, und die außerdem von der Einbildung getragen war, daß man nun erst die wahre Höhe wissenschaftlicher Einsicht und Objektivität erreicht hätte. Von dieser Höhe blickte man mit Verachtung auf die „überholten“ Naturrechtsvorstellungen herab ... Dieser Historismus, dieser Traditionalismus, dieser Rechtspositivismus wurde für Deutschland so charakteristisch, daß Ernst Troeltsch noch am Beginn dieses Jahrhunderts darin den entscheidenden Unterschied zwischen deutscher und westlicher Geistigkeit sehen konnte.“

Leider, füge ich nochmals hinzu.

Wo kommen die Deutschen vor?

Aber nun erhebe ich eine weitere Frage, eine Bitte um Klärung. Sie lautet: Kennen wir uns überhaupt? Wissen wir, daß wir Deutsche schon im 19. Jahrhundert antiwestlerische Einzelgänger gewesen sind? In den langen Jahren, die ich im Ausland verlebt habe, stellte ich oft Vergleiche an (denn Vergleiche sind für den denkenden Menschen, was für den Physiker oder den Chemiker Experimente sind). Immer wieder habe ich mich gefragt: Wie sind wir eigentlich beschaffen? Wo sind wir eigentlich zu finden? Wo gibt es in unserer Literatur den Mann und die Frau, die wir sind? Ist es der Berliner Kaufmann? Der rheinische Industrielle? Der Arbeiter? Der Landwirt? Der Katholik deutscher Art, der sich so sehr von den Katholiken anderer Länder unterscheidet?

Wenn ein junger Mensch mich fragt: wie sind eigentlich die Franzosen? dann kann ich ihm antworten: Hol dir ein paar Bücher, lies ein paar Romane von Balzac, von Stendhal, von Flaubert, von Marcel Proust. In diesen Büchern kommen Franzosen vor. Du kannst beobachten, wie sie leben, wie sie denken, lieben, hassen, wie sie sich durch das schwierige Dickicht „Leben“ schlagen. Das gleiche gilt für die englische und die amerikanische Literatur und für die russische von Puschkin bis Gorki. Als ich im Jahre 1930 das erste Mal nach Moskau kam, war Rußland seit 13 Jahren ein bolschewistisch regierter Staat. Und ich sah mit Staunen, wie russisch die Russen geblieben waren, wie glänzend und genau etwa ein Tolstoi seine Landsleute dargestellt hatte. Bei uns ist das anders. Sogar Goethe schildert in seinen Dramen und Romanen eher idealisierte Traumgestalten als seine Zeitgenossen, als wirkliche Menschen. Wie sind wir also?

Leidenschaftliche Liebe und Verehrung und das Gegenteil davon, Leidenschaft für Neid und Mißgunst wohnen gemeinsam in unserer Brust. Weder Friedrich der Große noch Goethe noch Bismarck waren so groß, wie wir sie sehen (oder wie wir sie uns immer wieder gegenseitig zeigen). Friedrich hat ein paar Schlachten gewonnen, er hat auch ein paar verloren, außerdem hat er eine beklagenswert schlechte, grausame Ehe geführt. Aber wo wir verehren, da sind wir bereit, viel zu verzeihen, und der Glaube, daß große Männer sich alles erlauben dürften, ist bei uns weit verbreitet; auch der Glaube, daß es auf große Männer ankäme. Ich finde, daß es auf Männer ankommt und auf den männlichen Stolz. Nietzsche sagt: „Was büßt man am schlimmsten? Seine Bescheidenheit; seinen eigensten Bedürfnissen kein Gehör geschenkt zu haben; sich verwechseln; sich niedrig nehmen; die Feinheit des Ohrs für seine Instinkte einbüßen. Dieser Mangel an Ehrerbietung gegen sich rächt sich durch jede Art von Einbuße: Gesundheit, Freundschaft, Wohlgefühl, Stolz, Heiterkeit, Freiheit, Festigkeit, Mut. Man vergibt sich später diesen Mangel an echtem Egoismus nie: man nimmt ihn als Einwand, als Zweifel an einem wirklichen ego.“

Dieser Satz muß aus dem Privaten ins Politische übersetzt werden, damit man erkennt, wie köstlich und nützlich er ist. Es bleibt eine falsche Bescheidenheit, einem großen Mann an und für sich Rechte, Sonderrechte einzuräumen. Die stehen ihm gar nicht zu; ganz abgesehen davon, daß wirklich große Männer bescheiden sind und wirkliche Männer stolz.

Eines Tages ritt Bismarck in Varzin spazieren. Unterwegs begegnete er einem alten Mann, der eine schwere Last Holz schleppte. Bismarck lenkte sein Pferd zur Seite und machte dem Holzarbeiter Platz. Diese höfliche Geste ermutigte den alten Mann, und er rief Bismarck zu: „Du, Graf, du kannst mi en beeten Tabak gewen to min Prim!“ Im nächsten Dorf ging der alte Mann in eine Wirtschaft und erzählte dem Wirt, der nur so staunte, die Geschichte. „Und wat glöwst du woll, he lett mi ne Zigarr nehmen ut sine eigene Zigarrentasch, und Geld gaw he mi ook noch!“ Der Wirt meinte: Du sagen zu dem Grafen, das dürfe er aber nicht. „Dat hett em nischt schadt!“ war die Entgegnung. „He hett mi ook nich seggt, dat ik em anners neumen sull!“

Öffentliche Meinung und Selbsterkenntnis

Welch ein Stolz liegt in der Antwort des alten Mannes: das hat ihm nichts geschadet! Dergleichen ist selten in unserer Literatur und in unserer Geschichtsschreibung. Manchmal fürchte ich, daß wir eine Literatur haben, in der das Volk nicht vorkommt. Hochmut ist ein Charakterdefekt und immer ein Zeichen von geistiger Schwäche. Stolz ist eine edle Eigenschaft.

Für die öffentliche Meinung eines Volkes ist es unerläßlich wichtig, daß man sich kennt, daß das ganze Volk über den Zaun guckt und denkt: aha, so ist der! Alle Klassen sollen das tun und alle Gruppen, nicht nur die reichen Leute oder die Männer, die regieren. Von denen wird bei uns beinahe zu viel gesprochen und geschrieben. Aber zur Kenntnis des eigenen Volkes, zu diesem Wissen darum, wie wir eigentlich sind, gehört auch eine möglichst große Kenntnis der eigenen Geschichte.

Warum hat sich ein Mann wie Ernst Troeltsch vom Naturrecht abgewandt? Was hat ihn zu diesem unheimlichen Schritt bewogen? Ich weiß es nicht. Professor Rüstow sagt, und darin gebe ich ihm völlig recht:

Wie verhängnisvoll und krankhaft diese Entwicklung war, die deutsche Absage an das Naturrecht, das wurde uns in grausamer Weise klar gemacht durch das Dritte Reich. Denn nun sahen wir mit Schrecken, daß diese Preisgabe des Naturrechts uns jeder juristischen, moralischen, weltanschaulichen Waffe beraubt hatte gegenüber rechtloser, brutaler, totalitärer Tyrannei. Diese unter schweren Katastrophen erteilte Lehre hat sich das westdeutsche Volk zu Herzen genommen, und daher setzt bei uns in Deutschland seit 1945 ein neuer Aufschwung, eine Neugeburt des Naturrechts ein ... In der heutigen Situation hat dieses Naturrecht ja nun eine ungeheure praktische Bedeutung gewonnen dadurch, daß jenseits des Eisernen Vorhangs, für ein Drittel der Menschheit bisher, und mit einem Expansionswillen zur Unterwerfung auch noch der übrigen zwei Drittel, jedes Naturrecht geleugnet wird und in der brutalsten Weise unterdrückt.

Geistige Quellen der öffentlichen Meinung

Die Kenntnis der eigenen Geschichte, der jüngsten sowohl wie des Werdegangs der Vergangenheit, gehört also zu den Grundlagen, auf denen eine öffentliche Meinung sich bilden kann. Die öffentliche Meinung der Schweiz hat eine feste und bestimmte Vorstellung von Wilhelm Tell. Bei uns haben noch nicht einmal die Demokraten und Republikaner eine klare Meinung von einem Politiker wie Bismarck. Ich weiß, daß ich ein heißes Eisen anrühre, indem ich diesen Namen nenne, aber ich tu’s mit Fleiß. Ich träume von einer deutschen demokratisch-republikanischen Weltanschauung, die imstande wäre, unsere ganze Geschichte ruhig zu beurteilen.

In einem geistvollen Buch von François Mauriac las ich folgende Bemerkung: „Wir Franzosen streiten uns immer noch über Pascal. Wir streiten uns immer noch über Racine. Das gereicht Frankreich zur Ehre. Es zeigt, daß das Genie in Frankreich weiterlebt.“ In Deutschland streiten wir uns zu wenig über geistige Fragen und über Männer des Geistes. Es herrscht eine Mischung bei uns aus Lethargie, Lobhudelei und Vorsicht. Das ist bedauerlich. Denn die Kämpfe des Geistes gehören zu den Quellen, welche den Strom der öffentlichen Meinung speisen.

Unter den Intellektuellen werde ich wahrscheinlich auf Widerspruch stoßen. Diese Menschengruppe glaubt, um gescheit zu sein, müsse man gebildet sein, ja man müsse sogar gebildet sein, um in der Politik mitreden zu können. Ich bin weiß Gott der letzte, aus dessen Mund man jemals ein Wort gegen Bildung hören wird. Ich lese und denke und arbeite an meinem Schreibtisch, soviel ich nur kann. Und ich habe im Lauf meines Lebens die Erfahrung gemacht, daß es sehr viele und sehr verschiedene Formen von Bildung gibt. Man wolle mich bitte nicht mit meinem berühmten Vorfahren verwechseln. Der war ein Romantiker. Ich bin keiner. Aber ich glaube: ein Schäfer, der tagaus, tagein seine Herde hütet, kann — wenn Gott ihn so geschaffen hat — sehr tiefe Gedanken hegen. Wenn ich an die großartigen, grundgescheiten Männer aus dem Volke denke, die in den Erzählungen von Gorki vorkommen, oder in den Romanen von Dickens, dann erfüllen mich Bewunderung und Neid. Denn in unserer Literatur, ich sagte es schon, kommt das Volk nicht vor.

Denke ich aber an die Intellektuellen, dann muß ich sogleich an all die Irrtümer denken, deren erschrockener und bekümmerter Zeuge ich in meinem Leben geworden bin. Es wird Ende des Jahres 1933 gewesen sein oder Anfang 1934, als ich erleben mußte, daß Mr. Churchill lauthals das Lob Hitlers sang. Wenn Großbritannien, so verkündete er, einmal in einer schlechten Lage sei, dann werde hoffentlich auch ihm ein Hitler erstehen, ein Retter! Winston Churchill hat später über seinen Zeitgenossen aus Braunau anders gedacht, und ich erinnere an jenen Ausspruch nicht, um Churchill zu tadeln, sondern um zu zeigen, daß auch hochstehende Politiker sich irren können. Und noch im Jahre 1938 erklärte die Londoner „Times“, daß die Tschechoslowakei doch keinen Krieg wert sei, und man solle Hitler das Sudetenland geben, dann wäre der Friede gerettet ... Und welcher unter den vielbelesenen intellektuellen Marxisten hat die Wendung vorausgesehen, die Stalin im August 1939 vollführte, als er, der rote Staatschef, sich mit Hitler verbündete?

So weiß auch heute niemand, was Chruschtschew morgen tun wird. Vielleicht weiß er’s selber noch nicht.

Daß unter solchen Umständen, wie ich sie im Vorstehenden ganz unsystematisch umrissen habe, einer funktionierenden öffentlichen Meinung größte Wichtigkeit zukommt, ist klar. Auch kann kein Zweifel daran bestehen, welches die politische Staatsform ist, die der öffentlichen Meinung die besten Ausdrucksmöglichkeiten gewährt und ihre Freiheit am besten schützt: es ist die parlamentarische Demokratie. In der Diktatur, wir haben’s erlebt, bestimmt die Führerschaft einer einzigen Partei, was gesagt werden darf und was gedacht werden soll. In einer Demokratie soll umgekehrt die Regierung es sein, die dem Volk gehorcht. Nun ist aber diese Regierungsart, besonders bei uns, noch recht weit von einem wirklichen Funktionieren entfernt. Es macht eben einen Unterschied aus, ob man ein Demokrat oder ob man bloß für die Demokratie ist. In einem sehr guten Buch, dem „Antimacchiavell“, das Friedrich der Große noch als junger Mann geschrieben hat, steht folgender Satz:

Es scheint mir, daß wenn es eine Regierungsweise gibt, deren Weisheit man in unsern Tagenals Muster aufstellen kann, es die englische ist; dort in England ist das Parlament der Schiedsrichter des Volkes und des Königs, und der König hat alle Macht, gut, aber keine Macht, böse zu handeln.

Wenn man das Wort „König“ durch das Wort „Regierung“ ersetzt, dann haben wir einen ebenso modernen wie zutreffenden Satz vor uns. Ich habe ihn übrigens nicht deshalb zitiert, weil er von einem Mann stammt, der von Beruf König war. Ich habe ihn zitiert, weil es ein guter Satz ist. Und gute Formulierungen sind selten. Man muß sie nehmen, wo man sie findet. Selbst wenn sie aus der Feder eines Königs stammen.

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