FORVM, No. 110
Februar
1963

Unterwegs in USA

Notizen von einer Amerikareise (II)
voriger Teil: Unterwegs in USA

Milwaukee

Philadelphia, Washington und Chicago, meine bisherigen Reisestationen seit New York, kannte ich — wenn auch nur flüchtig — schon von früher her. Jetzt beginnt für mich die eigentliche Entdeckungsfahrt. Jetzt beginnt die Fremde.

Seltsamerweise beginnt sie mit einem genau entgegengesetzten Eindruck: obwohl ich Milwaukee noch nie im Leben gesehen habe, wirkt es aufmich beinahe anheimelnd. Das mag zum Teil daher rühren, daß es erheblich kleiner ist als die oben genannten Städte, 800.000 Einwohner hat das ganze Nest. Aber es kommt noch etwas hinzu. Man merkt der Stadt auch heute noch an, daß sie die große deutsche Einwanderer-Welle aufgefangen hat, die nach 1848 Amerika erreichte; und daß es vor allem die Bierbrauerfamilien waren, die sich hier niederließen, die Blatz und Pabst und Schlitz, deren Namen längst zum millionenschweren Inbegriff amerikanischer Biermarken geworden sind. Nur das Produkt der Familie Anheuser-Busch heißt Budweiser, obwohl die Erzeuger nichts mit Budweis zu tun haben. (Man muß da überhaupt vorsichtig sein. Jener typisch amerikanische Imbiß, der unter der Bezeichnung „Hamburger“ populär geworden ist — ein flaches, faschiertes Beefsteak vom Rost, gewöhnlich in eine aufgeschnittene Semmel verpackt —, hat nichts mit Hamburg zu tun, sondern entsprang dem Erfindungsgeist eines Herrn Hamburger, der aus Frankfurt eingewandert kam. Vor weiteren Schlüssen in bezug auf die fälschlich so genannten „Frankfurter“ wird gewarnt.)

Milwaukee also trägt bis heute die unverkennbaren Züge einer behäbigen deutschen Provinzstadt, obschon das deutsche Element mittlerweile vom polnischen überflügelt wurde und beide zusammen höchstens ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Immerhin spricht oder versteht noch jeder achte Einwohner deutsch, und wie in den meisten größeren Städten des Mittelwestens (aber auch der Ost- und der Westküste) gibt es hier eine deutsche Zeitung, ein deutsches Kino und eine Reihe deutscher Gasthäuser, in denen — Blatz hin, Schlitz her — Dortmunder Bier vom Faß ausgeschenkt wird und eine Jukebox neue Aufnahmen alter Heimatklänge von sich gibt. Einem auch in Deutschland selbst obwaltenden Brauchtum folgend, heißen diese Lokale mit Vorliebe „Wienerwald“, „Grinzing“ oder „Blaue Donau“. Offenbar sehnt man sich nicht nur nach der Heimat, sondern gleich auch nach dem, wonach man sich in der Heimat gesehnt hat. Oder man nimmt’s auf solche Entfernung nicht mehr so genau. Es war mir vergönnt, ein Lokal zu entdecken, das den wahrhaft völkerversöhnenden Namen „Wiener Hofbräu“ führt.

Völlig ergebnislos verliefen hingegen meine Entdeckungsversuche auf bibliophilem Gebiet. Ich hatte immer davon geträumt, daß man in den hiesigen Antiquariaten, achtlos abgelagert von den Nachkommen der Einwanderergeneration, die Originalausgaben deutscher Klassiker und allerlei andre Köstlichkeiten aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts aufstöbern und für einen Pappenstiel erstehen könnte. Nichts da. Oder wenn jemals da, dann längst weg. Tatkräftigere Menschen sind mir zuvorgekommen. Wahrscheinlich für einen Pappenstiel. — Der Hinweis, daß die Dachböden der alten Wohnhäuser noch manche Schätze an Truhen, Möbeln und Beleuchtungskörpern bergen müßten, ist in sachlicher Hinsicht zweifellos fundiert, bedeutet aber für jemanden, dem es nicht um Bodenschätze geht, keinen wirklichen Trost.

Der ihn mir spendet, ist mein Betreuer Ernst Erich Noth, aus Deutschland stammend, seit 1941 in den Vereinigten Staaten, langjähriger Herausgeber der höchst verdienstvollen Vierteljahrszeitschrift „Books Abroad“, jetzt Professor für deutsche Literatur und Leiter des German Department an der Marquette-University. Marquette war ein französischer Mönch, der im 17. Jahrhundert als erster Weißer in diese Gegend kam und hier eine Missionsschule gründete. Es ist also eine katholische Universität. Also eine fortschrittliche. Denn da die Katholiken in Nordamerika eine Minderheit bilden, haben ihre geistigen Stoßrichtungen immer etwas leicht Rebellisches an sich. Der Rektor der Universität, ein erstaunlich Junger Jesuitenpater, äußert im Gespräch Ansichten, mit denen er in Wien bestenfalls als Empfangschefin der Galerie St. Stephan unterkäme. Noth, seinerseits evangelisch, sitzt daneben und registriert schmunzelnd die Schockwirkung der katholischen Äußerungen auf den jüdischen Besucher.

Am nächsten Tag wird mir eine Autofahrt an den Michigansee geboten, der sich hier wieder anders präsentiert als in Chicago, minder betriebsam, beinahe gemütlich — ganz wie es dem Unterschied zwischen den beiden Städten entspricht. Auch die Villenkolonien und die am Ufer verstreuten Ortschaften wirken auf eine zunächst undefinierbare Weise altmodisch. Erst nach und nach komme ich dahinter, daß fast allen Häusern, auch den Neubauten, das Stilgepräge der Zwanzigerjahre anhaftet.

Dank einem im Vorjahr eröffneten Verbindungskanal kann man jetzt am Michigansee einen Dampfer besteigen und direkt bis Bremen fahren. In Chicago, wo man offenbar das Flugzeug für das einzig mögliche Verkehrsmittel hält, hat mir das kein Mensch gesagt. Hier sagen es mir ihrer dreie.

Die „wide open spaces“

Meine nächste Station ist Denver im Staate Colorado, also schon hübsch tief drinnen und nicht mehr dem mittleren Westen zugehörig, sondern dem einstmals wilden. Auch die Namen der umliegenden Staaten — Nebraska, Dakota, Utah — wecken prickelnde Erinnerungen an die Jagdgründe der von Karl May bevorzugten Indianerstämme. Und die Aufschriften auf den Geschäftsschildern, den Gasthäusern und sogar manchen öffentlichen Gebäuden sind in einer absichtsvoll „historischen“ Schnörkelschrift gehalten, wie man sie aus den Saloons der Wildwestfilme kennt.

Aber so weit bin ich noch nicht. Ich muß vorerst aus Milwaukee wieder nach Chicago zurück (45 Minuten im Pendelverkehr, also noch kürzer als die Strecke Philadelphia—New York), und in Chicago nehme ich dann den Zug nach Denver. Kein Flugzeug, sondern einen richtigen Eisenbahnzug, den West-Expreß der „Pacific Railways“. Er fährt 16 Stunden, von 4 Uhr nachmittag bis zum nächsten Morgen um 8, und hört auf den verheißungsvollen Namen „California Zephir“. Ich freue mich sehr auf ihn. Denn die Züge der transkontinentalen Eisenbahnlinien, deren Garnituren oft 3-4 Tage lang unterwegs sind, waren schon in den Vierzigerjahren wahre Gipfelwerke an Luxus, Bequemlichkeit und Dienst am Kunden, und das kann seither nur noch besser geworden sein, da ja die einzelnen Eisenbahngesellschaften heute nicht bloß untereinander konkurrieren, sondern sich gegen die Konkurrenz des Flugzeugs behaupten müssen.

Nun: sie denken gar nicht daran. Sie haben, allem Anschein nach, den Konkurrenzkampf aufgegeben oder sind im Begriffe, das zu tun. Das Flugzeug beherrscht den amerikanischen Verkehr, und die Züge, wenn man so sagen darf, liegen in den letzten solchen. Auch bei späteren Gelegenheiten fand ich sie halbleer und fast nur noch von älteren Leuten frequentiert, die offenbar sehr viel Zeit haben oder eine sehr heftige Abneigung gegen das Fliegen oder beides. Die geräumigen Restaurant-, Bar- und Aussichtswagen (die ich in besonders imposanter Erinnerung hatte) gibt es noch, nur schließt das Restaurant, das ehedem bis Mitternacht offenhielt, jetzt schon um 9, in der Bar kann man zwar länger sitzen, aber nichts mehr bestellen, Heizung und Ventilation funktionieren — da Amerika ein freies Land ist — auf streng individualistischer Grundlage, d.h. wann sie wollen, nicht wann der Fahrgast will, und der freundliche Mohr, der die Schlafabteile verwaltet, wird sofort sehr unfreundlich, als ich ihn bitte, mein Bett erst etwas später herzurichten, weil ich noch einige Schreibarbeiten erledigen möchte. Immerhin unterweist er mich in den Handgriffen, vermittels derer ich mir das Bett selber herrichten kann, und da ich bereits eine gewisse Schulung in besseren Hotels genossen habe, zeige ich mich recht anstellig.

Wie sich im Verlauf der Nacht erweist, läßt der Zug nicht nur viele Wünsche offen, sondern ebensoviele Verbindungstüren, welche quietschen. — Ich hatte mir eigentlich nicht vorgestellt, daß die „wide open spaces“ bis in meinen Schlafwagen hereinreichen würden.

Diese weiten, offenen Räume des amerikanischen Kontinents stehen unzweifelhaft in Wechselbeziehung zum Charakter des Amerikaners und zu einer der liebenswertesten Eigenschaften, durch die er sich vom Europäer, zumal vom Mitteleuropäer und insonderheit vom Zentralösterreicher, unterscheidet: die völlige Neidlosigkeit. Wer so viel Platz hat, braucht niemandem neidig zu sein. Vielleicht ist das noch ein Erbteil aus der Pionierzeit, in der sie das Land erobert und urbar gemacht haben. Geht’s nicht hier, dann geht’s eben anderswo. Ellbogen braucht man gegen die Natur, nicht gegen den Nebenmenschen. Dem hilft man.

Es kennzeichnet den jetzigen Abschnitt meiner Reise, daß ich es weniger mit Städten als mit der unverfälschten Natur zu tun bekomme. Und ich finde, daß sie ganz gut ein paar kleinere Fälschungen vertragen könnte. Seltsam, wie sehr einer europäischen Gebirgslandschaft etwa ein Viadukt, eine Höhenstraße, eine Almhütte zum Vorteil gereicht — und wie nachteilig sich’s auf diese Landschaft hier auswirkt, daß sie so spät und flüchtig mit Menschen in Berührung kam. Sie ist — man kann’s nicht anders ausdrücken — verwahrlost. Niemand kümmert sich um sie, niemand hat das Bedürfnis, sie zu gestalten, kein Verschönerungsverein aus einer nahegelegenen Sommerfrische nimmt sich ihrer an. Denn ach, es gibt keine nahegelegene Sommerfrische. Es gibt überhaupt nichts. Es ist eine riesenhafte Raumverschwendung, basierend auf wechselseitigem Desinteressement.

Das Merkwürdigste jedoch ist die Übergangslosigkeit, mit der sich die Gegend entfaltet. Als ich am Morgen zum Schlafwagenfenster hinaussehe, durchfährt der Zug (sichtlich schon seit geraumer Zeit) eine trostlos hingedehnte Prärie, gelb, grau, stoppelig, ohne die leiseste Menschenspur. Dann, plötzlich, eine unmotiviert hingekleckste, namenlos häßliche Ortschaft. Dann wieder sehr lange nichts. Und beim nächsten Blick aus dem Fenster starren mir bereits die Schneekuppen der Rocky Mountains entgegen. Keine Hügellandschaft dazwischen, nicht einmal eine Steigung. Die Ebene wird direkt vom Hochgebirge abgelöst. Ein Stadtplaner dürfte sich so etwas nicht einfallen lassen. Die Natur darf.

Übrigens ist der Schnee das einzige, was die Rocky Mountains — deren höchste Gipfel 3.000-4.000 m hoch sind — mit europäischen Bergen gemeinsam haben. Sonst sind sie, wie schon der Name „Rocky“ sagt, eitel Felsgestein, zumeist von rötlicher Färbung, mitunter von bizarrer Formgewalt, fast immer tot und fremd. Dann und wann gibt es ein wenig Nadelwald, nirgends Gras oder gar Wiesen (oder gar Almen), nirgends Fußpfade, nur eine hervorragend angelegte Autostraße. Aber die lerne ich erst von Denver aus kennen.

Denver, die Hauptstadt des Staates Colorado, verfügt über 450.000 Einwohner, zwei Universitäten und Professor Hans Kohn, den eminenten, aus Österreich stammenden Historiker, dessen, „Geschichte des Panslawismus“ als Standardwerk auf diesem Gebiete gilt und auf dessen kürzlich erschienene Schrift über Schnitzler, Weininger und Karl Kraus das FORVM bereits hingewiesen hat. Er wohnt draußen auf dem weit hingedehnten, parkartig angelegten Universitäts-Campus am Fuß der Rocky Mountains, was ihm an seiner Prager Wiege gewiß nicht gesungen wurde, erfreut sich höchsten Ansehens, bester Gesundheit und vitalster Schaffenskraft, die er u.a. in den Dienst einer aus namhaften Gelehrten bestehenden „Austrian Historical Society“ stellt, und gibt mir ein Empfehlungsschreiben an deren Vorsitzenden mit, den ich im späteren Verlauf meiner Reise noch besuchen werde (und der, wie nicht anders zu erwarten, in Texas haust).

Außer Prof. Kohn sehe ich in Denver noch die ersten, von durchaus berufstätigen Menschen getragenen Cowboyhüte, ein unversehrt aus Englands viktorianischer Epoche herübergerettetes Hotel namens Brown Palace mit riesenhaften Gemächern, verwinkelten Holztreppen und allerfreundlichstem, märchenhaft funktionierendem Service — wie ich auch sonst feststellen kann, daß die Menschen desto netter werden, je weiter man sich von der Ostküste entfernt. Die Rechnung, daß sie dann an der Westküste am nettesten sein müßten, geht nicht ganz auf. Es sei denn, man rechnete Hollywood nicht zur Westküste und überhaupt nicht zu dieser Welt. Was einiges für sich hätte.

Eine Autofahrt in die Berge beschert mir den Anblick des berühmten „Red Rock Theatre“, einer ins rote Felsgestein eingebauten Freilichtbühne, die sich dank ihrer natürlichen Akustik besonders für Opernaufführungen eignet und alljährlich in der warmen Jahreszeit zum Schauplatz hervorragend beschickter Stagiones wird. Überflüssig zu sagen, daß der amphitheatralische Zuschauerraum einen gewaltigen Rundblick freigibt; und daß sich diesem Rundblick nirgends — in Worten: nirgends — ein Ruhepunkt bietet, der zu freundlichem Verweilen einlädt. Genau dazu bedürfte es nämlich des Menschenwerks, eines Bergkirchleins vielleicht, einer Aussichtswarte, eines an den Hang geschmiegten Gebirgsdorfs, dessen Lichter sich in der Abenddämmerung aneinanderdrängen. Und genau das gibt es nicht. Es sucht der Bruder seine Brüder, findet jedoch keine.

Oder doch. Wenn man etwa 40 Autominuten über das Red Rock Theatre hinausfährt, findet man welche. Dort hat sich zu beiden Seiten der erbarmungslos perfekten Straße tatsächlich eine Art Gebirgsdorf etabliert, namens „Evergreen“, denn es liegt oberhalb einer von Nadelwald bestandenen Schlucht, mit einem ehrlichen Holzsägewerk als Kernzelle, mit ein paar Blockhütten und Weekendhäuschen rundum, dazu ein paar zweistöckige Hotels und ein paar bescheidene Gaststätten und Einkaufsläden. Es ist der Stolz der Hauptstadt von Colorado, daß sie so etwas ganz in der Nähe hat (anderthalb Autostunden sind keine Entfernung). Und es erinnert, sehr von fernher, an eines jener unscheinbaren Dolomitendörfer, die man links liegen läßt, weil rechts sofort etwas Besseres kommt.

Dazu fällt mir ein, daß ich vor etlichen zwanzig Jahren einmal meinen Sommerurlaub in Maine verbracht habe, dem nordöstlichsten der Vereinigten Staaten, hart an der kanadischen Grenze. Auch dort gab es Nadelwälder, sogar bewaldete Hügel gab es dort, und in ihrer Mitte einen „Lake Lucerne“ geheißenen See. Wenn man sich große Mühe gab, mochte man sich beinahe in eine Alpenlandschaft versetzt fühlen. Und als Europäer gab man sich große Mühe ... Wochen später, wieder in New York, traf ich meinen guten Freund H. J., der seine Ferien gleichfalls dort oben verbracht hatte, allerdings zu einem andern Zeitpunkt. „Hat dich dieser Lake Lucerne nicht irgendwie an den Alt-Ausseer See erinnert?“ fragte ich ihn. „Ja“, antwortete er, „wirklich.“ Und fügte nach einer kleinen Weile verträumten Nachdenkens hinzu: „Es ist nur merkwürdig, daß einen der Alt-Ausseer See nie an den Lake Lucerne erinnert hat ...“

Eine Ranch in Wyoming

Das ist jetzt das Wirkliche und Wahre. Jetzt bin ich in Amerika, wo es am amerikanischesten ist.

Vorher mußte ich allerdings noch nach Salt Lake City im Staate Utah, der Mormonenhauptstadt mit ihrem unsäglichen Tempel, der bei Nacht auch noch aufs unsäglichste beleuchtet wird, von innen und außen, ein Albtraum aus gesponnenem Tragant, gegen den die Votivkirche ein Meisterwerk strengster Frühgotik ist. Aber ich möchte die Mormonen unter meinen Lesern nicht kränken, enthalte mich deshalb jeder weiteren Schilderung und eile nach Jackson Hole, Wyoming.

„Jackson Hole“ ist die (inoffizielle) Bezeichnung der ganzen Gegend, wobei „Hole“ wohl eher „Lücke“ als „Loch“ bedeutet und am ehesten wohl das, was auf französisch „poche“ hieße — eine Tasche, ein flach ausgespartes Plateau in den Rocky Mountains, waldreich, triftenreich, Weideland und Bergeshänge, ein Stück Natur von echter, eigenartiger Schönheit, obendrein ein richtiges Skiparadies und das Trainingsquartier der amerikanischen Olympiamannschaften. Jackson ist die wichtigste Ortschaft der Gegend (Einwohnerzahl: 1.100) und hat, seit es von den Skiläufern entdeckt wurde, außer der Autostraße auch noch eine Flugverbindung mit der Außenwelt bekommen — der Flughafen, 2.000 m hoch, dürfte der kleinste und zugleich der landschaftlich schönste in ganz Amerika sein. Die tollkühne Fluggesellschaft, deren bejahrte, zweimotorige Maschinen (Fassungsraum: 24 Personen) zweimal am Tag hier landen, vormittag aus Utah und nachmittag aus Montana, heißt „Frontier Airlines“, was nicht mit Unrecht ein bißchen nach Wildwest klingt, nach Covered Waggon, Sheriff und „Hello, Stranger“. Als ich dem Auto, das mich vom Flughafen abgeholt hat, am Hauptplatz von Jackson entsteige, suche ich unwillkürlich nach der Filmkamera, die da irgendwo postiert sein muß: ringsumher wimmelt es von Edelkomparsen aus einem Westerner, mit riesigen Trapperhüten, enganliegenden, blau verwaschenen Hosen und Revolvern im Gürtel. Doch erweist sich alsbald, daß es durchwegs friedliche Bürger des Ortes sind, die sich ganz normalerweise so tragen. Und sie werden schon wissen, warum. Darauf kann man sich verlassen.

Man kann sich überhaupt darauf verlassen, daß sie wissen, was sie tun. Denn sie leben — ich entdecke es in den kurzen Tagen meines Aufenthaltes mit wachsender Faszination — sie leben so, wie die Natur es ihnen vorschreibt. Trotz Auto und Radio (das Fernsehen hat sich hier noch nicht durchgesetzt und das Telephon ist noch nicht automatisiert) haben sie immer noch den Lebensstil der Pioniere, müssen ihn haben, es geht gar nicht anders. Sie müssen, sowie sie von der großen Autostraße abzweigen, sich ihre Wege selbst freiholzen, müssen die Weideflächen für ihre Pferde- und Rinderherden selbst einzäunen, und wenn sie dann und wann durch eines der dichten, noch nicht durchrodeten Waldgebiete reiten, hängen sie sich das Gewehr über die Schulter, weil sie nie ganz sicher sein können, ob nicht plötzlich und ohne anzuklopfen ein Bär auf sie zukommen wird oder gar ein Büffel, der aus den unweit am Yellowstone River gelegenen Reservationen ausgebrochen ist. Abends besuchen sie einander auf ihren Ranches, die mit der größten Selbstverständlichkeit „Old Trail Ranch“ oder „Dirty Creek Ranch“ heißen, hören ein wenig Musik, tauschen Lektüre-Erfahrungen aus, trinken, ohne ins Saufen zu geraten, reden, ohne ins Schwätzen zu geraten: pflichtgemäß über ihre Farmprobleme, sehr gern über Jagd und Waffen, sehr ungern über Politik (auch jetzt, da die Kuba-Krise noch nachwirkt). Warum Amerika vor irgend etwas oder irgend jemandem Angst haben sollte, wüßten sie beim besten Willen nicht. Und wenn man sie so ansieht, hat man auch gar keine Lust, ihnen zu widersprechen. Es wäre, gottlob, verlorene Mühe.

Die Ranch, auf der ich zu Gast bin, gehört nicht eigentlich zu Jackson, sondern zu einer Ortschaft namens Wilson, Einwohnerzahl, wie einer Tafel am Ortseingang zu entnehmen ist: 35. Gleichfalls am Eingang des Ortes befindet sich „Hungry Jim’s General Store & Bar“. Die Bar nimmt schon am Vormittag ihren ebenso maßvollen wie regelmäßigen Betrieb auf und läßt dem Gast die Wahl zwischen Bier, Gin und Whisky. Eine aus New York zu Besuch gekommene Dame, so erzählt mir mein Begleiter, habe einmal einen Manhattan verlangt und sei daraufhin vom Trapperhutigen hinter der Theke ganz verschreckt gefragt worden: „Madam — what the hell is that?!“ Er hatte von diesem exaltierten Stadtgetränk noch nie etwas gehört.

An dem Tag, da ich diese in jeder Hinsicht beruhigende Gegend verlassen muß, beginnt es zu regnen, die Rocky Mountains sind eingenebelt, die „Frontier Airlines“, die jeglicher Radar-Steuerung entraten, stellen bei solchem Wetter sofort den Verkehr ein, und Zugsverbindungen gibt es nicht. Wer aus Jackson Hole trotzdem hinaus will — und das will ich dringend, denn ich habe am nächsten Tag eine Verabredung in Portland, links oben an der pazifischen Küste —, der muß zusehen, wie er über die einzige Ausfallstraße in eine nebelfreie Gegend gelangt, wo er dann vielleicht ein Flugzeug nach Westen erwischt.

Ich telephoniere mit dem Flughafen. Der freundliche Mensch, der sich dort meldet, ist Verkehrsleiter, Waagemeister, Tankwart, Ticketschalter, Funkturm und Auskunftsbüro in einem (ähnlichen Fällen von Personalunion werde ich auf kleineren Stationen noch mehrmals begegnen). Nach fünf Minuten habe ich eine Liste aller Flugplätze, die ich im Umkreis von 2-3 Autostunden erreichen kann, und aller Flugverbindungen, die für meine Zwecke in Betracht kommen. Eine weitere Viertelstunde später ist ein wortkarger Trapperhut zur Stelle und verlädt mich in seinen Kombiwagen, um den nächsten der angegebenen Flugplätze anzusteuern: Idaho Falls im Staate Idaho (wo die riesigen Erdäpfel gedeihen). Wir fahren schweigsam durch eine ebensolche Gegend, vorbei an idealem Skigelände und an den Winterschutzgebieten der Elche ünd Antilopen, von denen etliche Rudel bereits eingelangt sind. Auf unsrer zweistündigen Fahrt begegnen uns insgesamt 7 Autos, 1 Rasthaus für Skifahrer, 3 mindere Ortschaften und zahlreiche Regengüsse. In Idaho Falls wird uns gesagt, daß die planmäßige Maschine der „West Coast Airlines“ (nicht zu verwechseln mit den „Western Airlines“, einer noch kleineren Linie ohne Küstenlizenz) umgeleitet wurde und in einer weiter nördlich gelegenen Siedlung landen wird, die zu meinem nicht geringen Erstaunen Wallawalla heißt. Wenn wir uns sehr beeilen, und wenn der Nebel sich nicht nach Norden verzieht, dann könnten wir also die gewünschte Verbindung noch ganz knapp in Wallawalla erreichen. Das ist so, als sollte man einem in Schwechat fälligen Flugzeug bis nach Pörtschachpörtschach nachjagen, und das erscheint mir angesichts der Witterungsverhältnisse zu unsicher. Auch mein Trapper schüttelt den Hut, macht kehrt, gibt Gas und hält als nächstes vor dem Bahnhofsgebäude, denn Idaho Falls liegt bereits an einer Bahnstrecke, die allerdings nicht nach Portland führt. Dazu müßte ich nach Pocatello, etwa 100 km weiter südlich, wo in zwei Stunden der Nachtexpreß der Union Pacific durchkommt. Die Zeit drängt. Rasch zurück zum Flugplatz, diesmal zum Schalter der „Western Airlines“. Niemand da. Der Beamte — er ist, wie sein Kollege in Jackson, alles in einer Person — tankt gerade ein Flugzeug auf, was immerhin die Hoffnung gestattet, daß es abfliegen wird. Es fliegt auch wirklich ab, und wirklich nach Pocatello, wo ich dann wirklich den Zug nach Portland erreicht habe, und es war alles in Ordnung.

Hier ziemt sich wohl ein Wort zum Lobe der kleinen Fluggesellschaften, oder doch zur Anerkennung der großen Rolle, die sie spielen. Es sind nämlich nicht die Düsen-Giganten der „United“ oder „American Airlines“, die unwahrscheinlich schnellen, unwahrscheinlich bequemen transkontinentalen Nonstop-Riesen mit ihrem unwahrscheinlich raffinierten Service an Bord und außerhalb — es sind die alten, wackeligen, zweimotorigen Propellerkästen der „Frontier“ und „Western“ und „Southern Airlines“, an denen man das enorme Anwachsen des inneramerikanischen Flugverkehrs und seine Integration in die Alltäglichkeit feststellen kann. Fliegen ist heute auch dem „Hillbilly“, dem einstigen Hinterwäldler, ebenso selbstverständlich, wie dem Schalterbeamten das Auftanken der Maschine selbstverständlich ist oder die Funkverbindung mit dem Piloten (wobei die technische Begabung des Amerikaners entsprechend mitwirkt). Im Durchschnitt fliegen die regelmäßigen Verkehrsmaschinen dieser kleinen Regionallinien etwa 8-10 Ortschaften an, die jeweils 30-40 Flugminuten auseinanderliegen, von Buchungen ist längst keine Rede mehr, die meisten Passagiere kommen ohne Gepäck, und die oft nur von zwei Leuten in Betrieb gehaltenen Landungsplätze haben tatsächlich etwas von den alten Relais-Stationen an sich, wo der Stage Coach die Pferde gewechselt oder Wells Fargo neues Frachtgut geladen hat ...

Franz Molnár, dem Fliegen sein Leben lang aufs innigste abhold, pflegte zu sagen, daß er erst dann fliegen würde, wenn man dem Piloten beim Aussteigen ein Trinkgeld gibt. In Amerika ist es fast schon so weit.

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