FORVM, No. 111
März
1963

Unterwegs in USA

Notizen von einer Amerikareise (III)
voriger Teil: Unterwegs in USA

Portland (Oregon)

Der nordwestlichste Punkt meiner Reise, mit Betonung auf „nord“. Zwischen hier und Kanada, repräsentiert durch die Stadt Vancouver, liegt nur noch Washington. Der Staat Washington, nicht die Stadt. Die Stadt Washington liegt in überhaupt keinem Staat, sondern in einem „Distrikt“, der für sie (in ihrer Eigenschaft als überstaatliche Hauptstadt) eigens geschaffen wurde und „District of Columbia“ heißt. Nicht zu verwechseln mit British Columbia, dem kanadischen Staat, in dem die Stadt Vancouver liegt. Von der gleichnamigen südamerikanischen Republik mit der Hauptstadt Bogotá ganz zu schweigen. Und wer dächte da nicht an Egon Erwin Kischs tragische Schul- und Kindheitsgeschichte „Salzburg ist die Hauptstadt von Salzburg“, die bekanntlich damit endet, daß er von seiner Großmutter „Innsbruck ist die Hauptstadt von Innsbruck, was?! Und Kärnten ist die Hauptstadt von Kärnten?!“ — viele Ohrfeigen bekommt. Man muß eben vorsichtig sein mit Städte- und Ländernamen, besonders in Amerika. Denn es gibt, zu allem Überfluß, auch noch eine Stadt Vancouver im Staate Washington ...

Portland hingegen liegt im Staate Oregon an der pazifischen Küste, zwar nicht direkt an dieser, sondern mit dem Ozean durch das Hundertmeilen-Delta des — Vorsicht! — Columbia River verbunden, aber dennoch die unverkennbaren Merkmale einer Hafenstadt aufweisend. Auch so bedeutende Hafenstädte wie Hamburg oder Bordeaux haben ja noch ein gehöriges Stück Wegs zum offenen Meer. Und Portland ist in der Tat einer der bedeutendsten Handelshäfen des ganzen nordamerikanischen Kontinents. Daß Oregons Hauptprodukte — Holz, Getreide, Früchte — von hier verschifft werden, ist klar. Daß Oregons Hauptprobleme in den Handelsbeziehurigen zu seinen Exportländern liegen, entnehme ich den Aussagen meiner hiesigen Gesprächspartner. Kanada und Japan werden in diesen Gesprächen viel öfter erwähnt als Kuba und Berlin. Kanada und Japan liegen einer sehr großen Anzahl von Amerikanern viel näher und sind ihnen viel wichtiger. Natürlich muß man nicht erst nach Portland (Oregon) fahren, um das zu wissen. Aber wenn man schon in Portland (Oregon) ist, weiß man’s nicht nur, sondern man merkt’s. Und das macht einen gar nicht so unerheblichen, einen sehr klaren und selbstverständlichen Unterschied aus. Manchen Europäern — solchen zumal, die mit Kennedys Europapolitik keine Geduld haben — täte es vielleicht ganz gut, diesen Unterschied einmal an Ort und Stelle wahrzunehmen. Sie würden staunen über das Verständnis, das man in Portland (Oregon) dem fernen Europa und seinen Sorgen entgegenbringt.

San Francisco

So etwas passiert nur ganz selten: daß eine berühmt schöne Stadt in Wirklichkeit noch schöner ist, als man sie sich vorgestellt hat (etwas Ähnliches wird mir erst wieder in Rio de Janeiro zustoßen).

Die schönste Stadt der Vereinigten Staaten zu sein, wäre an sich noch keine Leistung. Denn die großen amerikanischen Städte sind nicht schön, und was an ihnen schön ist, also sich einer ästhetischen Wertung überhaupt anbietet, ist wiederum nicht typisch: gerade in ihren eindrucksvollsten, in ihren imposantesten Partien lassen sie sich miteinander verwechseln. (Ich habe auf dieser ganzen Reise zu keinem einzigen Hotelfenster hinausgeschaut, ohne mich verdutzt zu fragen, wieso ich denn schon wieder hier bin; aber ich war woanders.) San Francisco hingegen ist von einer absoluten, unverwechselbaren Schönheit, man möchte fast sagen: unvergleichlich schön. Wer seine Weitgereistheit hervorkehren will — und einer, dessen weite Reisen nicht immer freiwillig erfolgt sind, dürfte das eigentlich tun — wird San Francisco am ehesten mit Lissabon vergleichen. Daher rührt wohl auch der Eindruck einer „europäischen“ Stadt, für den sich im übrigen nur wenig Beweismaterial beibringen ließe. Im Gegenteil spürt man hier auf Schritt und Tritt die Nähe der pazifischen Welt (und Amerika als mit dazugehörig). Das beginnt schon bei der Landung am Flughafen, beim Vorbeigleiten an den mit fremdartigen Schriftzeichen bedeckten Maschinen, die man sich dann von Sachkundigen als indisch oder japanisch erklären läßt, indessen aus dem Lautsprecher die Flugziele Hawaii, Manila, Tokio und Karachi ebenso häufig zu hören sind wie in Schwechat die Flugziele München, Frankfurt und Zürich. (Die sich wiederum ein Besucher aus Taipeh sehr aufregend vorstellen würde. Was weiß ein Fremder.)

Nun, Flughäfen haben international zu sein, dazu sind sie ja da. Aber auch San Francisco selbst ist es im höchsten Maß, in höherem als die Achtmillionenstadt New York. Es kommt mir mit seiner knappen Million Einwohner sogar weltstädtischer vor (vielleicht weil die Vielfalt der Farben und Völkerschaften sich gerade in einer Einmillionenstadt stärker auswirkt). Und es ist — ich habe trotz sorgfältiger Bemühung keinen besseren Ausdruck gefunden — eleganter. In der Totale des Panoramas, in der Kombination aus Hügeln und Meer zu beiden Seiten, im Straßenbild, in den einzelnen Straßenzügen, und von den Menschen her, die sie bevölkern. Eine elegante, polyglotte, anmutig zwischen zwei Meeresbuchten gelegene Weltstadt.

Keine Stadt für Fußgänger. Der Hügel sind zu viele und zu steile. Ihrer Bewältigung dienen die kleinen, altmodischen Cable-Cars, deren schräg offene Waggons, von einem sinnreichen Drahtseilmechanismus betrieben, unter ungeheurem Gebimmel hügelauf und hügelab sausen und aus denen in dicken Trauben die Neger und Chinesen und Mädchen und Matrosen heraushängen, lachend, lärmend, sich selbst und den Beschauern zur Freude und niemandem zum Ärger. Es ist — man sollte es nicht für möglich halten — ein Lärm, der einem nicht auf die Nerven geht, weil er etwas so herrlich Wohlgelauntes an sich hat. San Francisco ist, nebst allem andern was es sonst noch ist, eine lustige Stadt.

Und obendrein die größte chinesische Stadt außerhalb Chinas. Kein bloßes „Chinesenviertel“ wie in anderen amerikanischen Städten auch. Ein eigener, in sich geschlossener Stadtteil, mit ausschließlich chinesischen Aufschriften und Geschäftsschildern, mit einem chinesischen Telephonbuch, da und dort mit Spuren pseudo-chinesischer Architektur; es sind zugleich die einzigen Spuren einer auf Fremdenverkehr gerichteten Absichtlichkeit.

Anders steht es in dieser Hinsicht um „Fishermen’s Wharf“, den „Kai der Fischerleute“ unten in der kleineren der beiden Buchten, der seine malerische Attraktivität sehr bewußt zur Schau stellt, mit Fischkuttern und Segelbooten und Jachten, mit Läden und Buden voller Souvenir-Greuel, und reihenweise mit den köstlichsten Fischrestaurants, vor deren jedem noch eigens eine Art Schwemme etabliert ist, wo man sich aus großen Körben alle möglichen Krustentiere aussuchen kann. Wenn man bei der Zubereitung nicht allzu genau hinschaut, kann man sie auch gleich an der frischen, sehr frischen Luft verzehren. Drinnen im Lokal schmecken sie teurer. Besonders die Krabben.

Im übrigen schwingt sich die amerikanische Küche — die bekanntlich das beste schlechte Essen der Welt hervorbringt — in San Francisco zu beachtlichen Höhen auf, offenbar angespornt durch die reiche Auswahl an exotischen Gourmet-Lokalen.

Kundige Freunde führten mich in ein indisches Restaurant, das nicht nur aus kulinarischen Gründen zu den Denkwürdigkeiten meiner Reise gehört. Die Besitzer, ein britisches Ex-Kolonial-Ehepaar, sehen hier selbst nach dem Rechten und haben (sofern man ihrer alkoholfrohen Miitteilsamkeit trauen darf) ihre gesamte einstige Dienerschaft aus Indien mitgebracht, um sie hier als Köche und Kellner einzusetzen. Sei dem wie immer: die dunklen Gestalten trugen ungeahnte Köstlichkeiten herbei, und der ganze Betrieb in den engen, spelunkenhaft schlecht beleuchteten Gastzimmern ging mit einer so unauffälligen, lautlosen Perfektion vor sich, daß man schier zu träumen meinte und nur durch die scharf gewürzten Zutaten einzelner Speisen wieder in die Wirklichkeit zurückbeordert wurde. Auch die Rechnung war, da wir schon von Würze reden, gepfeffert.

Auf dem höchsten der vielen Hügel steht das berühmte Mark-Hopkins-Hotel, turmhoch und mit einer gläsernen Terrassen-Bar noch extra obendrauf. Der Rundblick, der sich hier besonders zur Dämmerstunde bietet, hat nicht seinesgleichen, auch in Chicago nicht. Dort ist’s ja doch nur der Michigansee, hier hingegen das Meer, und unten im Hafen sind noch die Konturen der Ozeandampfer sichtbar. Allmählich gehen in der Fischerbucht die bunten Barken-Lampions an und in den Wolkenkratzern der City die Neonlichter, zur nächsten, glitzernd beleuchteten Halbinsel spannt sich die unglaublich elegant hingeschwungene „Golden Gate Bridge“, und keine Minute vergeht, in der nicht vom Flugplatz her — oder zu ihm hin — mindestens zwei Flugzeuge den abendlichen Himmel durchkreuzen ... Es ist schon etwas recht Einmaliges, das Ganze, eine rechte Parade von Technik und Natur, einander fördernd zu doppeltem Effekt: denn ohne die vielen Hügel wären die Wolkenkratzer nicht halb so schön, und ohne das Meer die Brücken nicht, und erst recht nicht die Flugzeuge ohne den Himmel, der sich nun schon ganz blaßviolett über das Märchenpanorama wölbt.

Nächtlicher Bummel durch die Market Street, dieses seltsame Kaleidoskop aus Mariahilfer Straße und Reeperbahn: große Warenhäuser, dichter Autoverkehr und hastende Menschenmengen bei Tag, Musik- und Varietepaläste, dampfende Gaststätten und grell aufgemachte Tanzlokale bei Nacht. Auch die Menschen hasten jetzt nicht mehr in zusammengepreßten Rudeln dahin, sondern in lockeren Gruppen. Manche Mädchen wirken sogar einzelweise locker (ein rarer Anblick in den Vereinigten Staaten). Die letzten Kinovorstellungen beginnen lang nach Mitternacht. Wann die letzte Gaststätte schließt, entzieht sich trotz nächtlichem Forschungseifer meiner Kenntnis. Dafür wurde ich zufälliger Ohrenzeuge, wie sich zwei brasilianische Matrosen erkundigten, wo man denn etwas wirklich Gutes zu essen bekäme, und zwar erkundigten sie sich bei einem baumlangen Negerpolizisten, der sie mit so beredten Worten in ein so nahe gelegenes Lokal dirigierte, daß ich nicht umhin konnte, mich ihnen anzuschließen.

Es war ein koscheres Restaurant. Und als wäre das noch nicht Pointe genug, wurden wir von einem chinesischen Kellner bedient. Den beiden Mulatten hat es vorzüglich gemundet. (Mir auch, aber das ist keine Kunst.)

Zur Umgebung von San Francisco gehören zwei der bedeutendsten Universitäten des Landes: südwärts und noch auf der selben Landzunge, etwa 45 Autominuten entfernt, die Stanford University von Palo Alto, Wirkungsstätte, u.a., des nunmehr emeritierten österreichischen Völkerrechtlers Hans Kelsen, Schöpfers der ersten republikanischen Verfassung Österreichs (vgl. FORVM IX/107); und drüben am östlichen Ufer der Bucht, über die gewaltige, 14 km lange Oakland Bay Bridge in einer halben Stunde erreichbar, die zu Berkeley gehörige University of California. Dort lehrt Heinz Politzer, gleichfalls u.a. und gleichfalls österreichischer Herkunft, Dichter, Essayist und Kafka-Experte, langjähriger Mitarbeiter des FORVM (und nicht nur dieserhalb zum gleichen hochangesehenen Literatur-Rang gehörig wie der in Chicago tätige Erich Heller). Sein Buch „Franz Kafka, Parable and Paradox“, aus dem in den Heften IX/106 und 107 etliches vorabgedruckt war, ist mittlerweile in Amerika erschienen und von der dortigen Kritik mit seltener Einmütigkeit gepriesen worden. „Time Magazine“ nannte es „die eindringlichste und klarste Studie über Kafka, die bisher geschrieben wurde“ („the most trenchant and lucid story of Kafka yet written“).Vielleicht erinnert man sich, daß Politzer ein ganzes Ferienjahr — 1959/60 — in Wien verbracht hat; und daß er hier eine Reihe vielbeachteter Vorträge hielt; und daß keine der hiezu berufenen Stellen auch nur die leisesten Anstalten traf, den gebürtigen Wiener an Wien zu binden. „Braucht njicht — schittet weg“, hieß es vorzeiten von dem in seinem Reichtum erstickenden polnischen Schlachzizen, nachdem er die Milch aus seinen zahllosen Kühen gemolken hatte.

Dem Umstand, daß Politzer nun schon jahrelang in San Francisco lebt und folglich ein idealer Fremdenführer ist, verdanke ich die Kenntnis eines der kuriosesten Lokale der westlichen Halbkugel. Es heißt „Enrico’s Opera Cafe“ und ist genau das: eine Kombination von Kaffeehaus und Oper. Und Enrico, natürlich. Denn wer anders als ein Italiener ließe sich so etwas einfallen. Ein schmuckloser, langgestreckter Saal, runde Marmortische, an der Längsseite ein Podium mit einem Klavier und vier Holzsesseln daneben. Als wir eintreten, ist der Pianist — der auch noch ganz genau so aussieht und spielt, wie man sich’s an solcher Stätte wünscht: wehende Mähne, weit ausladende Gesten, ungeheure Hingabe, gerade daß er keinen Anlauf zum Pedaltreten nimmt — mit der Exekution eines „Don Pasquale“-Potpourris beschäftigt. Nachdem er unter prasselndem Beifall geendet hat, erhebt sich von einem der Sessel einer der Sänger und sagt die nächste Nummer an: ein Duett aus „Rigoletto“. Alle vier Gesangskräfte, zwei weibliche, zwei männliche (Sopran, Alt, Tenor, Bariton) kommen während der folgenden halben Stunde zu schöner Geltung, abwechselnd in Soli und Ensembles. Alle vier sind jung und von angenehmem Äußeren, nicht etwa ausgesungene Provinzgrößen oder arme Narren. Sie singen, weil ihnen Gesang gegeben ist und weil es sie freut. Das Publikum — größtenteils Italiener, aber auch Farbige — lauscht mäuschenstill und freut sich nicht minder. In halbstündigen Intervallen wird abgesammelt. Dies und die Konsumationen (Espresso, Rotwein, italienische Bäckereien) sind die Einnahmsquellen für Wirt und Musiker. Enrico’s Opera Cafe. In San Francisco. Der einzigen Stadt außer New York, die über eine ernstzunehmende Oper verfügt. Im Zweifelsfall — nämlich wenn eines der beiden Institute sperren müßte — bin ich für Enrico.

Hollywood

Eine Stadt, die es bekanntlich nicht gibt. Ein Stadtteil von Los Angeles heißt so, einer von vielen Stadtteilen dieser flächenmäßig größten amerikanischen Stadt, die mit ihren mehr als drei Millionen Einwohnern auch bevölkerungsmäßig nur von New York und Chicago übertroffen wird und die noch immer durch den witzig abgewandelten Pirandello-Titel „Six Suburbs in Search ofa City“ („Sechs Vororte suchen eine Stadt“) am besten gekennzeichnet ist.

Aber selbst der „Hollywood“ geheißene Stadtteil hat schon seit Jahrzehnten mit dem, was man sich auf der ganzen Welt unter „Hollywood“ vorstellt, kaum noch etwas zu tun. Die Ateliers der großen Filmgesellschaften sind längst in andre, weiter draußen gelegene Stadtteile übersiedelt, die Fox nach Westwood, die Metro nach Culver City, Warners und Columbia nach Burbank. Die Universal, das waren noch Zeiten, hat damals sogar einen eigenen Stadtteil gegründet, der folgerichtig Universal City heißt. Im Hollywood geheißenen liegen nur noch die Paramount Studios, direkt neben einem Friedhof. Die sind wenigstens ehrlich.

Denn ach, auch die Friedhöfe von Universal und Culver City, von Westwood und Burbank könnten sinngemäß an die dort gelegenen Filmateliers angrenzen. Denn ach, selbst das Hollywood, das es nie gegeben hat, ist tot.

Das bedeutet nicht, daß in Hollywood nicht mehr gefilmt wird. Es wird. Aber ohne Format und Kontinuität. Vorbei die Zeiten, da Produzenten, Regisseure, Schauspieler und Schriftsteller rudelweise und durch langfristige Verträge an bestimmte Filmgesellschaften gebunden waren, da diese Gesellschaften — eben nach Maßgabe der vertragsgebundenen Rudel — ihre großen, mittleren und kleinen Projekte planten und durchführten, da es innerhalb der einzelnen Firmen mächtige Produktionsgruppen gab und nur die allererfolgreichsten sich dann und wann abspalteten, um selbständig zu produzieren. Diese Selbständigkeit ist heute zur Regel und Voraussetzung der Produktion geworden. Auch sitzen die großen Produzenten nicht in Hollywood, sondern in New York, und drehen weder da noch dort, sondern in Europa, wo es schöner und billiger ist. Was in Hollywood gedreht wird, hat etwas Nebensächliches und Improvisiertes an sich. Es kommt nicht darauf an und es hängt nichts davon ab.

Aber die Filmgelände sind immer noch Filmgelände, die Tonhallen immer noch Tonhallen, die Firmen haben immer noch ihren Sitz in Hollywood und die Agenten immer noch ihre Büros, und weil man das alles doch nicht vermodern und verfallen lassen will, wird immer noch ein Schein- und Pseudobetrieb aufrechterhalten, zum Teil sogar von den selben Leuten wie ehedem. Immer unabweislicher drängt der Vergleich mit den „ghost towns“ sich auf, den verlassenen Geisterstädten aus der Goldgräberzeit — nur daß hier in Hollywood auch die Geister noch herumstehen, vor der morschen Hotelfassade und an der Theke des mangelhaft beleuchteten Saloons, unter dessen knallig hellen Lampen sich’s einstmals lärmend schob und drängte, auch der Sheriff ist noch da und der Bösewicht, aber sie haben nichts mehr miteinander auszutragen, sie sind nur noch da, und das macht diese ehemalige Goldgräbersiedlung noch deprimierender.

Hier also habe ich immerhin fünf von meinen zehn amerikanischen Jahren verbracht — oder war’s doch nicht hier? War’s denn nicht wirklich ein andres Hollywood? „Hollywood“, so schrieb damals Alfred Polgar, „ist ein Paradies, über dessen Eingang die Worte stehen: „Ihr, die ihr eintretet, laßt alle Hoffnung fahren!“ Das mit dem Paradies bezog sich natürlich auf die Landschaft, auf das betörend sanfte Klima, auf den ewig blauen Himmel über der schmalen Traumkulisse, die sich da zwischen Wüstensand und Meeresstrand hinzog. Auch damit — nämlich mit dem Klima und dem blauen Himmel — ist es vorbei. Seit Los Angeles von Schwerindustrie und Fabrikschloten strotzt, gibt es dort einen „smog“ geheißenen Nebel, der sich oft tagelang über die Gegend legt, graugelb, klebrig, atembeklemmend, abscheulich. Um vor ihm gesichert zu sein, muß man sich bis ins San Fernando Valley verziehen, das eine gute Autostunde vom nicht vorhandenen Stadtzentrum entfernt ist. (Dort, in Tujunga, wohnt, komponiert und schreibt — fürs FORVM immer noch viel zu selten — Ernst Krenek.)

Aber wenigstens Stadt- und Landschaftsbild sind unverändert geblieben, so daß ich mich schon nach wenigen Stunden wieder auskenne und im hurtig entlehnten Auto alsbald den Weg zu den alten Freunden finde. Es sind ihrer nicht mehr viele, und wer weiß, was ihre Namen dem heutigen FORVM-Leser noch bedeuten mögen: George Fröschel, lang in Berlin ansässig gewesener Wiener Romancier und Dramatiker („Der wunderliche Hochstapler“, „Gerechtigkeit für Holubek“, „Richter ohne Gnade“), seit 1935 in Hollywood und als Drehbuchautor an vielen großen Metro-Erfolgen beteiligt; oder Gina Kaus, der man zur Zeit, als sie mit Vicky Baum in einem Atem genannt wurde, damit noch unrecht tat („Die Verliebten“, „Katharina die Große“, „Der Teufel nebenan“) und die mit mir so manchen langen Diskussionsabend am Tisch von Karl Kraus verbracht hat; oder der Psychiater Dr. Friedrich Hacker, Leiter der nach ihm benannten Klinik, den Lesern dieser Zeitschrift durch einen Aufsatz über Sigmund Freud (,„Psychologia Austriaca“, FORVM V/50) bekanntgeworden, häufig in Wien zu Besuch und von den einschlägigen Stellen womöglich noch heftiger umworben als der vorhin erwähnte Heinz Politzer. Auch Dr. Guggenheim lebt hier, einstmals (und neuerdings wieder) an leitender Stelle der „Deutschen Buchgemeinschaft“ tätig, heroischer Herausgeber der mitten im Krieg erschienenen „Drucke der Pazifischen Presse“, einer durch Subskription gedeckten Reihe von Erstausgaben aus den Manuskripten exilierter deutscher Autoren, in der auch meine Novelle „Mein ist die Rache“ erschien, sozusagen als Anhängsel an die Produkte der Prominenten: Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Bruno Frank, Leonhard Frank, Thomas Mann, Alfred Neumann, Franz Werfel. Sie alle lebten damals in Hollywood. Sie alle leben nicht mehr. Die „Drucke der Pazifischen Presse“, Zeugnisse eines ungebrochenen Glaubens an das Wort, tauchen vereinzelt als bibliophile Rarität bei Auktionen auf und erzielen Preise, die um ein Vielfaches über dem damaligen Subskriptionspreis der kompletten Serie liegen.

Besuch bei der Metro-Goldwyn. Es ist Mittagszeit. In der Nobelkantine, dort, wo früher die großen Stars mit ihren großen Regisseuren große Pause machten (und wo unsereins nur in Begleitung Erwachsener hineindurfte), sind knappe fünf Tische besetzt. Von den rund 30 Aufnahmehallen sind zwei in Betrieb. Und im ganzen weitgedehnten Atelier begegne ich nur einem einzigen Ungarn. Das ist das Ende. — Übrigens wird in den beiden Aufnahmehallen nicht etwa für die Metro-Goldwyn gearbeitet, sondern fürs Fernsehen. Das scheint eine Haupteinnahmsquelle der Filmgesellschaften zu sein: daß sie ihre Ateliers samt Personal und Zubehör an Fernsehproduktionen vermieten. Außerdem erzeugen sie Schallplatten, verlegen Schlagermusik, beteiligen sich an Theatertourneen und machen sonst noch alles mögliche, manchmal sogar Filme.

Besuch bei Warner Brothers, wo ich ein Jahr lang unter Vertrag stand. Damals mußte man, um zum „Writers’ Building“ zu gelangen — einem einstöckigen, schönbrunngelb gestrichenen Gebäude, in dem ausschließlich Drehbuchschreiber gehalten wurden —, durch einen eigenen glas- und stahlportaligen Eingang hindurch und mußte ein parkartiges, palmengesäumtes Zugangsterrain überqueren. Ich konnte das niemals tun, ohne mich durch einen verstohlenen Blick zu vergewissern, ob sich oben in den Palmen nicht vielleicht ein paar Produzenten hutschten. Im Zimmer neben mir saß der stille, noble Alfred Neumann, hatte ebensowenig zu tun wie ich und bezog dafür die selbe Minimalgage. Die Verfilmung seines Romans „Der Patriot“ — mit Lubitsch als Regisseur und Jannings in der Hauptrolle — war einer der ersten großen Tonfilme gewesen und hatte geradezu Tonfilmgeschichte gemacht. Aber das entdeckten die Gebrüder Warner erst lang nach Ablauf seines Vertrags. Sie hatten sich nicht vorstellen können, daß dieser Alfred Neumann mit jenem, daß der Empfänger einer Minimalgage mit dem Autor eines Welterfolgs identisch wäre ...

Als ich jetzt wieder vor dem Stahl- und Glasportal stehe, erinnere ich mich, auf welche Weise ich damals vom Ablauf meines eigenen Vertrags erfuhr. Die lächelnde junge Dame mit der gepflegten Hornbrille, die von ihrem Glasverschlag aus die morgendlichen Eingänge kontrollierte und mit freundlichem „good morning“ auf einen elektrischen Knopf drückte, um das sukzessive Aufspringen der verschiedenen Türen ins Werk zu setzen, sagte eines guten Morgens nicht mehr „good morning“, sondern steckte den Kopf zum Verschlag heraus und fragte mich, mit wem ich verabredet sei. Ich war mit niemandem verabredet. Ich war entlassen. Schier zwanzig Jahre ist es her. O tempora, o — wie man hier füglich hinzusetzen darf — mores.

Texas

Genauer: Austin. Die Hauptstadt, aber keineswegs die größte Stadt des Staates Texas. Das ist in den meisten amerikanischen Staaten so, wahrscheinlich um die Schulkinder zu peinigen und die Fremden zu verwirren. Die Hauptstadt des Staates New York ist nicht New York (es scheint da, vgl. Portland, rechtzeitig ein Protest von Egon Erwin Kischs Großmutter eingelaufen zu sein), sondern Albany. Die Hauptstadt von Illinois ist nicht Chicago, sondern Springfield. Die Hauptstadt von Kalifornien ist weder San Francisco noch Los Angeles, sondern — was nicht mit Unrecht einem Fluchwort ähnelt — Sacramento. Und die Hauptstadt von Texas ist also Austin, obwohl es nur knapp 200.000 Einwohner hat, gegen Houston mit mehr als einer Million und Dallas mit 800.000. Aber es hat eine Universität, die als eine der modernsten Amerikas gilt und die mein eigentliches Reiseziel ist.

In Los Angeles vertraue ich mich noch einmal der Eisenbahn an, wenn auch nur für die halbe Strecke (die ganze würde drei Tage in Anspruch nehmen). Ich fahre bis El Paso, wo es gute Flug-Anschlüsse gibt. Die Fahrt geht durch eine noch gewaltigere Raumverschwendung als oben in Nebraska oder Colorado, lange Strecken sogar durch Wüste, die aber keineswegs reizlos ist, zumal in Arizona allerlei seltsam geformte Kakteen und Schlinggewächse hervorbringt und in der Abenddämmerung eine merkwürdig herbe Poesie entwickelt. Die Abenddämmerung ist rasch vorbei. Die Wüste nicht.

El Paso, wo ich am Nachmittag des nächsten Tages ankomme, liegt an der Grenze zwischen Texas und Mexiko und ist eine der zahlreichen Grenz-Doppelstädte, die eigentlich eine einzige Stadt sind und nur durch die Staatsgrenze in einen amerikanischen und einen mexikanischen Stadtteil zerfallen. Manche dieser Doppelstädte machen sich den Spaß, das schon in ihren Namen kundzutun: an der Grenze zwischen Kalifornien und Mexiko gibt es eine Stadt, die auf der einen Seite Calexico heißt und auf der andern Mexicali. Andre heißen auf beiden Seiten gleich, wie Nogales oder Laredo. Und wenn auf der amerikanischen Seite das spanische Element überwiegt, führt — wie das in El Paso der Fall ist — auch der amerikanische Stadtteil einen spanischen Namen. Der mexikanische heißt Ciudad Juarez. Die Grenzlinie bildet der Rio Grande, der hier alles eher als grande ist und den man mühelos durchwaten kann. Aber das hat niemand nötig, weder die Mexikaner, denen die Supermarkets von El Paso als lockende Einkaufsquellen erscheinen, noch die Amerikaner, die das Nachtleben von Ciudad Juarez über das heimische stellen. Wahrscheinlich haben beide recht.

Auf dem Hauptplatz von EI Paso steht ein neu erbautes, 20 Stock hohes Hilton-Hotel. Auf dem Hauptplatz von Ciudad Juarez steht eine 300 Jahre alte Kirche im schönsten spanischen Barock. Es fällt einem nicht ganz leicht, sich in dieser Alternative für den Fortschritt und gegen den Kolonial-Imperialismus zu entscheiden.

Nach fünf Flugstunden (mit einmal Umsteigen) Ankunft in Austin. Vom Flaggenmast des Flughafens wehen zwei Fahnen: die amerikanische mit ihren nunmehr 50 Sternen und die Staatsflagge von Texas mit dem ihrigen einen. Während der Autofahrt ins Hotel zähle ich ein gutes Dutzend Reklametafeln (Öl, Banken, Landwirtschaft), auf denen die Umrisse des Staates Texas prangen. Über dem Regierungsgebäude, das dem Capitol der Bundeshauptstadt Washington nachgebildet ist, leuchtet abermals der „einsame Stern“, den Texas im Wappen und im Kosenamen führt: „The Lone Star State“. Von 1836 bis 1841 war es ein selbständiger Staat und hieß „Republic of Texas“. Die Erinnerung an dieses glorreiche Jahrfünft schwelt und brodelt bis heute, nicht direkt als Irredenta, aber doch als eine unverkennbare Tendenz zur Eigenständigkeit, wie sie sich auch im heiligen Land Tirol äußert, etwa durch die roten Ortstafeln, die an den Autostraßen manchmal hinter und manchmal sogar vor den blauen bundesamtlichen emporragen: Auch die bodenständige Sprache ist für den Fremden ähnlich schwer zu verstehen. Ja, Texas ist das Tirol Amerikas. Nur daß es rund sechzigmal so groß ist, oder größer als Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland zusammen. Bis vor wenigen Jahren war es der größte Staat der amerikanischen Union, was die Texaner denn auch jedermann fühlen ließen. Sie können sich noch immer nicht damit abfinden, daß Alaska, 1959 in die Vereinigten Staaten eingegliedert, ihnen bei weitem den Rang abgelaufen hat, und zahlreich sind die hämischen Anekdoten, die dieserhalb herumgeboten werden. Die schönste handelt von einem Mann aus Texas, der mit einem Mann aus Alaska in Streit gerät, weil er nicht wahrhaben will, daß Texas nur noch der zweitgrößte Staat Amerikas ist, und dem sein nördlicher Gesprächspartner schließlich sagt: „Wenn Sie nicht sofort ruhig sind, teilen wir Alaska in zwei Hälften — und dann ist Texas nur noch der drittgrößte Staat!“

Daß Alaska keine übermäßige Bevölkerungsdichte aufweist, ist allgemein bekannt und leicht erklärlich. Um aber den geneigten Lesern, Tirolern wie Nichttirolern, einen Begriff zu geben, was ich mit „Raumverschwendung“ meine: ganz Texas hat zehn Millionen Einwohner.

Wer, so frage ich, wer hätte gedacht, daß hier im Staate Texas, an der Universität der Stadt Austin, unter der Herausgeberschaft von Professor R. John Rath, dem Leiter des „Department of History“ daß hier, sage ich, eine regelmäßige Publikation erscheint, die„ Austrian History News Letter“ heißt? Ihre Neuigkeiten, wie schon der Titel andeutet, sind teils historischer Art und beziehen sich beispielsweise auf den lombardo-venezianischen Abschnitt der österreichischen Geschichte (ein Spezialgebiet Professor Raths), teils liefern sie wertvolle Hinweise auf Institute und Materialien zur österreichischen Geschichtsforschung, vor allem aber enthalten sie in jeder Ausgabe eine Fülle bibliographischer Angaben, deren Akribie und Reichhaltigkeit — ebenso wie die des Archivs der Gesellschaft — nicht so geschwind zu überbieten sein dürften. Der letzte „News Letter“, 160 hektographierte Oktavseiten stark, gibt auf mehr als 50 Seiten allein die Titel aller an österreichischen Universitäten eingereichten Dissertationen über historische Themen der Jahre 1648-1790. Mitten in Texas, wie gesagt.

Es steht dahin, ob man sich an der Universität Innsbruck ähnlich genau und auf ähnlich sorgfältigen Grundlagen über die Geschichte — nein, nicht des Staates Texas, sondern über die Geschichte Österreichs informieren kann. Vielleicht kann man das nicht einmal an der Universität Wien (deren Geschichtsprofessoren Fellner, Hantsch und Rumpler als korrespondierende Mitglieder jenes „United States Committee to promote Studies of the History of the Habsburg Monarchy“ fungieren, in dessen Auftrag Professor R. John Rath mitten in Texas seinen „Austrian History News Letter“ herausgibt).

New Orleans

Die letzte längere Station auf meiner Reise, und wahrlich: sie verlohnt’s. Das ist nun freilich etwas ganz Besonderes, dieses New Orleans, und ich bin in argem Gewissenskonflikt, ob ich’s nicht doch noch über San Francisco stellen soll. Wenn ich nach langen inneren Kämpfen davon Abstand nehme und San Francisco die Krone reiche (nicht die Palme, denn Palmen gibt es hier wie dort), so reiche ich sie San Francisco als Ganzem. Obwohl New Orleans — schon seines Hafens und des grandiosen Mississippi-Deltas wegen — auch als Ganzes konkurrenzfähig ist. Mehr als konkurrenzfähig, ja schlechthin konkurrenzlos, ist sein „Vieux Carré“, das französische Viertel, das mit sieben Längs-Avenuen und mehr als doppelt so vielen Querstraßen einen richtigen Stadtteil (etwa vom Flächenausmaß der Roßau) bildet und schon rein architektonisch ein Juwel ist. Das „rein“ ist nicht nur so dahergesagt. Man muß, um solche Stilreinheit anzutreffen, nach italienischen Kleinstädten pilgern — in den großen gibt es dergleichen nicht mehr, in ganz Europa nicht. Hier aber, im Vieux Carré, fällt kein einziges — in Ziffern: kein einziges — der höchstens zweistöckigen Häuser aus dem Rahmen, es sei denn durch besondere Schönheit oder durch ein besonders kunstvoll geranktes Gitterwerk um Balkon und Vorgarten. Auch viele der Innenhöfe präsentieren sich als kleine Gärten mit liebevoll gepflegten Lianen und Zwergpalmen, mit verwunschenen Winkeln und — wenn sie zu einem Restaurant gehören — mit anmutig verteilten Tischen und Laternen. Die Restaurants, deren berühmtestes „Antoine“ heißt, sind fast durchwegs französischer Prägung, und wer sich nach einer Straße erkundigt, nennt sie — wenn er nicht als amerikanischer Tourist auffallen will — wohl gleichfalls besser bei ihrem französischen Namen, also „Rue Royale“, nicht „Royal Street“, und „Rue Saint Pierre“; nicht „St. Peter’s“. Auf den kleinen Mosaiktafeln, die in die Mauern der Eckhäuser eingelassen sind, steht überdies zu lesen, daß es sich hier im Grunde um die „Calle Real“ und die „Calle San Pedro“ handelt, und das trifft im Grunde zu, denn das Vieux Carré hat seine Gestalt unter der spanischen Kolonialherrschaft gewonnen, von 1762 bis 1803. Vorher war es, wie das ganze Territorium des heutigen Staates Louisiana, französisch. Auch nachher war es das wieder, allerdings nur lang genug, um von Frankreich an die Vereinigten Staaten verkauft zu werden. Wenn das der General de Gaulle erfährt ...

Außerdem ist New Orleans die Urheimat alles dessen, was unter der längst nicht mehr eindeutigen Bezeichnung „Jazz“ zusammengefaßt wird. Hier, tief im Süden der Vereinigten Staaten, im „Dixieland“, sind die großen Negermusiker zu Hause, die Armstrong und Calloway und Ellington und all die andern, deren Namen vielleicht nur für kurze Zeit aufglänzten oder nur den Eingeweihten etwas galten, wer weiß wieviele es waren, wer weiß wieviele es sind.

Auch die beiden Musikstudenten aus Philadelphia, Allan und Sandra Jaffe, wußten es nicht. Aber weil sie es gerne wissen wollten, gingen sie nach New Orleans und begannen, nach den noch lebenden Größen aus Dixielands Glanzzeit zu forschen, nach den Jazzklassikern von einst. Es fanden sich ihrer etliche, manche lebten bei ihren Kindern oder Enkelkindern, manche gingen Beschäftigungen nach, die nichts mit Musik zu tun hatten — aber, so erklärten sie auf Befragen, das hätten ja auch die heutigen Jazzbands nicht und damit wolle man sie bitte verschonen und wolle Vergangenes ruhen lassen, adieu.

Es war diese Ablehnung, die dem jungen Studentenehepaar aus Philadelphia einen Gedanken eingab, mit dem sie alsbald Furore machen sollten. Die Furore heißt „Preservation Hall“ und ist keine Halle, sondern ein karger, notdürftig adaptierter Schuppen in einem der verwinkelten Innenhöfe des Vieux Carré, ungefähr von der Größe eines kleinen Kellertheaters, aber nicht annähernd so vornehm eingerichtet: ein Podium, ein paar Holzlattenbänke, und sehr viel Stehplatz. In diesem wahrlich anspruchslosen Raum begibt sich — vor einem desto anspruchsvolleren, dicht gedrängten Publikum — allabendlich von 8 bis 12 ein Jazz-Festival, das seinesgleichen nicht hat. Und zwar begibt sich an jedem Abend ein andres (ein improvisiertes, versteht sich). Denn mittlerweile hat sich’s herumgesprochen unter den „great old men“ aus Dixieland, so daß ihre Zusammensetzung allabendlich wechselt. Es wollen alle drankommen, es ist ein paradiesisches Vergnügen nicht nur für die Zuhörer, sondern für die reaktivierten Musiker selbst, sie freuen sich wie die Kinder, daß sie wieder spielen dürfen, daß sie wieder Erfolg haben (und was für einen), daß man wieder nach ihnen verlangt (und wie). Die meisten sind um die 60, was bei Schwarzen und vollends bei schwarzen Jazzmusikern sowieso nicht viel bedeuten will, jedenfalls merkt man’s ihnen nicht an und ihrem Spiel schon gar nicht.

Der Star des Abends, an dem ich das erstemal dort bin, sieht etwas jünger aus, hat mehr Luft in der Trompete als ein normaler Mensch in der Lunge, und lächelt nachsichtig, als im Gespräch der Name Louis Armstrong fällt; es ist der legendäre „Punch“ Miller, derzeit 73 Jahre alt. Die übrige Besetzung besteht aus Klarinette, Trombon, Baßgeige, Schlagzeug und Klavier. Am Klavier — ich muß zweimal hin schauen, um es zu glauben — sitzt eine Frau. „Frau“ ist vielleicht übertrieben. Ein weibliches Wesen, alterslos, häßlich, hexenhaft, den dürren, leicht buckligen Leib in einem knallroten Gewand, auf dem Kopf eine knallrote Jockeymütze, und am Rocksaum — auch dazu bedarf es zweimaligen Hinschauens — einen Kranz von Bimmelglöckchen. Das merke ich freilich erst später, als sie unter leisem Geläute durch den Saal streicht. Vorher, am Klavier, vollzieht sich das Wunder und die Verwandlung: ihre nackten, hageren, seltsam unproportionierten Arme beginnen durch die Luft zu schlenkern, ihre Finger treffen auf die Tasten auf, und plötzlich hat sie keinen Buckel mehr und ist auch gar nicht häßlich. Das nehme ich zurück. Die Hexe nicht. — Sie heißt, wie mir gesagt wird (und wie nach alledem nicht anders zu erwarten): Sweet Emma.

Dürfte ich mir aber von den sechs Mitgliedern der Kapelle einen zum Geburtstag wünschen, dann wäre es der Schlagwerker: ein gütiger alter Mohr mit weißem Kraushaar, enorm abstehenden Dumbo-Ohren und einer randlosen Brille, über die er traurig hinwegschielt. Wenn’s an seinem Instrument einmal ganz über die Maßen schwierig wird, legt er auch noch den Kopf schief, wie ein melancholischer Zahnarzt, dem es entsetzlich leid tut, daß er jetzt den Bohrer 7 ansetzen muß. Und das ist soeben der Fall. Er hat soeben ein (von der Baßgeige synkopiertes) Solo der Klavierhexe abgelöst, hat plötzlich vier Hände und drei Füße, arbeitet gleichzeitig am Holz, an beiden Trommeln; an der Glocke und an den Tschinellen und denkt mit schiefgelegtem Kopf darüber nach, wie es denn möglich sei, daß seine Gliedmaßen sich dergestalt selbständig machen. Er weiß von nichts. Erst als das Publikum mittenhinein in einen wilden Beifallsorkan übergeht, nickt er ein wenig und lächelt und bekommt noch zwei Hände dazu, man hat den zwingenden Eindruck, daß er im nächsten Augenblick senkrecht in die Luft steigen und trommelnd zum Himmel fahren wird, es ist kaum zu ertragen, es kann so nicht mehr lange weitergehn, die Leute im Saal sind aufgesprungen und halten einander fest und jauchzen wie bei einem Entscheidungsgoal und applaudieren noch minutenlang stehend weiter, ehe sie für Punch Millers Trompete aufs neue den Atem anhalten.

Etwa ein Drittel der Besucher sind Schwarze, fast durchwegs aus der gleichen Altersschicht wie die Musiker. Unter den Weißen überwiegt die Jugend. Alle benehmen sich nett und manierlich, kein Betrunkener verirrt sich hierher (obwohl es ringsum von Nachtlokalen wimmelt), nichts und niemand stört die hingebungsvolle Liebhaber-Atmosphäre. Wer in die „Preservation Hall“ kommt, will die großen alten Jazzmusiker hören, sonst nichts. Es wird ihm auch nicht viel andres geboten, außer einem Automaten mit Erfrischungsgetränken im Hof. Der Präservator Allen Jaffe betreut die Musiker und gibt im Verlauf des Abends ein paar kurze Erläuterungs-Conférencen, seine junge Gattin sitzt im Torbogen und hat einen Wäschekorb neben sich, in dem sich die Dollarnoten sammeln. Die Musiker werden nach Gewerkschaftstarif honoriert und sind am Überschuß beteiligt, der harte Miller, die süße Emma, Louis Nelson (Trombon), Cornbread Thomas (Klarinette), „Papa“ John Joseph (Baß) und Alcide „Slow Drag“ Pavageau, der melancholische Dumbo an der Trommel. Sie seien gepriesen allesamt.

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