FORVM, No. 108
Dezember
1962

Volksverdummung statt Propaganda

Der Kulturpolitiker hat den Wahlkampf mit Unbehagen verfolgt. Ein Vielfaches der bescheidenen Summe, die von Bund, Ländern und Gemeinden in Österreich alljährlich für Volksbildung aufgewendet wird, wurde von den politischen Parteien innerhalb der sechs Wochen des Wahlkampfes dazu mißbraucht, den umworbenen Staatsbürger einer Argumentation auszusetzen, die nur zu oft sehr primitiv war, am Kern der Probleme vorbeiging, die Begriffe verwirrte und den schwankenden Wähler durch grobe Schlagworte in die Irre führte.

Gewiß, in der Demokratie ist eine Wahl wichtig genug, um die Bevölkerung mit den kostspieligen Mitteln der modernen Propaganda aufzurütteln und zur Stellungnahme zu veranlassen. Aber der Aufwand steigert sich von Wahl zu Wahl; amerikanische Vorbilder, nicht immer die besten, werden nachgeahmt.

Der Zusammenhang zwischen Volksbildung und Wahlpropaganda ist gegeben: Je erfolgreicher und wirkungsvoller die Volksbildung gearbeitet hat, desto weniger Wirkung dürfte solche Wahlpropaganda haben.

Zumutung für Denkende

Auch die Wahlstrategen der Parteien beklagten, daß die Propaganda während des letzten Wahlkampfes im ganzen ziemlich primitiv war. Aber ihre Berater, die Meinungsforscher und Werbefachleute, wiesen immer wieder darauf hin, daß dies in Österreich eben nötig sei. Der Großteil der Wähler gehört zu den Stammkadern der beiden großen Parteien. Diese Wähler braucht man nur zu ermuntern, indem man ihnen das Bild einer mächtigen und tätigen Partei durch große Plakate und farbige Wahlbroschüren demonstriert. Im übrigen aber wendet sich die Propaganda an die zehn oder fünfzehn Prozent der schwankenden Wähler, die beim Kopf-an-Kopf-Rennen der Parteien entscheidend sind, und diese, die sich erst im letzten Augenblick entscheiden, ob und wen sie wählen sollen, sind nicht gerade die interessiertesten Staatsbürger — wie übrigens Heinz Kienzl kürzlich im FORVM dargelegt hat. [*]

Die politischen Parteien glauben also, den Wählern, bei denen ihre Propaganda vor allem „ankommen“ soll, nicht allzuviel zumuten zu dürfen. Das primitive Schlagwort, der Appell an die Angst (Stacheldraht), an den Neid (Ministerpension), der Griff nach der Geldbörse (Schillingplakate) schienen gerade gut genug.

Damit wurde freilich dem denkenden Wähler allerhand zugemutet.

Die Art der Propaganda, vor allem der Plakatpropaganda, hat bei den Funktionären der beiden großen Parteien schon während des Wahlkampfes Diskussionen ausgelöst — bei der ÖVP, weil manche der Meinung waren, allzu massive Angriffe gegen den Koalitionspartner fielen auf die eigene Partei zurück; bei der SPÖ, weil manche Vertrauensmänner die Plakate als zu wenig kämpferisch empfanden. Freilich erwiderten beide Parteileitungen, daß Plakate nicht für die eigenen Funktionäre gemacht werden.

Tatsächlich war die Plakatpropaganda am gröbsten. Ein einziges Plakat forderte die Wähler zum Nachdenken auf („Nicht blind entscheiden!“, SPÖ). Abgeschen von einigen positiven Plakaten der SPÖ und dem Spar-Plakat der ÖVP standen zwei Themen im Vordergrund: bei der ÖVP die Behauptung, der demokratische Sozialismus wäre zumindest eine Vorstufe des Kommunismus oder mit diesem — so las man’s im fortgeschrittenen Wahlkampf — überhaupt gleichzustellen; bei der SPÖ die Behauptung, die ÖVP strebe nach Alleinherrschaft, wobei im letzten Stadium Hinweise auf das autoritäre Regime nach 1934 deutlich anklangen.

Beide Thesen haben den Fehler, daß sie die demokratischen Grundsätze der anderen Partei in Frage stellen, welche eigentlich außer Streit bleiben sollten. Daß beide eine gewisse Wirkung hatten, zeigt, daß die Vergangenheit — Faschismus, Krieg, Besatzung — zumindest unter den Menschen, die sie miterlebt haben, noch starke emotionelle Rückstände hinterlassen hat. Die Jugend wußte wenig damit anzufangen. Für sie ist die Demokratie eine Tatsache, an der nicht gerüttelt werden soll.

Viel diskutiert wurde das „79:78“-Plakat der ÖVP, obgleich es einer sachlichen Prüfung am wenigsten standhielt. Es lag auf der Linie jenes sozialistischen Plakates — ein Schiff, das durch das ÖVP-Übergewicht ins Schwanken gerät —, das bei den Wahlen 1959 die Gleichgewichtsparole präsentiert hatte.

Es ist eine österreichische Merkwürdigkeit, die sich aus dem Schicksal der Ersten Republik erklärt, daß keine Partei (wie es in anderen demokratischen Ländern selbstverständlich ist) die Wähler auffordert, ihr eine sichere Mehrheit zu geben, damit sie ihr Programm konsequent durchführen kann. Die beiden Parteien haben sich im Gegenteil dem Wähler als arme Hascherln dargestellt, die beim geringsten Erfolg der andern Partei befürchten müßten, an die Wand gedrückt zu werden. Beide haben versichert, daß sie nur deswegen stark sein wollen, um das Übergewicht des Gegners und Koalitionspartners zu verhindern und damit dessen „Diktaturgelüste“ zu unterbinden.

Unter solchen negativen Vorzeichen wird jede Wahl zur Schicksalsfrage. Der Wahlkampf holt aus den Tiefen der Menschen Gefühle des Hasses, der Verzweiflung und der Angst empor, die besser ruhen blieben. Wahlen in einer Demokratie sollten normale Vorgänge sein, deren Resultat das Gemeinsame nicht in Frage stellt.

An „Kopfplakaten“ gab es nur einige wenige, von der ÖVP. Derartige Plakate wurden bei den letzten Bundestagswahlen in Westdeutschland bis zur Lächerlichkeit abgenützt. Sie sind nur dort wirksam, wo eine Person zum Symbol der Aktion wird: de Gaulle in Frankreich, Willy Brandt in Berlin. Bei Parlamentswahlen wählt der Österreicher „seine Partei“ und kaum den auswechselbaren Kandidaten.

Ein Plakat, das an der Mentalität des Österreichers vorbeiging, war jenes, mit dem die Wähler aufgefordert wurden, „diesmal“ die FPÖ zu wählen. Der österreichische Wähler nimmt sich ernst. Das „diesmal“ lädt den Wähler ein, bei der nächsten Wahl wieder anders zu entscheiden.

Im Ganzen zeigten die Wahlplakate wenig Phantasie und blieben in ihrer Kunstgesinnung bei allen Parteien konservativ. Die Mittel der modernen Kunst sind an den politischen Parteien spurlos vorübergegangen.

Und alle Plakate waren humorlos.

Debatte auf österreichisch

Die lebendigste Form der Wahlpropaganda bleibt immer noch die Versammlung, vor allem wenn, in kleineren Orten, auch der politische Gegner sie besucht und eine echte Diskussion zustandekommt. Da entscheidet wirklich das bessere Argument, und an die Stelle der Schlagworte beider Seiten treten die echten Probleme und echten Meinungsverschiedenheiten. Dabei rücken die politischen Gegner einander auch menschlich näher. Ich habe es mehrmals in Versammlungen erlebt, daß nach hitziger Debatte schließlich — bei der österreichischen Situation sehr begreiflich — weniger die Gegensätze als das Gemeinsame ans Licht kamen.

Leider wird diese Art von Wahlversammlungen immer weniger gepflegt. Man geht dazu über, einen Film vorzuführen und vorher einen kurzen Appell an die Wähler zu richten. Man organisiert große Kundgebungen, bei denen eine Aussprache nicht möglich ist. In Blitzfahrten werden prominente Redner an einem Wochenende durch zehn Orte geschleppt, wo sie dann die gleiche kurze, manchmal schon recht abgenützte Ansprache halten. Oder man veranstaltet, wie es die ÖVP diesmal praktizierte, Empfänge mit Bewirtung oder Teenager-Parties.

Das mag für die Eingeladenen ganz nett sein, aber Wein, Würstel und Tanzmusik sind keine politischen Argumente, so wenig wie Zündhölzer, Taschentücher oder Spielkarten.

Wahlbroschüren und sonstige Wahlschriften sind zu Bildzeitungen geworden. Immerhin werden hier die Leistungen der Parteien dem Wähler vorgeführt — was für die beiden großen Parteien deshalb immer problematischer wird, weil das meiste gemeinsame Leistungen sind. Das wirklich Unterscheidende: was die ÖVP, was die SPÖ bei diesem oder jenem Gesetz durchgesetzt hat — das erreicht den Wähler nicht. Es ist zu kompliziert.

Verführung von langer Hand

Nach amerikanischem Muster hat man auch versucht, die „geheimen Verführer“ zu mobilisieren: Wunschträume vorzugaukeln und sie in unsrer Wohlstandsgesellschaft als erfüllbar hinzustellen — natürlich nur dann, wenn die betreffende Partei gestärkt wird.

Wesentlich besser als bei früheren Wahlen waren die Sendungen in Radio und Fernsehen. Kurze Dialoge belebten die Werbung, man bot nicht wie früher einfach die Wiedergabe einer Wahlrede. Aber selbst bei diesen zur Aktualität drängenden Medien gingen die Parteien kaum auf den Gegner und dessen Argumente ein. Der Wahlkampf machte den Eindruck, daß die Generalstäbe der Parteien ihre Propaganda auf lange Sicht vorbereitet hatten. Die Linie schien vorausbestimmt, und man war fest entschlossen, sich durch nichts davon abbringen zu lassen. So warben die Parteien nebeneinander, ohne sich gegenseitig stören zu lassen. Es war eher ein Wettlauf als ein Ringen.

Wer England kennt, sollte in seiner Phantasie den letzten österreichischen Wahlkampf in diese alte Demokratie projizieren. Dann werden gewisse absurde Züge sofort sichtbar. Vor allem gilt dies vom Hineinziehen der Währung in den Wahlkampf. Dies sollte schon aus wirtschaftlichen Erwägungen unterbleiben. Jede Partei, vor allem aber jene, die den Finanzminister stellt, sollte auf den Inflationsschreck verzichten. Das ist Propaganda, die allen Parteien mehr schadet, als sie einer nützen könnte.

Ein Wahlkampf ist kein Seminar für staatsbürgerliche Erziehung. Aber könnte er es nicht sein? Muß jeder Wahlkampf gegen die Volksbildung geführt werden? Könnte er nicht eine die Demokratie belebende Diskussion auf breiter Grundlage und mit hohem Niveau sein, so daß die großen Geldmittel der Parteien zur politischen Aufklärung des Volkes dienen?

Vorerst besteht leider wenig Hoffnung, daß eine solche Lehre aus dem letzten Wahlkampf gezogen wird, zumal da sich die massive und robuste Propaganda als erfolgreich erwiesen hat. Aber gerade deswegen muß man das Unwahrscheinliche fordern.

[*Heinz Kienzl: Was wählt der Wähler? (FORVM IX/106).

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