FORVM, No. 155-156
Dezember
1966

Am Beispiel Friedrich Adlers

Die Ermordung des Grafen Stürgkh am 21. Oktober 1916 — (II.)
voriger Teil: Am Beispiel Friedrich Adlers

Eine Gesetzesvorlage, die nach dem Zusammentritt des Abgeordnetenhauses im Mai 1917 eingebracht wurde und nach der alle vor den Ausnahmsgerichten durchgeführten politischen Prozesse an die Geschworenen rückverwiesen worden wären, fand zwar den Beifall Kaiser Karls, wurde aber vom Herrenhaus abgelehnt. So mußte Adler seine Kerkerstrafe antreten. Er wurde auch in der Strafanstalt als politischer Überzeugungstäter, nicht als gemeiner Verbrecher behandelt und am 1. November 1918 vom Kaiser amnestiert.

Adler hat dann bis 1923 eine wesentliche Rolle in der Führung der österreichischen sozialistischen Partei gespielt und wurde 1923 zum Sekretär der Sozialistischen Internationale gewählt. Er hat dieses Amt zunächst in London, später in Zürich und Brüssel bis 1940 ausgeübt. Die Kriegsjahre hat er im politischen Exil in New York verbracht, von wo er 1946 nach Europa zurückkehrte und seinen Wohnsitz wieder in Zürich aufschlug. Dort befaßte er sich vorwiegend mit parteigeschichtlichen Studien und starb anfangs 1960 im einundachtzigsten Lebensjahr.

Adler hat unmittelbar nach seiner Tat, noch im Speisesaal des Hotels Meißl und Schadn ausgerufen: „Nieder mit dem Absolutismus. Wir wollen den Frieden.“ In der Verhandlung setzte er hinzu: „Diesen Ruf hat niemand gehört ... obwohl ich diesen Ruf vor dem Attentat sehr oft in Wort und Schrift ausgestoßen habe. Höchstens der Herr Staatsanwalt und sein Rotstift hat Kenntnis davon genommen ... Die Schüsse aber hat man gehört.“ [9]

Diese Bemerkung war zweifellos richtig, wenn auch nicht vollständig. Wenige Tage nach dem Attentat wurde Ernst von Koerber zum Nachfolger Stürgkhs als Ministerpräsident ernannt. Sein Regierungsprogramm schloß, allerdings noch in sehr verklausulierter Form, die Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände in Österreich ein. Einen großen Schritt weiter auf diesem Wege führte dann der Regierungsantritt Kaiser Karls genau einen Monat nach dem Attentat. Unter dem jungen Kaiser erfolgte die Wiedereinberufung des Reichsrates im Mai 1917. Ein weiterer und sehr gewichtiger Umstand, der die neue Entwicklung förderte, war aber auch der Ausbruch der russischen Märzrevolution 1917.

Wie immer man diese einzelnen Ereignisse einschätzt, es ist sicher, daß Adlers Tat trotz der ungeheuren spontanen Reaktion der Bevölkerung nur ein, wenn auch erheblicher Faktor war, der zur Aufhebung des Kriegsabsolutismus führte.

Bis zu diesem Punkte kann man der herrschenden Geschichtsauffassung zustimmen. Hier aber trennen sich die Wege. Die Tat Adlers wird natürlich — abgesehen von dem eingangs behandelten, eindeutigen Problem der politischen Ethik —, je nachdem, ob man sie von rechts oder links betrachtet, verschieden beurteilt. Es dreht sich um die Frage: Loyalität zur Monarchie hier, Bekenntnis zur Revolution dort. In einem aber, und zwar im Wesentlichen, stimmen beide Lager völlig überein, nämlich daß Adlers Tat einen wesentlichen Schritt auf dem Wege zur Auflösung Österreichs darstellte.

Diese herrschende Auffassung muß nun ernstlich angezweifelt werden. Zweifellos hat die Tat Adlers in hohem Maße zu einer Radikalisierung der sozialdemokratischen Partei beigetragen. Die sogenannte internationale Strömung wurde immer mehr die herrschende Richtung, die sozialistische Version des Mitteleuropa-Programmes und des Renner’schen Nationalitätenstaatsprogrammes, insbesondere aber die von Leuthner und Pernerstorfer inspirierten Anklänge an deutschnationale Tendenzen traten in den Hintergrund.

Für die Stärkung der Linken, die schließlich anfangs Oktober 1918 zur mindestens mittelbaren Absage Victor Adlers an das alte Österreich führte, sind aber doch viele Gründe verantwortlich: die Politik Otto Bauers nach seiner Rückkehr aus der russischen Kriegsgefangenschaft im September 1917; die Streikbewegung der Munitionsarbeiter im Januar 1918; vor allem aber die Verschlechterung der Kriegslage, die Verschärfung des Nationalitätenkampfes und natürlich die russische Novemberrevolution 1917.

Ursachen des Zusammenbruchs

Selbst wenn man den Einfluß der Adler’schen Tat auf die innerösterreichische Entwicklung sehr hoch einschätzt, glauben wir doch, daß der Zusammenbruch im großen und ganzen eine Folge des Nationalitätenkampfes mit seinen außenpolitischen Ausweitungen unter den gefährlichen Verhältnissen des Krieges war.

Die marxistische Auslegung Otto Bauers, wie er sie in seinem Werk „Die österreichische Revolution“ vertritt, sieht anderseits ein enges Junktim zwischen Nationalitätenproblem und Klassenkampf, das unserer Auffassung nach dem Geschichtsablauf widerspricht. Dieser hat 1918/1919 in Mitteleuropa im großen und ganzen nicht eine sozialistische, sondern eine bürgerliche Nationalitätenbewegung zum Siege geführt.

Unsere Ansicht hinsichtlich der recht problematischen Förderung des Zusammenbruches der Monarchie durch Adlers Tat gründet sich auf eine weitere, ganz andere Überlegung. Das Jahr 1917 und noch die ersten Monate des Jahres 1918 sind die Zeit, da auf Grund der Kriegslage, vor allem der allgemeinen Kriegsmüdigkeit auf beiden Seiten, noch eine gewisse Aussicht auf Verständigungsfrieden bestand. Es ist die Periode der geheimen Friedensverhandlungen. Es sei nur an die weitbekannte Sixtusaffäre, die Fühlungnahmen und Besprechungen Armand—Revertera, Smuts—Mensdorff, Lammasch—Herron erinnert. Es ist hier nicht der Ort, auch nur in großen Zügen auf die Bedeutung dieser Verhandlungen einzugehen, wie ich das in einer vor kurzem abgeschlossenen monographischen Studie versucht habe. Nur so viel kann hier gesagt werden: diese Verhandlungen sind gewiß zum Teil, wenn auch wahrscheinlich zum kleineren, an der Kurzsichtigkeit des herrschenden Systems gescheitert.

Im Zusammenhalt mit dem hier behandelten Problem ist aber eine andere Erkenntnis viel wichtiger: nämlich die, daß jene Aktionen zumindest bis zum Sommer 1917 durchaus nicht erfolglos erschienen. Ihre Anknüpfung und Förderung ging weitgehend auf den jungen Kaiser Karl zurück. Und es kann kaum ein Zweifel obwalten, daß Ereignisse wie das Attentat Adlers und sein Echo in der Bevölkerung den Kaiser und seinen neuen Außenminister Graf Czernin in der Auffassung bestärkten, daß der baldige Friedensschluß dringend nötig sei. [10]

Man kann also wohl sagen, daß Adlers Tat mittelbar zwei Richtungen gefördert hat, die beide den Frieden anstrebten; die radikale Linke, deren Ziel die Zerschlagung der Monarchie war, und den gemäßigten Konservatismus, dessen Ziel die Erhaltung und Neugestaltung der Monarchie war. Gewiß hat die zweitgenannte Richtung ihr Ziel nicht erreicht, aber das gilt eigentlich genau so für die erstgenannte Richtung, soweit es nämlich auf die Wirkung ihrer eigenen Aktionen und nicht auf die Wirkung anderer, d.h. der nationalen Bewegungen ankam. Die Art des Zusammenbruches und seine Folgen in Mitteleuropa entsprachen, wie oben bemerkt, weit eher den Forderungen des bürgerlichen Nationalismus als denen der revolutionären Illusionen des Klassenkampfes.

Zur Zeit des Attentates stand aber die Auflösung der Monarchie noch keineswegs zur Debatte. Selbst zur Zeit des Prozesses erschien sie noch als entfernte Möglichkeit am politischen Horizont. Ob sich letztlich die Kräfte der Linken und des übernational eingestellten Flügels der Rechten gegenseitig aufgehoben haben, mag zweifelhaft sein. Zweifellos scheint, daß weder die eine noch die andere Seite, im rein österreichischen Rahmen betrachtet, bis zum Zusammenbruch einen wirklich entscheidenden Einfluß auf den Gang der Ereignisse ausgeübt hat.

Hätte Adler nicht geschossen ...

Soweit die Frage der unmittelbaren Folgen von Adlers Tat im Rahmen der Kriegszeit. Nun sei sozusagen aus Kontrollgründen die eingangs erwähnte weitere Frage aufgeworfen, was möglicherweise geschehen wäre, wenn „das Ereignis“ nicht eingetreten wäre. Die selbstverständliche Annahme, daß eine große Anzahl mehr oder weniger zufälliger Gründe zur Sistierung oder Vereitelung des Attentates hätte führen können, mag für unsere Untersuchung als unerheblich außer Betracht bleiben. Insofern das Hauptmotiv Adlers zweifellos der Protest gegen den Kriegsabsolutismus war, wollen wir von der hypothetischen weiteren Annahme ausgehen, daß die Tat unterblieben wäre, wenn dieser Kriegsabsolutismus nicht bestanden hätte. Mit anderen Worten: Wäre die Situation wesentlich anders gewesen, wenn das seit März 1914 auf Grund des Paragraphen 14 vertagte Parlament zu Kriegsanfang einberufen worden wäre? Hier kann man nur eine Aussage mit einer an Bestimmtheit grenzenden Wahrscheinlichkeit machen: Graf Stürgkh wäre dann am Leben geblieben.

Hätte aber die Einberufung des Reichsrates im August 1914 den Gang der Ereignisse erheblich beeinflußt? Aus der Tatsache, daß diese Wiedereinberufung im Mai 1917 zumindest keinerlei wesentliche konsolidierende Wirkung hervorrief, kann geschlossen werden, daß sie zu spät erfolgte. Das heißt, daß das Parlament zu diesem Zeitpunkt nur die Fortschritte der inneren Zerrüttung zeigen konnte, während das Schwergewicht der diesen entgegenwirkenden Kräfte schon außerhalb des Reichsrats lag. Es sprechen aber manche Gründe dafür, daß selbst die Reaktivierung des Parlaments unmittelbar nach Kriegsausbruch keine wesentlich andere Wirkung hervorgerufen hätte.

Parlamente ohne Wirkung

Diese Annahme, daß die Gefahr der nationalen Krise für den Bestand der Monarchie durch das österreichische Parlament während der Kriegszeit bloß stark beleuchtet, kaum aber behoben werden konnte, wird durch die Überlegung gestärkt, daß sowohl der deutsche Reichstag wie das ungarische Parlament ohne jede Unterbrechung in Session waren; dies hat den Gang der Ereignisse weder im Sinne der Erhaltung der bestehenden Ordnung noch im Sinne eines Verständigungsfriedens beeinflußt.

Die begeisterte, einmütige Zustimmung aller Parteien des deutschen Reichstages zu den Kriegskrediten im August 1914, so begreiflich sie gefühlsmäßig war, hat sicherlich die Position der Heeresleitung und des Alldeutschtums gewaltig gestärkt; die mißglückte Friedensresolution des Reichstags vom Sommer 1917 hat diese Position nicht wesentlich geschwächt. Das ungarische Parlament, der national fast einheitliche Vertretungskörper eines Nationalitätenstaates, stellte in gewissem Sinne einen Schutzwall gegen die schlimmsten Auswüchse der Kriegszensur dar; die nationale Intransigenz des Magyarentums, ohne deren Einlenken an einen Verständigungsfrieden nicht zu denken war, wurde aber durch den ungarischen Parlamentarismus eher gestärkt als geschwächt.

Hier ist das Argumentum a minori ad maius am Platz. Wenn der national im wesentlichen einheitliche deutsche Reichstag und das durch ein ungerechtes Wahlsystem künstlich einheitlich gemachte ungarische Parlament keinen entscheidenden und vor allem keinen entscheidend mäßigenden und daher konsolidierenden Einfluß ausüben konnten, um wieviel weniger war das von dem national zerrissenen Österreichischen Parlament zu erwarten?

Man kann noch weiter gehen. Das österreichische Parlament konnte auf keinen Fall das Bild einer in den entscheidenden Punkten geeinten Volksvertretung bieten, die willig und fähig war, die Übergriffe der Exekutive in Schach zu halten. Der verschärfte Nationalitätenkampf, der wahrscheinlich einem sehr kurzen patriotischen Rausch gefolgt wäre, hätte aber das Bild innerer Schwäche noch stärker herausgestellt, als dies durch den Kriegsabsolutismus schon an sich geschah.

Wir wollen nicht mißverstanden werden. Eine moralisch richtige Entscheidung — und das wäre die Einberufung des Parlamentes im Verfassungsstaat bestimmt gewesen — hätte auf lange Sicht die Stellung der habsburgischen Monarchie nicht nur vor der Geschichte, sondern auch vor dem westlichen Ausland gestärkt. Es ist auch durchaus möglich, daß sich diese Stärkung gegenüber den westlichen Staatsmännern noch hätte auswirken können. Kaum aber wäre dies auf kurze Sicht der Fall gewesen.

Hier ist eine Aufzeichnung des Barons Spitzmüller, eines der klügsten Mitglieder der Regierung Stürgkh, von hohem Interesse. Er berichtet über eine streng vertrauliche Unterredung mit Dr. Victor Adler, die anfangs 1916 stattgefunden haben muß. Danach erklärte der Führer der österreichischen Sozialdemokratie, „daß die Einberufung des Abgeordnetenhauses vor Beginn des Krieges unter dem Eindruck des furchtbaren Verbrechens in Sarajewo, eventuell bald nach Kriegsbeginn, politisch zweckmäßig und geboten gewesen wäre, während jetzt ... die Opportunität einer Parlamentseinberufung wohl ernstlich zu bezweifeln sei. Es zeigte sich auch hier das hohe politische Niveau Dr. Adlers ... Trotz seiner überzeugten sozialdemokratischen Einstellung war er ein österreichischer Patriot“. [11]

Victor Adlers Zweifel

Für Victor Adler bedeutete eben die Einberufung des Parlaments unmittelbar nach dem Attentat von Sarajewo vor allem eine Möglichkeit, sich auf offener Tribüne der Kriegsgefahr entgegenzustellen. Nach Ausbruch des Krieges aber sah er den Sinn des Parlamentes natürlich darin, die Exekutive unter verfassungsmäßige Kontrolle zu stellen. Fast bis zum Zusammenbruch hat er, ungleich den Vertretern der sozialistischen Linken, die Folgen der Niederlage weit mehr gefürchtet als die Gefahr eines von den Mittelmächten diktierten brutalen und bald genug illusionären Siegfriedens. Nur die Verschlechterung der inneren und äußeren Kriegslage hat ihn zweifeln lassen, ob das Parlament anders als bloß negativ wirken konnte.

Jedenfalls war ein solcher Zweifel auf Grund der parlamentarischen Tätigkeit der Jahre 1917/1918 berechtigt.
Der schwerste und verhängnisvollste Mißgriff der Regierung Stürgkh bestand denn auch nicht in der Unterlassung der Einberufung des Parlamentes unmittelbar nach Kriegsausbruch, sondern in der völlig ungerechtfertigten Vertagung des Parlamentes in Friedenszeiten, angeblich auf Grund der tschechischen Opposition. Josef Redlich bemerkt hiezu in einer Tagebuchnotiz vom 7. März 1914: „Ich glaube, Stürgkh will die Obstruktion selbst, damit er mit dem ‚Vierzehner‘ arbeiten kann.“ [12]

Wenn damals das Parlament nicht ohne jede zwingende Notwendigkeit nach Hause geschickt worden wäre und zur Zeit des Mordes von Sarajewo oder zumindest unmittelbar nachher einberufen worden wäre, hätte die bloße Diskutierfreiheit, ganz unbeschadet der Zusammensetzung des Hauses, einen entscheidenden Einfluß auf den Gang der Ereignisse ausüben können. Obwohl nur ganz mittelbar mit auswärtigen Angelegenheiten befaßt, hätte die Tagung des Parlamentes vermutlich zu einer Debatte geführt, in der die riskante Politik Berchtolds im Schlepptau Conrads, des engstirnigen Advokaten des Präventivkrieges, erörtert worden wäre. Damit hätte noch die Möglichkeit einer Änderung des außenpolitischen Kurses bestanden. Hingegen hätte die Einberufung des Parlaments unter dem Eindruck des ersten Kriegsrausches diese Wirkung niemals hervorrufen können.

Es spricht viel für die Annahme, daß im März 1914 eine Weiche falsch gestellt wurde, was sich entscheidend auf den Ausgang des Krieges, die Auflösung der Monarchie und die Niederlage Deutschlands auswirkte. Jedenfalls übte den entscheidenden Einfluß nicht der Kriegsabsolutismus Stürgkhs, sondern seine Vorgeschichte, nicht Adlers Attentat, sondern eine Kette von Ereignissen, in der diese Tat nur ein bescheidenes Glied darstellte.

Episode oder Wende?

Heißt dies, daß Adlers Attentat eine bloße historische Episode war? Der November 1918 und mit ihm die Auflösung des Reiches ist keineswegs das Ende der Geschichte; deren Anziehungskraft besteht im Gegenteil nicht zuletzt darin, daß sie kein Ende hat. Als Friedrich Adler auf Grund der kaiserlichen Amnestie am 2. November 1918, neun Tage vor dem Tode seines Vaters, nach Wien zurückkehrte, stand er auf dem Gipfel einer internationalen Popularität, die vielleicht kein sozialistischer Führer seitens irgendeiner der marxistischen Richtungen vor und nach ihm erreicht hat.

Vor Gründung der Dritten Internationale repräsentierteder Mann der Tat vom 21. Oktober 1916 die Idee der Einigungsmöglichkeit einer revolutionär orientierten sozialistischen Richtung mit der sich rasch entwickelnden kommunistischen Bewegung. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis wurde Adler aufgefordert, an die Spitze der neu zu gründenden Kommunistischen Partei Österreichs zu treten.

Als Bela Kun im März 1919 in Ungarn die Rätediktatur ausrief, appellierte er an den österreichischen Arbeiterrat, als eine Art Gesamtvertretung der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterschaft, die Macht in Österreich zu ergreifen und dadurch die ungarische Revolution zu sichern. Wie ernst dieser Appell gemeint war, bewiesen die beiden kommunistischen Putschversuche vom 7. April und 15. Juni 1919 in Wien, die nur mit blutigen Opfern niedergeschlagen werden konnten. Daß selbst ein zunächst erfolgreicher radikaler Linksputsch in Österreich auf die Dauer keinen Erfolg hätte haben können, ist klar. Daß er aber im Zeitpunkt der revolutionären Dynamik und Verwirrung zwischen Herbst 1918 und Sommer 1919 auf kurze Sicht hätte triumphieren können, wenn der als Held und Märtyrer des Kampfes gegen den Kriegsabsolutismus angesehene Adler sich ihm abgeschlossen hätte, war durchaus möglich.

Die unmittelbaren Folgen wären voraussichtlich die Sperrung der dringend nötigen Lebensmittelzufuhr des Westens an Österreich gewesen, im weiteren Verlauf sehr möglicherweise die Besetzung des Landes durch fremde Truppen und die Etablierung einer Art von Horthy-Regime auch in Österreich im Jahre 1919 an Stelle der fünfzehn Jahre demokratischer Regierung, deren Tradition die Zweite Republik ihre Existenz verdankt:

Daß Adler, als der damals weitaus populärste sozialistische Führer, sich in Verbindung mit der überwältigenden Mehrheit der sozialistischen Arbeiter- und Führerschaft der kommunistischen Gefahr entgegengestellt hat, muß ihm unbedingt als geschichtliches Verdienst angerechnet werden.

Warum aber hat Adler so gehandelt? Wie aus den Erklärungen des Reichsvollzugausschusses des Arbeiterrates hervorgeht, dessen Obmann er damals war, hat er die verhängnisvollen Folgen eines Linksputsches für Österreich durchaus richtig eingeschätzt, wie er sich auch schon vorher über die Gefahr einer Spaltung der sozialistischen Partei klar war. Was uns heute aber als Hauptargument gegen eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten erscheint, die Wahrung der Prinzipien der Demokratie gegen ein totalitäres Regierungssystem, kommt in der Haltung Adlers zur damaligen Zeit durchaus nicht klar heraus, obwohl er später, insbesondere als Sekretär der sozialistischen Internationale, treu zu den demokratischen Grundprinzipien gestanden ist.

Bekenntnis zur Revolution

Auf dem internationalen sozialistischen Kongreß in Bern vom Februar 1919 hat sich Adler hingegen als Führer einer Minderheit von der strikt antitotalitären Haltung der sozialistischen Mehrheit dissoziiert und offensichtlich immer noch auf die Schaffung einer Internationale gehofft, die Sozialisten und Kommunisten vereinigen sollte. Dies aber hieß für ihn ein Bekenntnis nicht zur evolutionären Entwicklung, sondern zur Revolution.

Was also war der Hauptgrund von Adlers Ablehnung einer sozialistisch-kommunistischen Einheitsfront in Österreich, wenn es nicht, oder richtiger: noch nicht das uneingeschränkte Bekenntnis zur Demokratie war? Vielleicht hilft uns auch hier ein Rückblick auf den Prozeß, Einsicht in die seltsame Persönlichkeit Adlers und die Beweggründe seines Handelns zu finden. Er sagte in seinem Schlußwort, in dem er gegen den Vorwurf der Eitelkeit als Beweggrund seiner Tat polemisiert und darauf verweist, daß er in der sozialistischen Bewegung Deutschlands leicht einen größeren Wirkungskreis hätte finden können: „Ich will nur sagen, daß, wenn man verstehen will, was ... in mir vorgegangen ist, es nicht darin zu suchen ist, daß ich ein ‚Antipatriot‘ bin, sondern daß die wirkliche Nötigung, die mich schließlich zu meiner Tat gebracht hat, gerade umgekehrt darin gelegen ist, daß ich mich von Österreich, worunter mein Österreich verstanden ist, nicht losmachen konnte, mich nicht von der Partei losmachen konnte, in der ich seit meiner Kindheit gelebt habe ... Die Tragödie, deren Mittelpunkt ich hier bin, ist eben darin begründet, daß ich nicht loskommen konnte von der österreichischen Sozialdemokratie. Mit der Gesamtbewegung überhaupt wäre ich immer verbunden gewesen, in welchem Lande immer ich gewesen wäre. Aber ich konnte nicht loskommen von der Bewegung in diesem Lande. Ich bin mit allen Fasern verknüpft gewesen mit allen Institutionen, die die Partei in Österreich hat.“ [13]

Niemals erscheint dieser Mathematiker der Revolution menschlicher als an dieser Stelle seiner großangelegten Verteidigung, wo er seine Liebe für die Partei mit der für Österreich identifiziert. Und doch mag durch diesen Irrtum nicht nur das Attentat, sondern auch die andere Tat seines Lebens bedingt gewesen sein: entscheidend dazu beigetragen zu haben, Österreich aus der kommunistischen Flut herauszuhalten. Die Wege der Geschichte sind seltsam. Der durch das Attentat vom Oktober 1916 erworbene falsche Nimbus hat Friedrich Adler in die Lage gebracht, Österreich zwei Jahre später einen wirklichen Dienst zu leisten, dessen Reichweite damals noch niemand voll erkennen konnte.

Beide liebten Österreich

Was aber die persönliche Seite der Tragödie vor fünfzig Jahren betrifft, so liegt sie vielleicht letztlich darin, daß der Täter und sein Opfer Österreich auf ihre Art geliebt und doch nicht recht verstanden haben. Das gilt für den kaiserlichen Beamten, der nicht zum Schöpfer eines Polizeistaates, wie für den Physiker, der nicht zum revolutionären Tribunen berufen war.

Politisches a priori

Ein jeder hat ein a priori seines politischen Bewußtseins, hat Voraussetzungen seines politischen Gedankengebäudes, die er als absolut selbstverständlich ansieht, die für ihn keiner Illusion unterliegen können ... Ich will nicht über andere urteilen, aber ich will für mich bekennen, daß in meinem Leben der Sozialismus lange, bevor ich seine wissenschaftlichen Doktrinen kennenlernte und verstand, ein solches religiöses Erlebnis war.

Friedrich Adler, 1944
(Erstveröffentlichung im Neuen FORVM, Oktober 1966)

[9Ebenda.

[10Über den Eindruck des Attentates auf den damaligen Thronfolger Erzherzog Karl siehe die Tagebuchaufzeichnungen seines damaligen Obersthofmeisters Graf Berchtold in H. Hantsch, Leopold Graf Berchtold, Graz 1963, II, S. 787f.

[11Alexander Spitzmüller, „... Und hat auch Ursach es zu lieben“, Wien, 1955, S. 168.

[12Schicksalsjahre Österreichs, Das Tagebuch Josef Redlichs, herausgegeben von F. Fellner, Graz, Köln 1953, I, S. 220f.

[13Vor dem Ausnahmegericht, S. 192f.

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