FORVM, No. 198/I
Juni
1970

Polnischer Polizeisozialismus

Im Anfang-April-Heft schilderte W. B. den Übergang von der Partei- zur Polizeiherrschaft in Polen. Hier exemplifiziert er seine Soziologie an Hand der jüngsten Geschichte, beginnend mit den Studentenunruhen im März 1968. B. ist Pole und Marxist (Biographie im Anfang-April-Heft). Er liefert in diesem, aus Warschau an uns gelangten Text eine authentische Bestätigung früherer Berichte im NF (Wiesenthal, Kommunofaschismus in Polen, NF Dez. 1969; Raina, Der Fall Kolakowski-Kuron-Modzelewski, NF März 1967; vgl. auch den Text der Rede Kolakowskis auf dem Schriftstellerkongreß 1968 sowie Auszüge aus dem Kongreßprotokoll, NF Mitte Febr. 1969).

voriger Teil: Polnischer Polizeisozialismus

Die Ereignisse des Frühlings 1968 in Polen können verschieden interpretiert werden. Aber bei ihrer Analyse sollten Erfahrungen aus der Vergangenheit nicht übergangen werden: die Atmosphäre des absoluten Drucks, der keinen kritischen Gedanken, keinen noch so schüchternen Versuch der Überprüfung von Tatsachen zuläßt, ist nicht dazu geschaffen, um „objektive Wahrheiten“ zu verkünden; alle in solchen Situationen durchgesetzten Beurteilungen von Fakten erweisen sich sehr bald als ordinäre, bewußt präparierte Fälschungen. Uns scheint es nicht unbedingt notwendig, daß die Marxisten die letzten sind beim Durchschauen von Ereignissen, die vor ihren Augen und mit ihrer Beteiligung stattgefunden haben. Sie dürfen sich nicht damit begnügen, ihren eigenen Leuten erst nach deren (oft posthumer) Rehabilitierung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

I. Gegen die „Revisionisten“

Auf Grund der offiziellen Äußerungen und Pressekommentare reduziert sich die Beurteilung der Märzereignisse 1968 auf folgende Feststellungen:

Die Studentenunruhen waren das Resultat zweier seit längerer Zeit vor sich gehender Prozesse:

  1. Revisionistische, antisozialistische Tätigkeit eines Teils der Geistesschaffenden, der sich in den geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Lehrstühlen und Instituten eingenistet hatte. Diese Einflüsse demoralisierten die Jugend, säten unter ihr den Samen der antisozialistischen Opposition, schufen ein günstiges Klima für verschiedene Arten aufrührerischer Tätigkeit unter Losungen der bürgerlichen Demokratie. Den Wissenschaftern kam in einem gewissen Augenblick ein großer Teil der Schriftsteller zu Hilfe, die auf einer Versammlung der Warschauer Sektion — unter dem Vorwand des Protestes gegen die Absetzung der „Totenfeier“ von Mickiewicz von der Bühne des Nationaltheaters — offen gegen die Politik der Regierung auftraten, womit sie den rebellischen Elementen unter der studentischen Jugend Schützenhilfe leisteten.
  2. Antisozialistische und antipolnische Umtriebe zionistischer, mit der zionistischen Weltbewegung verbundener Elemente. Sie attackierten die Politik der Partei wegen des Verhältnisses Polens zur Aggression Israels, wobei sie in breitem Umfang revisionistische Losungen ausnützten, um die Ideologie und Politik der Partei zu untergraben, bürgerliche, trotzkistische usw. Ideen zu verbreiten.

In der Folge verwirrten die revisionistischen und zionistischen Einflüsse einen Teil der nicht genügend aufgeklärten Jugend, die sich zu unverantwortlichen Exzessen hinreißen ließ. Während der von den Studenten hervorgerufenen Unruhen kam es zu Straßenkämpfen, an denen, neben allerlei dunklem Gesindel, auch Elemente teilnahmen, die deutlich von feindlichen Zentren geleitet waren.

Zum Glück bewiesen der Sicherheitsapparat und die zur Wahrung der Ruhe und Ordnung berufenen Kräfte sowohl Geschick als auch Entschlossenheit, und es gelang ihnen, rasch Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, die leitenden Zentren der aufrührerischen Elemente zu entlarven und zu entmachten. Sodann stellten die Behörden fest, daß die Hauptorganisatoren und Unruhestifter im akademischen Milieu kleine Gruppen der intelligenzlerischen Jugend waren, vorwiegend gut situiert und großenteils aus hochgestellten Kreisen stammend — und meist jüdischer Abstammung.

Diese offizielle Charakteristik der Studentenunruhen wäre — trotz der stereotypen polizeistaatlichen Annahme, daß jede Massenerscheinung nur aus einer bewußten Gruppe von Aufrührern und der bornierten, unverständigen Masse besteht — vielleicht akzeptabel, wenn es nicht gleichzeitig Tatsachen und Vorgänge gegeben hätte, welche die Allgemeinheit verblüfften, Tendenzen, die darauf hinwiesen, daß wir es mit einem geheimnisvollen Prozeß zu tun haben. Es zeigte sich, daß die Unterdrückung der Studentenbewegung nicht nur eine Wiederherstellung der Ordnung war, sondern daß zugleich Kräfte am Werke waren, die bei dieser Gelegenheit ihre seit langem vorbereiteten konkreten Pläne realisierten.

Auf einmal, wie aus dem Boden gestampft, tauchten Leute auf, die in der Pose von „Erneuerung“ verkündenden Ideologen Presse, Radio und Fernsehen okkupierten. Es vollzog sich irgendeine Wendung, wenn wir das Wort „Umsturz“ vermeiden wollen. Der interessanteste Zug dieser Wendung war ihr organisierter Charakter, war ihr ideologisches Rüstzeug, dem man auf den ersten Blick anmerkte, daß es von langer Hand vorbereitet worden war.

Die erste Intervention der Sicherheitsorgane im Hof der Warschauer Universität am 8. März 1968 war durch nichts gerechtfertigt. Der Verlauf der damaligen Studentenversammlung gab keinen Grund dafür; die Intervention fand statt, als die Studenten, nach einem Gespräch mit, übrigens zufällig, getroffenen Professoren, bereits auseinanderzugehen begannen. Einmütige Aussagen der Professoren bezeugen, daß die Studenten sich ruhig und zurückhaltend benahmen, daß es keine Wahrscheinlichkeit für Ausschreitungen gab.

Dasselbe geschah einige Tage später in Krakau. Der Rektor der Jagellonen-Universität bat den Sekretär des Woiwodschaftskomitees der Partei, er solle das Einschreiten der Miliz (Polizei — A.d.Ü.) auf dem Gelände der Universität verhindern, weil dazu absolut kein Grund vorhanden sei. Einige Minuten später betrat die Miliz die Universität.

Eine im voraus geplante, von den Sicherheitsorganen vorbereitete Unternehmung war auch das Einschreiten der „Arbeiterklasse“ im Hof der Warschauer Universität. Die Gruppe, die auf einigen Lastautos in den Hof einfuhr, bestand aus speziell ausgewählten ORMO-Leuten („Arbeitermiliz“, die in den ersten Nachkriegsjahren zum Kampf gegen die Reaktion gebildet wurde, jetzt aber vor allem für den Fall von Arbeiterunruhen aufrechterhalten wird — A.d.Ü.) und Polizeifunktionären. Sie begannen auf die Jugend „einzuwirken“, indem sie einzelne Studenten festnahmen und in Polizeiautos zerrten.

Die Studenten hatten keine Zweifel, mit wem sie es zu tun hatten, und manifestierten dies durch Rufe und Werfen von Münzen (womit sie ausdrücken wollten, daß die sogenannten „Arbeiter“ bezahlte Polizeispitzel waren — A.d.Ü.). Dies wurde dann zur Anklage benützt, daß „die Studenten die Arbeiterklasse mit Schmähungen überschütteten“.

Die ORMO-Leute hatten eine gewisse Anzahl wirklicher Arbeiter mitgebracht. Diese wandten sich an einen der im Hof anwesenden Professoren mit der Bitte, er solle ihnen erlauben, sich ins Auditorium maximum zurückzuziehen, weil sie mit dem, was hier vorging, nichts zu tun haben wollten.

Die Organe, die die Polizeiaktion an der Universität leiteten, waren von Anfang an bestrebt, der Aktion drastischen Charakter zu verleihen, um eine Reaktion der Studenten und die Empörung der Öffentlichen Meinung hervorzurufen. In so einem Fall können die Sicherheitsorgane dann gegenüber ihren Vorgesetzten als Unterdrücker einer bereits breiteren Erhebung, wenn nicht gar einer „Konterrevolution“, hervortreten. Alle Zeugen unterstreichen, daß die ORMO nicht darauf aus war, die Menge im Hof der Universität zu zerstreuen, sondern ein Massaker anzurichten. Man prügelte Professoren, obwohl ihre grauhaarigen und glatzköpfigen Schädel leicht von den studentischen zu unterscheiden waren, man schlug auf sie nicht nur in der Menge ein, sondern auch in den Hörsälen und Labors.

Um den studentischen Demonstrationen die erwünschte politische Färbung zu geben, wurden verschiedene Provokationen von der Polizei organisiert; zum Beispiel wurden regierungsfeindliche und antisowjetische Losungen am 8. März im Universitätshof gerufen. Ein „Student“ wurde auf frischer Tat von Kommilitonen ertappt — es zeigte sich, daß er einer der mit den Lastautos angekommenen Angehörigen der „Arbeiterklasse“ war.

Den im März 1968 vor sich gehenden Prozeß tarnte man mit Losungen, die wenigstens bei einem Teil des Volkes auf Unterstützung rechnen konnten. Die Studentenunruhen wurden als „arbeiterfeindlich“ und als Provokationen von Jugendlichen aus privilegierten Intelligenzschichten hingestellt. Man nützte die seit langem bekannte Tatsache, daß der Anteil der Arbeiter- und Bauernkinder unter der Studentenjugend niedrig ist.

II. Gegen die „Zionisten“

Sei dem ersten Tag war die Spitze des Angriffs vor allem gegen die „zionistischen Agenten des Imperialismus“ gerichtet. Die Presse nannte als die Hauptschuldigen der gegenwärtigen und aller vergangener Verbrechen fast ausschließlich „zionistische“ Namen. Presse, Rundfunk und Fernsehen entfesselten eine wütende Hetzkampagne, es kamen Losungen auf, die ihre Inspiration aus einem ganz anderen Lager als demjenigen der Linken schöpften: „Polen für die Polen“, „Säubert das Land von den Zionisten“ usw. Obwohl die Bezeichnung „Jude“ im allgemeinen vermieden wurde, war für alle klar, was gemeint war.

Die „antizionistische“ Kampagne enthielt Andeutungen, daß die nun durchgeführte Säuberung eine Fortsetzung des „Oktobers“ sei (es handelt sich um den sogenannten „polnischen Oktober“ d.J. 1956 — A.d.Ü.), der auf halbem Wege steckengeblieben sei. So nützte sie Stimmungen in einem gewissen Teil des Volkes und der Partei. Diese Kampagne erfüllte zum großen Teil die Rolle eines Anästhesiemittels bei der wichtigen Operation gegen die wissenschaftlichen Zentren, hauptsächlich (aber nicht ausschließlich) gegen die geisteswissenschatftlichen. Denn das war der Herd, von dem angeblich die bürgerlichen und revisionistischen Ideen, von denen die Jugend infiziert wurde, ausstrahlten. Und unter den Wissenschaftern gab es einen beträchtlichen Prozentsatz von Menschen jüdischer Herkunft; man nannte dies: „Personalunion des Revisionismus und Zionismus“. So wurde die Forderung aufgestellt, diese Zentren zu liquidieren, die Revisionisten von den Lehrstühlen zu entfernen und Gesetze zu schaffen, die eine wirksame Kontrolle des wissenschaftlichen Personals ermöglichen würden.

Man behauptete eine Gefährdung der sozialistischen Gesellschaftsordnung, man sprach vom Versuch eines Staatsstreichs, es entstand die Atmosphäre eines Ausnahmezustandes, in dem Schritte möglich wurden, die unter normalen Bedingungen unpopulär und schwer durchführbar gewesen wären. Man sprach einerseits von Abwehrmaßnahmen gegen eine „Bedrohung“, andererseits von Erneuerung und Fortsetzung des Oktobers. Gegenüber manchen Professoren, die wegen Revisionismus beseitigt wurden, erhob man die Beschuldigung, sie seien früher Stalinisten gewesen. In den Augen weniger orientierter Leute konnte man so den Eindruck erwecken, daß diese Professoren wegen ihres Stalinismus entlassen wurden.

In der Atmosphäre eines absoluten Drucks mit Hilfe aller Kanäle der Massenkommunikation, durch Versammlungskampagnen und sofortige Repressalien gegen jede nüchternere Stimme verstummten jene Menschen, die bisher in der öffentlichen Meinung etwas gegolten hatten. Die Welle spülte neue, bisher unbekannte Menschen an die Oberfläche, Leute, die nicht viel oder nichts zu sagen hatten, begannen plötzlich in den wichtigsten Presseorganen lange Artikel zu veröffentlichen, in denen sie die polnische Wissenschaft, Philosophie, Ökonomie, Soziologie reformierten. Einer dieser Autoren begann seinen Artikel im Zentralorgen der Partei mit der Feststellung, daß „wir endlich Redefreiheit“ haben, vom Terror der Revisionisten befreit sind.

Es stellt sich die Frage, welche Dispositionszentren diese breitangelegte Aktion geleitet haben. Es scheint, daß niemand diese Frage beantworten kann. Es wäre eine Täuschung — viele sind ihr erlegen — zu glauben, daß jemand alles koordinierte. Zentren, von denen das neue Klima bestimmt wurde, gab es mehrere. Sie hatten sich lange Zeit hindurch vorbereitet; schließlich, unter günstigen Bedingungen, begannen sie selbsttätig zu wirken. Der Parteiapparat, zumindest sein oberer Teil, wurde durch den Lauf der Ereignisse verblüfft und weit hinten gelassen.

Die Parteileitung bemühte sich unmittelbar nach den Studentenunruhen den sich anbahnenden Prozessen einen anderen Charakter aufzuprägen, vor allem die antisemitische Hetze aufzuhalten. Es waren Versuche, den Lauf eines reißenden Stroms umzukehren.

Der Verlauf der meisten Parteiversammlungen, die auf ihnen durchgeführten Säuberungen und die hierbei angewandten Methoden wiesen darauf hin, daß verschiedene Instanzen der Sicherheitsorgane dabei über das dichte Netz ihrer Agenten Regie führten. Sie lieferten Listen von Personen, die es anzugreifen galt, stellten das Material zu den Anklagen bereit, wiesen einzelnen Leuten ihre Rollen zu usw.

Aber auch im oberen Parteibereich waren die Stimmen nicht selten, die nicht nur die Richtung der durchgeführten Änderungen vollauf akzeptierten, sondern auch ihre Formen. Was sich nicht mehr offen rechtfertigen ließ, schrieb man dem revolutionären Übereifer zu, anerkannte man als unvermeidliche Kosten. „Wo gehobelt wird, gibt es Späne“, hieß es auf dem XI. Plenum des ZK.

III. Gegen die Intellektuellen

Sehr rasch geriet im Wirbel der Ereignisse jene Angelegenheit in Vergessenheit, die die ganze Entwicklung eingeleitet hatte — die Aufführung der „Totenfeier“ von Mickiewiecz. Bloße Propaganda sind die Vorwürfe, daß der Regisseur (es handelt sich um den bekannten Regisseur Dejmek — A.d.Ü.) Mickiewicz verfälscht oder absichtlich hervorgehoben habe, was er diskreter hätte behandeln sollen. Die Aufführung sahen vor der Premiere die politischen Zensoren und hatten gegen sie nichts einzuwenden.

Man darf aber nicht vergessen, daß die Empfänglichkeit des Zuschauerraums immer und überall mit der Verringerung der Redefreiheit zunimmt. Je weniger in Druck und Wort das wiederklingt, was die Allgemeinheit weiß, denkt und fühlt, um so leichter greift das Theaterpublikum Assoziationen auf, die weder dem Autor noch dem Regisseur in den Sinn kamen.

Bei der „Totenfeier“ reagierte das Publikum auf Äußerungen über den zaristischen Despotismus, die zaristischen Polizeimethoden, die zaristischen Sicherheitsorgane, die stumpfe bürokratische Maschine des Zarismus. Es bedarf großer Dummheit oder bewußter Verlogenheit, um diese Reaktionen des Publikums als antisowjetische Demonstrationen zu interpretieren. Das Publikum reagierte vor allem darauf, was es als Anspielung auf die aktuell in Polen herrschenden Zustände empfand.

Das Verhalten des Publikums wurde von den Behörden als Casus belli betrachtet, als etwas, das gegen die Staatsinteressen verstieß. Was machte das Publikum? Es applaudierte bei manchen Sätzen, bei denen es nach Ansicht unserer Behörden nicht applaudieren sollte! Wer bestimmt, wann man zu klatschen hat und wann nicht? Die Kultur- oder Propagandaabteilung des ZK? Das Ministerium für Staatssicherheit?

Der Beschluß über die Einschränkung der Vorstellungen, von dem sich die Kunde blitzschnell in der ganzen Stadt verbreitete, verschärfte die Situation, der Applaus wurde stärker — diesmal schon als Trotzreaktion auf die Entscheidung der Behörden. Die letzte, im vorhinein als letzte angesagte Vorstellung endete mit einer Manifestation im Theater und vor dem in der Nähe befindlichen Mickiewicz-Denkmal. Übrigens hatten auch diese Demonstrationen eher symbolischen Charakter. Aber die „Organe“ traten gleich in Aktion. Die kleine Gruppe von Jugendlichen wurde, als sie schon auseinanderging, aufgegriffen, ins Gefängnis gesteckt, Verhören unterzogen, vor Polizeigerichte gestellt.

Wenn jemand nach einem Mittel suchen wollte, um das ziemlich passive und desintegrierte Studentenmilieu zu beleben, könnte er kein besseres finden. Den Kollegen zu helfen, die für eine Demonstration vor dem Denkmal des Nationaldichters zu hohen Geldstrafen verurteilt worden waren, erschien sogar den am wenigsten Engagierten als elementare Pflicht. Protestbriefe gegen das Verbot der „Totenfeier“, eine Geldsammlung für die Bestraften — diese zwei Mittel hoben allmählich die Temperatur unter den Studenten. Ein zusätzlicher Impuls für die Erhitzung der Gemüter war die Tatsache, daß die „Organe“ den umlaufenden Protestbriefen und ihren Kolporteuren nachzuspüren begannen.

Natürlich stellten sich die politischen Behörden voll auf den Standpunkt der polizeilichen: nicht die Absetzung der „Totenfeier“, nicht die Methoden gegenüber der Jugend, die zum Mickiewicz-Denkmal marschiert war, nicht eine Reihe anderer Repressalien gegen die Studenten waren schuld, sondern eine Gruppe von Aufwieglern, zionistisch-revisionistische Agenten. So ähnlich klangen immer und klingen bis heutzutage alle Polizeirapporte der Welt.

Die Weltanschauung der Polizei sollte nicht wundernehmen — sie ergibt sich aus der Funktion, die der Polizeiapparat erfüllt. Beunruhigend ist jedoch, daß unsere politischen Behörden diese Beurteilung als treue Widerspiegelung der Wirklichkeit hinnahmen und sie zur Grundlage ihres Handelns machten.

Man muß nicht sehr tief im sozialen Leben Polens stecken, um zu verstehen oder wenigstens zu ahnen, was für eine Erschütterung das Verbot der „Totenfeier“ war. Es konnte kein beredteres Symbol geben für den schon seit längerer Zeit dauernden Prozeß der Einengung des gesellschaftlichen Lebens, des Engerziehens der Schlinge der Zensur, der Verringerung des Kreises der Probleme, über die man schreiben und diskutieren konnte. Es konnte kein krasseres Symbol geben für die von Jahr zu Jahr wachsende Einmischung der Sicherheitsorgane in alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens.

Wie groß war die Reichweite dieser Erschütterung? Die Frage ist schwer zu beantworten. Ein Resultat war zweifellos: aus den Berichten der Bibliothekare folgt, daß sich das ganze Land aufs Lesen stürzte, in den Bibliotheken formten sich lange Schlangen, der auf die „Totenfeier“ Wartenden.

Jene, die wegen der Warschauer Versammlung der Schriftsteller so viel Lärm machten, waren blind dafür, daß sie selbst durch ihr Vorgehen gewisse Gruppen in eine Zwangslage drängten, in eine Lage, in der sogar der größte Feigling und Opportunist gezwungen war, zu zeigen, daß er ein Mensch ist.

Ein Literat, der gegen die Konfiszierung des größten Nationaldramas nicht protestieren würde, müßte das Gefühl haben, daß er seiner sozialen und nationalen Pflicht abtrünnig wird, daß er Verrat übt. Für jeden, der sich vom Volk nicht durch eine dicke Mauer abgetrennt hatte, mußte es klar sein, daß das Verbot der „Totenfeier“ Erschütterung hervorrufen mußte.

Es kann immer passieren, daß die Macht einen Fehler begeht, dessen Folgen sie nicht vorausgesehen hat. Das widerfährt besonders oft einer autokratischen Macht, die nicht sonderlich mit den Folgen rechnen muß.

Im Falle der „Totenfeier“ wäre es noch Zeit gewesen, sich zurückzuziehen. Aber der letzte kommunistische Führer, der sich öffentlich zu Fehlern bekannte, war Lenin. Nach ihm irrte sich die sozialistische Macht nie mehr. Jeder, der es wagte, das Gegenteil zu behaupten, wurde vernichtet.

IV. Gegen die Juden

Im Jahre 1968 gab es in Polen eine Handvoll Juden, etwa 25.000, weniger als 1 Prozent der Bevölkerung. Die überwiegende Mehrheit war in Intelligenzberufen beschäftigt: Besonders augenfällig war der Anteil der Juden in manchen schöpferischen Berufen (Literaten), in der Wissenschaft, im sogenannten ideologischen Apparat (Presse, Radio, Fernsehen, Verlage). Als die systematische Verschärfung der Polizeimethoden und der Zensur zu einer Situation führte, in der die letzten Zentren des „Liberalismus“ liquidiert werden konnten — in den Gesellschaftswissenschaften, unter den Literaten, im ideologischen Apparat —, wurde es notwendig, die Abrechnung mit der Intelligenz durch ein bequemes Schild zu tarnen: durch die bewährte Losung des Antisemitismus.

Das Signal zur Mobilisierung wurde nach dem Überfall Israels auf die arabischen Staaten gegeben. In einer autoritativen Erklärung (der Autor spielt auf die Rede Gomulkas an, in der dieser von einer jüdischen „fünften Kolonne“ in Polen sprach — A.d.Ü.) wurden polnische Bürger jüdischer Abstammung als faktische oder potentielle Agenten feindlicher imperialistischer Kräfte bezeichnet.

Die Zeit zwischen Juni 1967 und März 1968 war eine Zeit der Vorbereitung. Verschiedene Organe der Sicherheit führten eine systematische Kampagne, verbreiteten Gerüchte über von Juden verübte Mißbräuche, zum Beispiel im Polnischen Verlag der Wissenschaften. Diese Institution wurde als von Juden beherrscht hingestellt, man warf ihr vor, sie hätte dem Staat große finanzielle Verluste zugefügt, die Geschichte der Nation in einem falschen Licht dargestellt; es handle sich um ehemalige Stalinisten, die jetzt ein Zentrum zionistischer und revisionistischer Tendenzen gebildet hätten.

Am charakteristischsten für die Methoden dieser Wühlarbeit war die breite, das ganze Land umfassende Kampagne gegen den damaligen Minister der Nationalen Verteidigung. Man nützte die Tatsache, daß seine Gesichtszüge Assoziationen mit jüdischen Zügen wecken konnten. Man munkelte viele Monate lang mit erstaunlicher Beharrlichkeit, daß an der Spitze des Heeres ein „Jude“ stehe. Die Kampagne führten militärische Organe unter engster Mitwirkung von zivilen Organen der Sicherheit. Auf Versammlungen forderten Offiziere die Beseitigung des Juden von seiner Stellung und überhaupt die Säuberung des Heeres von „fremden Elementen“, Dieses Postulat wurde dann seit Juni 1967 in einer Atmosphäre fabrizierter Beschuldigungen systematisch verwirklicht.

Angesichts einer weitverzweigten unterirdischen Aktion auch gegen andere Personen des Apparats drückte die Partei beide Augen zu. Das konnte nicht anders verstanden werden denn als grünes Licht. Dies war eine Zeit der ungewöhnlich intensiven Penetration des Sicherheitsapparats in die verschiedensten Gebiete des Lebens, vor allem in die Partei selbst. Die Parteiorganisationen, bis zu einem gewissen Grad auch die Parteiinstanzen waren von Leuten besetzt, die, von geheimnisvollen Zentren geleitet, die Initiative in ihre Hände nahmen, Stil und Methoden des Handelns aufzwangen.

Die Studentenunruhen wurden zum Vorwand für den Beginn der eigentlichen Aktion. Nach einem zwei Wochen währenden Sperrfeuer durch Presse, Rundfunk und Fernsehen, in dem es nicht an Argumenten fehlte, die direkt aus dem traditionellen antisemitischen Arsenal geschöpft waren, begann eine regelrechte Hexenjagd. Den Anfang setzte die Entfernung von Menschen aus der Partei und den Betrieben, deren studierende Kinder mit den Unruhen in Verbindung gebracht werden konnten. Institutionen erhielten fertige Listen der in ihnen beschäftigten Juden, peinlich genaue Listen — es kam vor, daß die Betroffenen erst aus diesen Listen erfuhren, daß sie Juden waren.

In Parteiversammlungen und auch in Versammlungen ganzer Belegschaften gaben bestimmte Regisseure den Ton an; sie verfügten über Angaben, die nur aus Polizeiarchiven stammen konnten. Es war ein „Freistilkampf“, in dem alle Anklagen und Insinuationen erlaubt waren. Das alles spielte sich in einer Stimmung ab, in der irgendeine Verteidigung auch vor den absurdesten Anschuldigungen unmöglich war. Für den schüchternsten Versuch, solche Anklagen in Frage zu stellen, beseitigte man auch jene wenigen Nichtjuden, denen die elementarste Anständigkeit gebot, für die Verleumdeten Partei zu ergreifen.

In dieser Zeit genügte es zum Beispiel, wenn jemand erklärte, er habe gesehen, daß der Angeklagte sich über den Sieg Israels gefreut hätte.

In vielen Institutionen wurden „Operationsgruppen“ geschaffen, welche die Säuberungen durchführten und das Ruder des politischen Lebens ergriffen. Man nannte sie in Polen die „Hunwejbins“, und ihre Tätigkeit trug in der Tat viele Züge der chinesischen Kulturrevolution.

Zwar wurde offiziell festgestellt, daß nicht die Juden, nicht die „Zionisten“, sondern die „Revisionisten“ die Hauptgefahr bilden. Diese Feststellung wies treffend auf den Sinn der ganzen Aktion hin, einen Sinn, über den sich die Organisatoren zu gut Rechenschaft abgaben, als daß man sie hätte daran erinnern müssen. Aber der Angriff auf die Juden war ein ungemein bequemer Deckmantel.

Der Standpunkt der obersten Parteiorgane war abwartend, zweideutig. Die Aktion selbst wurde im Grunde gebilligt, Vorbehalte weckten nur gewisse Formen. Man versuchte, die offene antisemitische Hetze in der Presse zu zügeln, um dem Ausland keine Argumente zu liefern.

Die Organe, deren Aufgabe es war, das Land von den Juden zu säubern, wußten, daß diese Aktion nicht lange hinausgezogen werden darf, sie gingen denn auch sehr eilig vor. Es handelte sich darum, eine möglichst große Anzahl von Menschen dadurch, daß man ihnen die Möglichkeit des Broterwerbs nahm, eine Atmosphäre des Scherbengerichts schuf und ihnen jegliche Zukunftsaussichten raubte, zur Emigration zu zwingen.

Die antisemitische Kampagne terrorisierte alle, die sich noch ihre Denkfähigkeit, gewöhnliche menschliche Anständigkeit und die Sorge um das Schicksal des Landes bewahrt hatten. An die Oberfläche gelangten korrupte, reaktionäre Kräfte, die jeden Weg einzuschlagen bereit sind. Der Stempel, den sie dem Leben des Landes aufdrücken, leitete eine neue Phase unserer Geschichte ein.

Der Epilog der fast tausendjährigen Geschichte der Juden in Polen geht seinem Abschluß entgegen, in einem Land, das sich dessen rühmte, daß es immer, sogar im finstersten Miittelalter, ein Hort für die verfolgte und vertriebene jüdische Bevölkerung war. Zwar gab es in Polen in verschiedenen Perioden Antisemitismus, und die Anhäufung von Juden auf unserem Boden bildete ein nicht zu unterschätzendes soziales Problem. Aber nie zuvor in unserer Geschichte wurde die Losung des Antisemitismus auf die staatlichen Fahnen geschrieben, nie war sie das nationale Programm.

Es hätte scheinen können, daß nach der Ermordung fast der gesamten, drei Millionen zählenden Masse der polnischen Juden durch die Hitlerfaschisten das Problem für immer verschwinden werde. Das erwies sich als Illusion. Um künstlich ein Problem zu schaffen und auszunützen, genügte die Handvoll der aus der nazistischen Hölle Entkommenen.

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