FORVM, Heft 173
Mai
1968

Zur Frage des praktischen Syllogismus

In Fortsetzung der Aufsätze von Hans Kelsen, „Recht und Logik“, FORVM‚ Oktober sowie November 1965, ferner der darauf bezüglichen Kritik von Robert Walter, „Logik und Recht“, in dem Symposion zu Kelsens 85. Geburtstag, Neues FORVM‚ Oktober 1966, freuen wir uns über den nachfolgenden wegweisenden Beitrag des Gründers und Meisters der „Wiener Schule“ der Jurisprudenz, den wir zu den frühesten und treuesten FORVM-Freunden respektvoll zählen dürfen.

Ein praktischer Syllogismus ist eine logische Schlußfolgerung, in der — zum Unterschied von einem theoretischen Syllogismus — Obersatz, Untersatz und Schlußsatz nicht Aussagen sind, die wahr oder unwahr sein können, wie in dem Syllogismus: Alle Menschen sind sterblich — Sokrates ist ein Mensch — also ist Sokrates sterblich, sondern der Obersatz ein Imperativ, der Untersatz eine Aussage und der Schlußsatz wieder ein Imperativ ist; Imperative aber weder wahr noch unwahr sind. Ein solcher praktischer Syllogismus ist z.B. die Schlußfolgerung, in der der Obersatz lautet: ‚‚Liebet eure Feinde“, der Untersatz: „Maier ist der Feind des Schulze“, und der Schlußsatz: „Schulze liebe Maier.“ In diesem Syllogismus wird die Geltung des Imperativs, der den Schlußsatz bildet, aus den beiden Prämissen ebenso logisch abgeleitet oder deduziert wie die Wahrheit des Urteils: „Sokrates ist sterblich“ aus der Wahrheit der Prämissen: „Alle Menschen sind sterblich“, „Sokrates ist ein Mensch“. Ein solcher praktischer Syllogismus ist jedoch — wie ich in meiner Abhandlung ‚‚Recht und Logik“ im Oktober- und November-Heft 1965 dieser Zeitschrift gezeigt habe — logisch nicht möglich. Im wesentlichen darum, weil die Logik zwar sagen kann: Wenn es wahr ist, daß alle Menschen sterblich sind und daß Sokrates ein Mensch ist, dann ist wahr, daß Sokrates sterblich ist, ob eine solche Aussage tatsächlich gemacht wird, d.h. Sinn eines realen Denkaktes ist oder nicht ist, ja sogar, wenn die Aussage gemacht wird: „Sokrates ist nicht sterblich“. Aber die Logik kann nicht sagen: Wenn der Imperativ — als Norm — gilt: „Liebet eure Feinde“, und wenn die Aussage wahr ist: „Maier ist der Feind des Schulze“, gilt der Imperativ — als Norm —: „Schulze liebe Maier“. Denn dieser Imperativ — als Norm — gilt nur, wenn er als Sinn eines realen Willensaktes gesetzt ist. Die Geltung, das ist die spezifische Existenz, einer Norm ist durch die Existenz des Willensaktes bedingt, dessen Sinn sie ist. Die Wahrheit einer Aussage ist nicht deren Existenz, sondern deren Eigenschaft, und diese Eigenschaft ist nicht bedingt durch die Existenz des Denkaktes, dessen Sinn sie ist. Die Geltung des individuellen Imperativs: „Schulze liebe Maier“ kann aus der Geltung des generellen Imperativs: „Liebet eure Feinde“ und der Wahrheit der Aussage: „Maier ist der Feind des Schulze“ nicht abgeleitet werden; aber sie kann, wenn dieser Imperativ als Sinn eines realen Willensaktes tatsächlich gesetzt wird, mit der Geltung des generellen Imperativs „Liebet eure Feinde“ und der Wahrheit der Aussage „Maier ist der Feind Schulzes“ begründet werden.

In dieser Hinsicht möchte ich — in Ergänzung meiner Ausführungen in der oben zitierten Abhandlung — auf den Aufsatz: „Der praktische Syllogismus“ von Manfred Moritz (Theoria, Vol. XX, 1954, Part 1-3, S. 78-127) verweisen. Moritz sagt (S. 81): „Die logischen Schlußregeln gelten für Sätze, die wahr oder falsch sind. Die Bedingung dafür, daß ein Schluß gültig sein soll, ist die, daß der Schlußsatz wahr ist, wenn die Prämissen wahr sind. Diese Bedingung ist aber prinzipiell nicht erfüllt, wenn es sich um Prämissen handelt, die nicht Urteile, sondern Imperative sind. Denn die imperativen Prämissen sind nie wahr, da sie weder wahr noch unwahr sind. Dasselbe gilt entsprechend auch für den Schlußsatz: Auch für diesen Satz, den ‚abgeleiteten‘ Imperativ, gilt, daß er weder wahr noch falsch sein kann. Die Voraussetzung für die Anwendung logischer Schlußregeln auf Imperative ist nicht gegeben. (Von mir hervorgehoben.) Syllogismen, in denen eine Prämisse oder beide Prämissen nicht Urteile, sondern imperative Sätze sind, sind als ‚praktische Syllogismen‘ bezeichnet worden.“ Moritz nimmt also an, daß es praktische Syllogismen nicht geben kann. Moritz gibt als Beispiel (aus Jörgen Jörgenson, „Imperatives and Logic“, Erkenntnis, Bd. 7, 4; S. 288): „Keep your promises — This is a promise of yours — Therefore: Keep your promise.“ Zu diesem Beispiel sagt er (S. 82): Man könne „den Imperativ ‚Halte dieses dein Versprechen!‘ nicht aus dem Imperativ ‚Halte alle deine Versprechen!‘ und dem Urteil ‚Dies ist ein Versprechen, das du gegeben hast‘ ableiten.“ Aber Moritz hält für logisch möglich, daß „ein Richter sein richterliches Urteil durch das Gesetz begründen kann“ (S. 83). Moritz bezeichnet (S. 84) als sein Problem, „wie nämlich richterliche Urteile durch die bestehenden Gesetze ‚begründet‘ werden können.“ S. 87 sagt Moritz ausdrücklich: „Praktische Syllogismen sind unmöglich“ und er fügt hinzu, er wolle zeigen, „daß das richterliche Urteil mit Hilfe eines Imperativs ‚motiviert‘ werden kann.“ Unter ‚‚motiviert“ versteht er offenbar „begründet“, aber nicht logisch abgeleitet. Moritz sieht somit, daß das vorliegende Problem die Begründung des richterlichen Urteils durch das Gesetz, das heißt aber — was Moritz nicht zu sehen scheint — die Begründung der Geltung der durch den Richter zu setzenden individuellen Norm durch die Geltung der von ihm anzuwendenden generellen Norm ist. Denn er sagt S. 108: „Auch ohne daß ein solcher individueller Imperativ aus dem generellen Gesetz abgeleitet wird, kann man entscheiden, ob das individuelle gebotnormierte Subjekt den generellen Imperativ befolgt hat oder nicht. Der Umweg über einen individuellen Imperativ ist nicht notwendig; wie früher gezeigt, ist er auch nicht möglich.“ Dieser „Umweg“ ist aber notwendig und ist kein Umweg, denn es ist ja die Begründung der Geltung dieses Imperatives, d.i. der individuellen Norm, auf die es ankommt. Daß diese Geltung nicht logisch aus der Geltung der generellen Norm gefolgert werden kann, steht der Begründung der Geltung der individuellen Norm durch die Geltung der generellen Norm nicht im Wege. Das ist es ja gerade, was Moritz zu zeigen versucht. Man entscheidet, daß der Richter den generellen Imperativ „befolgt“ hat oder nicht befolgt hat, indem man entscheidet, daß der Inhalt des von ihm gesetzten individuellen Imperativs dem Inhalt des von ihm anzuwendenden generellen Imperativs entspricht. Moritz sagt ja selbst (S. 127) „Ein richterliches Urteil ist dann durch das Gesetz motiviert (und das heißt, nach Moritz, ‚begründet‘), wenn es berechtigt ist, zu sagen, daß der Richter das Gesetz befolgt hat, wenn er dieses Urteil (d.h. ein Urteil bestimmten Inhalts) verkündet, d.h. wenn es berechtigt ist, zu sagen, daß diese richterliche Handlung eine Befolgung des Gesetzes ist.“ Und er fügt — in Parenthese — hinzu: „Verkündet der Richter etwa ein Urteil mit einem anderen Inhalt, dann hat er nicht die Handlung ausgeführt, die ihm geboten ist.“ Es kommt also ganz wesentlich auf den Inhalt des richterlichen Urteils an. Die Begründung dieses Urteils ist es ja — wie Moritz richtig zu Beginn der Darstellung seiner Theorie feststellt —, die in Frage steht. Die Feststellung, was der generelle Imperativ — das ist die generelle Norm — vorschreibt, ist zwar in der Tat — wie Moritz betont — ein Akt des Richters; aber ein Akt, der einen ganz bestimmten, in der generellen Norm bestimmten Inhalt hat. Worauf die generelle Norm zielt, ist die Geltung einer individuellen Norm, die der generellen Norm entspricht; und das Gesetz schreibt nur darum einen Akt des Richters vor, weil diese individuelle Norm nur gelten kann, wenn sie als Sinn eines Aktes des Richters auftritt, durch einen Willensakt des Richters gesetzt ist; so wie ja auch die generelle Norm nur gilt, wenn sie durch einen Akt des Gesetzgebers gesetzt ist, dessen Sinn diese generelle Norm ist. Das Problem ist die Natur der Beziehung zwischen der Geltung zweier Normen, einer generellen und einer individuellen Norm. Wesentlich ist, daß die durch den Richter gesetzte individuelle Norm der generellen durch den Gesetzgeber gesetzten Norm entspricht. Darin liegt ja die ‚‚Begründung“ der Geltung jener durch die Geltung dieser. Daß der Richter die generelle Norm „befolgt“, ist ein sekundäres Element, d.h. nur die Bedingung, unter der die individuelle, von ihm gesetzte Norm der generellen, im Gesetz enthaltenen Norm, entspricht. Daß das richterliche Urteil durch das Gesetz „motiviert“ sein muß — wie Moritz formuliert — ist eine sehr fragwürdige Terminologie. Denn unter ‚‚motivieren“ versteht man, dem üblichen Sprachgebrauch nach, daß der Richter die der generellen Norm entsprechende individuelle Norm darum setzt, weil er der ihm bewußten generellen Norm entsprechen will. Moritz hält — in Konflikt mit dem Sprachgebrauch — den Ausdruck: ‚‚das Urteil ist begründet“ mit dem Ausdruck: „das Urteil ist motiviert“, für gleichbedeutend. Denn er sagt S. 110: „Das Urteil ist dann durch das Gesetz begründet, wenn es unter den Begriff des Urteils fällt, das im Gesetz angegeben ist. Anders ausgedrückt: das richterliche Urteil ist dann durch das Gesetz motiviert, wenn es zu der Klasse der Urteile gehört, die im Gesetz angegeben sind.“ Aber „motiviert“ ist das Urteil durch das Gesetz nur dann, wenn der Wille des Richters, dem ihm bewußten Gesetz zu entsprechen, zu seiner dem Gesetz entsprechenden Entscheidung führt. Aus welchen „Motiven“ der Richter die der generellen Norm entsprechende individuelle Norm setzt, ist irrelevant. Er kann sie setzen, nicht weil er das Gesetz — wie Moritz sagt — „befolgen“ will, sondern etwa weil er die individuelle Norm, die er setzt, in dem konkreten Fall für gerecht hält. Moritz sagt S. 115/116: ‚‚In juristischem Zusammenhang scheint es zu genügen, wenn die gebotene Handlung ausgeführt wird. Es scheint nicht notwendig zu sein, die gebotene Handlung auszuführen, weil sie geboten ist. Im allgemeinen scheint die bloße Koinzidenz von gebotener und ausgeführter Handlung zu genügen“, das heißt: wenn eine der generellen Norm entsprechende individuelle Norm gesetzt wird und in Geltung tritt, aus welchen Motiven immer das geschieht. Das scheint nicht nur so, das ist so. Und die Koinzidenz, auf die es ankommt, ist die zwischen der von dem Richter anzuwendenden generellen und der von ihm in dieser Anwendung gesetzten individuellen Norm.

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