Heft 4-5/2003
August
2003

„… eines konstruktiven Gedankens nicht fähig …“

Professor XY: Wenn Sie an die Macht kommen, stellen Sie mich sicher an die Wand!
Agnoli: Wo denken Sie hin, Herr Professor. Wenn wir an die Macht kommen, sind Sie auf unserer Seite. Sie sind doch immer auf der Seite der Macht.

Was machen Revolutionäre in Zeiten, die so gar nicht revolutionär sind? Die meisten passen sich an, suchen sich neue Ziele im Rahmen dessen, was der berüchtigte „Verfassungsbogen“ zulässt, freilich nicht ohne ihre Vergangenheit in die neue Identität zu integrieren, d.h. nicht ohne zu betonen, eigentlich ja schon immer für Rechtsstaat und Demokratie gewesen zu sein. Gut, gegen den Staat hätten sie schon einmal agitiert, aber nur, weil der Staat früher ja auch ganz schlimm gewesen sei und mit der freien, pluralistischen und gerechten Gesellschaft von heute nichts zu tun gehabt habe. Andere wiederum resignieren ob der Aussichtslosigkeit und Isoliertheit der eigenen Position, dichten sich konsequent gegenüber neuen Erfahrungen ab und werden Zyniker. Was auch immer auf der Welt geschehen mag, sie nehmen es mit einem uninteressierten Achselzucken zur Kenntnis, schließlich haben sie es ja schon immer gewusst. Ganz wenige nur sind in der Lage, sich weder von der Übermacht der Verhältnisse, noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen zu lassen.

Am 4. Mai dieses Jahres ist Johannes Agnoli 78jährig in Lucca verstorben, unweit jenes Hauses in den toskanischen Bergen, in das er sich nach seiner Emeritierung zu Anfang der neunziger Jahre zurückgezogen hatte. Über dreißig Jahre hatte Agnoli am Berliner Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin Politikwissenschaft unterrichtet. Als Staatsfeind auf dem Lehrstuhl hatte er gezeigt, dass der Zweck eines Studiums nicht darin bestehen muss, stromlinienförmige Karrieristen heranzuziehen. Seine Aufgabe sah er vielmehr darin, als radikaler Aufklärer ein Projekt Kants fortzusetzen: Die Menschen über die wahre Beschaffenheit der politischen Ordnung, die „lügenhafte Publizität“ der Verfassung in Kenntnis zu setzen. Gemäß dem Marxschen kategorischen Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ ist, bestimmte Agnoli die Aufgabe seiner wissenschaftlichen Tätigkeit: „Die Abschaffung des objektiven, durchaus interessierten, also besonderen Interessen zweckdienlichen Zwangscharakters der Gesellschaft: zu diesem Ende soll Politische Wissenschaft betrieben werden.“ [1]

Kritik der Politik also: Diese dem jungen Marx entlehnte Formulierung war es, die Agnolis erfrischend unzeitgemäßes Thema charakterisierte. Während noch die vermeintlich am weitesten links stehenden Wissenschafter in den Jahren nach 1968 ihren ganz persönlichen Marsch durch die Institutionen antraten, um auf je eigene Weise ihren Frieden mit den Verhältnissen zu machen, hatte Agnoli für den daraus resultierenden Reformismus nichts übrig. Weder beklagte er das Auseinanderfallen von Norm und Realität, wie etwa die „kritische Politikwissenschaft“ der Marburger Schule dies betreibt, noch hatte er auf andere Art und Weise der Politik irgendwelche, und seien es auch noch so kritisch gemeinte Vorschläge zur Verbesserung und Aufrechterhaltung der Herrschaft von Menschen über Menschen zu machen. All diesen reformistischen Illusionen gegenüber hielt er an der unpopulären Perspektive einer revolutionären Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse fest. Und obwohl Agnoli Zeit seines Lebens Hegelianer geblieben ist, hielt er von einer „dialektischen Aufhebung“ der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Institutionen herzlich wenig. Er vertrat ein Programm der radikalen Abschaffung von Kapital und Staat als Vorbedingung der freien Assoziation freier Menschen, sollte diese tatsächlich einmal die geschichtliche Bühne betreten und die „Vorgeschichte des Menschen“ (Marx) beenden.

Dabei sah es zu Beginn nicht danach aus, als ob aus dem 1925 in Norditalien geborenen Agnoli ein hartnäckiger kommunistischer Kritiker werden sollte. Die erste Station seines politischen Lebens war eine Jugendorganisation, allerdings keineswegs diejenige der Kommunistischen Partei, sondern eine am ganz anderen Ende des politischen Spektrums beheimatete: Agnoli war im Alter von 17 Jahren Funktionär der „Gioventù Italiana del Littoria“, der italienischen faschistischen Jugendorganisation. Nach Querelen mit seinen Vorgesetzten meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst in der deutschen Wehrmacht. Der Krieg endete für Agnoli in einer dreijährigen britischen Kriegsgefangenschaft in Ägypten - eine Zeit, die er im Rückblick stets als eine der wichtigsten und besten Jahre seines Lebens betrachtete. 1948 wurde Agnoli nach Deutschland gebracht und entlassen. Mangels Alternativen begann er als Hilfsarbeiter in einer Holzfabrik zu arbeiten, bis er die Erlaubnis zum Studium in Tübingen erhielt. In diese Zeit fiel der Beginn seiner Auseinandersetzung mit Marx: An der Universität hatte Agnoli Vorträge gehört, in denen klipp und klar bewiesen wurde, dass zuerst der Geist existiert habe und erst später die Materie entstanden sei – für den jungen Studenten Grund genug, sich anhand der Marxschen Schriften vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Nach seiner Promotion zum Doktor der Philosophie unterrichtete Agnoli in Tübingen und Stuttgart, bevor er eine Assistentenstelle in Köln antrat. Lange sollte ihm diese freilich nicht erhalten bleiben: Im Zuge einer Diskussionsveranstaltung erklärte Agnoli, die Ostpolitik der Bundesrepublik sei gescheitert und diese solle endlich die DDR als Staat anerkennen. Eine Woche später wurde ihm schriftlich mitgeteilt, er solle sich nach einer anderen Stelle umsehen. So kam der frisch entlassene Assistent nach Berlin, wo er über drei Jahrzehnte hinweg Studenten erfreute und Professorenkollegen verärgerte.

1967 veröffentlichte Agnoli zusammen mit dem Psychologen Peter Brückner ein schmales Bändchen mit dem Titel „Die Transformation der Demokratie“. Gegenstand von Agnolis Beitrag ist die „Involutionstendenz“ moderner Demokratien. Analysiert werden jene Mechanismen der westlichen Demokratien, die eine Aushebelung repräsentativ-demokratischer Verfahrensweisen nach faschistischem Vorbild überflüssig machen, weil jegliche Form fundamentaler Opposition mittels einer permanenten, präventiven Konterrevolution wirksam im Zaume gehalten wird. Das oftmals als „Bibel der APO“ bezeichnete Buch sollte innerhalb kürzester Zeit eine enorme Wirkung entfalten, nachdem am 2. Juni 1967 ein Polizist „in Erfüllung seines Amtsauftrages und durch Gebrauch seiner Dienstwaffe Benno Ohnesorg irrtümlich exekutierte und mit seinem Irrtum die Grenzen der subjektiven Rechte im objektiven Staatsrecht anzeigte.“ [2] Agnolis Beschreibung eines autoritären Staates rechtsstaatlicher Prägung fiel bei den rebellierenden Studenten auf fruchtbaren Boden; der auf solche Art bekannt Gewordene machte sich indessen über die Chancen einer revolutionären Umgestaltung anno 1968 keine Illusionen.

Die „Transformation“ blieb die bei weitem bekannteste Schrift Agnolis. Erst mit der Herausgabe seiner gesammelten Schriften durch den Freiburger ça-ira-Verlag sind einer breiteren Leserschaft weitere, oftmals längst vergriffene Texte zugänglich gemacht worden. Vielfach handelt es dabei um mehr oder minder zusammenhängende Gedanken, die sich hauptsächlich um die immer wiederkehrenden Themen Staat, Kapital, Faschismus und Revolution drehen. In keinem einzelnen dieser Texte ist jedoch eine in sich schlüssige Theorie zu finden, und das hat zumindest zwei Gründe. Einerseits war das Schreiben allgemein nicht seine Sache, wie er selbst gerne mit der ihm eigenen Ironie zugab: „Ich bin ein fanatischer Leser, und da gerade liegt mein Fehler, wenn man da überhaupt von Fehler sprechen kann. Lesen kostet Zeit, während Habermas schreibt.“ Andererseits war Agnoli ein Anhänger der „kleinen Form“ und wäre als völlig unsystematischer Theoretiker zu einem ausführlichen, konsistenten Text vermutlich gar nicht in der Lage gewesen (man könnte auch sagen, er setzte sein ganz persönliches Recht auf Faulheit durch). Der Witz, der aus Agnoli nur so heraussprudelte, wenn er Geschichten erzählte und in diese seine theoretischen Gedanken einflocht, ist am ehesten anhand jener Texte zu erahnen, die ursprünglich auf freier Rede basierten, in erster Linie also an Interviews und Abschriften seiner Vorlesungen. Beispielhaft hierfür sei auf die „Subversive Theorie“ verwiesen. [3] Agnoli demonstriert hier anhand einer Vielzahl von geschichtlichen Personen seine Antwort auf die Frage, was Revolutionäre in nicht revolutionären Zeiten zu tun haben: Theoretisch wie praktisch subversiv zu sein, die Grundlagen jeder Herrschaft zu untergraben und so den Weg zu bereiten für eine Zukunft, in der Menschen ein der menschlichen Vernunft nicht Hohn sprechendes Dasein leben können. Subversion und Negation waren Agnolis Programm: „Die Dürftigkeit der Zeit aber, die sich auf allen Ebenen in den eingefrorenen, erfolgreichen, stabilen Strukturen konkretisiert – diese Dürftigkeit, in der sich selbst Alternatives selbstzufrieden beruhigt, verlangt nach Destruktion. Das ‚Ordnungsgefüge‘ muss abgebaut, das Vertrauen muss ausgeräumt werden; der Zweifel und seine sprengende Kraft müssen wieder zu ihrem Recht kommen, damit endlich sich das satte Bild ändert und angesichts dramatischer Entwicklungen die Symbole des Positiven, des Guten und Schönen verschwinden“. [4] Als Kritiker hatte er auf die Frage nach dem Positiven nur eine Antwort: „In der dürftigen Zeit finden wir es nur in der Negation, im Nirgendwo – in der sogenannten Utopie. In der Tat: Die Utopie, die aus der Destruktion aller Strukturen der Ungleichheit, der Unterdrückung, der Herrschaft entsteht, das ist heute der einzig mögliche Ausweg aus der sich anbahnenden Vernichtung. (…) Der gesellschaftliche Konflikt muss von seiner systemischen Stabilisierungsfunktion befreit, aus aller Verfassungsliebe entlassen, in seine gesellschaftliche Würde der Destabilisierung zurückgeholt werden. Die Verteidigung der Destabilisierung gehört zur Verteidigung und Verwirklichung der Freiheit.“ [5]

Bild: Fotosammlung DÖW

Die gelebte Freude an der Negation unterschied Agnoli wohltuend vom Großteil der immer auf Ernsthaftigkeit und Nüchternheit bedachten Restlinken in- und außerhalb der Universitäten. Er bewies, dass Gesellschaftskritik und Humor nicht notwendigerweise im Widerspruch zueinander stehen müssen. Dabei wurde seine Kritik niemals mit Zynismus vorgetragen, wohl aber mit Ironie, der Verbindung von Kritik und Utopie: „Die Melodie, die die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen soll, braucht den basso continuo der Ironie – den sicheren Schutz gegen den konstruktiven Irrweg.“ [6]

Auch wenn sich mit Agnolis Tod die Aufgabe für seine Freiburger Verleger mit Sicherheit nicht gerade leichter geworden ist, bleibt doch zu hoffen, dass sich in seinem Nachlass noch Manuskripte und Vorlesungsunterlagen befinden, sodass der vor zwei Jahren erschienene sechste Band seiner Gesammelten Schriften nicht der letzte bleiben wird.

Bisher erschienen folgende Bände:

  • Agnoli, Johannes: Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik. Gesammelte Schriften Band 1, Freiburg i. Brsg. 1990
  • Ders.: Der Staat des Kapitals und weitere Schriften zur Kritik der Politik. Gesammelte Schriften Band 2, Freiburg i. Brsg.1995
  • Ders.: Subversive Theorie. „Die Sache selbst" und ihre Geschichte. Gesammelte Schriften Band 3, Freiburg i. Brsg.1996
  • Ders.: Faschismus ohne Revision. Gesammelte Schriften Band 4, Freiburg i. Brsg.1997
  • Ders.: 1968 und die Folgen. Gesammelte Schriften Band 5, Freiburg i. Brsg.1998
  • Ders.: Politik und Geschichte. Schriften zur Theorie. Gesammelte Schriften Band 6, Freiburg i. Brsg.2001

Zusätzlich erschienen bisher zwei Festschriften für Johannes Agnoli:

  • Bruhn, Joachim/Dahlmann, Manfred/Nachtmann, Clemens (Hrsg.): Geduld und Ironie. Johannes Agnoli zum 70. Geburtstag, Freiburg i. Brsg. 1995
  • Bruhn, Joachim/Dahlmann, Manfred/Nachtmann, Clemens (Hrsg.): Kritik der Politik. Johannes Agnoli zum 75. Geburtstag, Freiburg i. Brsg.2000

Zusätzlich erschien letztes Jahre der kleine Band

  • Burgmer, Christoph: Das negative Potential. Gespräche mit Johannes Agnoli, Freiburg i. Brsg. 200.

In Kürze erscheint ein Sammelband, der folgenden Text enthalten wird:

  • Agnoli, Johannes: Die Verhärtung der politischen Form: Das Kapital und die Zukunft des Faschismus am Ende der liberaldemokratischen Epoche, in: Grigat, Stephan (Hrsg.): Transformation des Postnazismus. Der deutsch-österreichische Weg zum demokratischen Faschismus, Freiburg i. Brsg. 2003

[1Agnoli, Johannes: Von der kritischen Politologie zur Kritik der Politik (1987), in: Ders.: Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik. Gesammelte Schriften Band 1, Freiburg i. Brsg. 1990, S.11-20, hier S. 20

[2Agnoli, Johannes.: Zwanzig Jahre danach. Kommemorativabhandlung zur Transformation der Demokratie (1986), in: Ebd., S. 163-221, hier S.172

[3Vgl. Agnoli, Johnes.: Subversive Theorie. „Die Sache selbst“ und ihre Geschichte. Eine Berliner Vorlesung, Gesammelte Schriften Band 3, Freiburg i. Brsg. 1996

[4Agnoli, Johannes: Destruktion als Bestimmung des Gelehrten in dürftiger Zeit (1990), in: Ders.: Der Staat des Kapitals und andere Schriften zur Kritik der Politik. Gesammelte Schriften Band 2, Freiburg i. Brsg. 1995, S.10-20, hier S.11

[5Ebd., S.19f.

[6Ebd., S.20

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